Bittersüße Küsse auf dem Weihnachtsball: Digital Edition
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Über dieses E-Book
In der schönen Barbara erwacht bittersüße Leidenschaft, als der Fabrikbesitzer Joseph Stratford ihr auf dem Weihnachtball heimlich einen Kuss stiehlt. Aber sie darf sich nicht in ihn verlieben! Denn er wird schon bald eine andere heiraten ...
Christine Merrill
Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie schon immer Schriftstellerin werden, und während einer Phase, in der sie als Mutter zu Hause war, kam sie zu dem Entschluss: Es ist Zeit, ein Buch zu schreiben“. Dann könnte sie ihre Zeit selbst einteilen und müsste nicht mehr ins Büro fahren. Doch sie ahnte nicht, wie mühselig dieser Weg sein würde. Jahre später türmten sich Manuskripte und Ablehnungen auf ihrem Schreibtisch. Aber sie gab nicht auf, und schließlich entdeckte sie begeistert ihren ersten Roman in einer Buchhandlung. Wenn sie nicht schreibt, kann man Christine mit einer großen Tüte Popcorn im Kino finden. Aber nur, wenn der Film ein Happy End hat.
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Buchvorschau
Bittersüße Küsse auf dem Weihnachtsball - Christine Merrill
IMPRESSUM
Bittersüße Küsse auf dem Weihnachtsball erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2011 by Christine Merrill
Originaltitel: „A Regency Christmas Carol"
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 13 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Petra Lingsminat
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A., marilyna/ThinkstockPhotos
Veröffentlicht im ePub Format in 11/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733743734
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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1. KAPITEL
Dezember 1811
Barbara Lampett lief den Weg am Dorfrand von Fiddleton entlang. Der Schlamm unter ihren Füßen war gefroren, und von der eiskalten Luft in ihren Lungen bekam sie Seitenstechen. In letzter Zeit hatte sie oft das Gefühl, ständig irgendetwas hinterherzuhetzen. Sie fragte sich, ob dieses wenig damenhafte Benehmen erstes Anzeichen dafür sein könne, dass ihr Leben außer Kontrolle geraten war.
Sie konnte wirklich nichts dafür. Wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätte sie lieber im Salon am Kamin gesessen, hinaus auf das wechselhafte Wetter geblickt und all diejenigen bedauert, die gezwungen waren, auszugehen. Doch ihr Vater achtete kaum auf sein eigenes Wohlbefinden, wenn er in einer seiner Stimmungen war, geschweige denn auf das Wohlbefinden anderer.
Und von ihrer Mutter konnte sie ja wohl kaum erwarten, dass sie an ihrer Stelle ging.
Die neue Fabrik lag beinahe zwei Meilen von der Ortsmitte entfernt. Die Entfernung war zu gering, um extra anspannen zu lassen, doch für einen angenehmen Spaziergang war es zu weit – vor allem an einem so kalten Dezembertag. Wenigstens war der Boden gefroren. Um schneller laufen zu können, hatte sie auf die Überschuhe verzichtet, aber sie hätte ihre Stiefel nicht gern im Straßenschlamm ruiniert.
Und wenn es nicht so kalt gewesen wäre, wäre es überaus schlammig gewesen. Früher einmal war hier üppig grünes Gras gewachsen, doch nun war der Boden nackt und kahl, zerstört von den Karren, welche die Waren anlieferten und abholten, und dem Getrampel all der Menschen, die sich vor den Toren von Mr Joseph Stratfords neuen Fabrikgebäuden zum Protest zusammenfanden.
Auch jetzt hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Wieder eine dieser Demonstrationen, die dank der Reden ihres Vaters nun beinahe täglich stattfanden. Unter den zornigen Webern fanden sich auch neugierige Leute aus der Stadt ein. Die Not der Arbeiter weckte nicht ihr Interesse, es machte ihnen vielmehr Spaß, einem ordentlichen Streit beizuwohnen. Das Ganze schien für sie eher eine Belustigung zu sein.
Ein Windstoß erfasste sie, und Barbara packte ihr Umschlagtuch fester, unfähig, das ungute Gefühl zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Zwar freute sie sich darüber, dass die Worte ihres Vaters so großen Anklang fanden, doch damit führte er sie auf gefährliches Gelände. Sein Verhalten war wirklich unklug. Mit jedem Tag wirkte er verwegener, schien sich in seinen Äußerungen immer weniger vom Verstand und immer mehr von seinem Gefühl leiten zu lassen. Anscheinend war er gar nicht in der Lage zu begreifen, welche Wirkung seine Brandreden auf die örtliche Bevölkerung haben konnte.
Aber sie spürte es, als sie in der Menschenmenge feststeckte und von zornigen oder verängstigten Männern herumgestoßen wurde, sie spürte die wachsende Energie der Menge. Eines Tages würde irgendeine zufällige Bemerkung oder eine besonders aufstachelnde Ansprache die Volksseele zum Überkochen bringen. Und dann würde es wirklich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen.
Wenn der Wind aus östlicher Richtung wehte, konnte man das verkohlte Gerippe der alten Fabrik, wo so viele dieser Männer gearbeitet hatten, immer noch riechen. Der Besitzer hatte seine Erneuerungspläne teuer bezahlen müssen, hatte zusehen müssen, wie seine Lebensgrundlage zerstört und seine Familie bedroht worden war. Schließlich hatte er aufgegeben und war weggezogen. Die Protestler hatten daraufhin gar keine Arbeit mehr und wurden zorniger als je zuvor.
Der jetzige Herr schien raffinierter. Beim Bau der neuen Fabrik hatte er Ziegelsteine verwendet. Sie ragte vor ihr auf, ein Schandfleck am Horizont. Jedes Detail war eine einzige Beleidigung für die Dorfgemeinschaft und bewies, dass der Bauherr keinerlei Einfühlungsvermögen besaß. Die Fabrik war groß und eckig und einfach viel zu neu. Er hatte sie nicht am Standort von Mackays zerstörter Fabrik errichtet, was den Leuten vielleicht Hoffnung gemacht hätte, dass sie nun zur Normalität zurückkehren könnten. Stattdessen hatte er die Fabrik näher an das schöne alte Herrenhaus gerückt, in dem er zurzeit wohnte. Die Fabrik stand nicht direkt im Park des Herrenhauses, aber doch auf dem dazugehörigen Landgut, und zwar auf einer Wiese am Fluss, welche die Clairemonts dem Dorf als Weideland überlassen hatten, als sie noch hier wohnten. Doch Mr Stratford hatte bei der Wahl des Baugrundstücks offenbar nichts als seinen eigenen Vorteil im Blick gehabt.
Obwohl er durch nichts vermuten ließ, dass ihm bewusst war, wie unpassend sein Bauplatz war, hatte er einen Zaun um den Ort errichtet, an dem früher einmal Picknicks und Dorffeste stattgefunden hatten, und das frische Grün niederwalzen lassen. Barbara war überzeugt, dass der feine Herr ganz genau wusste, dass er im Unrecht war, und insgeheim mit Schwierigkeiten rechnete. Die schmiedeeiserne Umzäunung des Hofs trennte den Platz von den Leuten, mit deren Zorn zu rechnen war: jenen Leuten, deren Arbeit von den mechanischen Webstühlen übernommen worden war.
Sie kämpfte sich vor zu dem steinernen Torpfosten, an dem ihr Vater stand und die Männer zum Handeln aufstachelte. Die Missgeschicke der letzten Zeit mochten ihm den Verstand verwirrt haben, doch sein Blick loderte immer noch so leidenschaftlich wie ehedem, und seine Stimme war klar. Sein Benehmen mochte unklug sein, doch seine Rede hatte nichts Wirres an sich.
„Die britischen Verordnungen behindern den Handel so sehr, dass man sich auf anständige Weise nicht mal mehr seinen Lebensunterhalt damit verdienen kann – man kann sein Tuch ja nicht mehr nach Amerika oder an andere Verbündete der Franzosen verkaufen."
„Aye!"
Zustimmende Rufe und Gebrumm waren zu hören, und die Menge schwenkte Fackeln und Äxte. Barbara bekam Herzklopfen bei dem Gedanken, was passieren könnte, falls irgendjemand in dieser ohnehin schon brenzligen Lage eine Schusswaffe zog. Der Fabrikbesitzer, gegen den sich all der Zorn richtete, saß bestimmt in der geschlossenen schwarzen Kutsche, die direkt hinter dem Tor stand. Von dort aus hörte er jedes Wort. Vielleicht notierte er bereits den Namen des Redners und derjenigen Männer, die bereit schienen, sich gegen ihn zu erheben.
Doch ihrem Vater war das alles einerlei, er fuhr fort, die Menge aufzustacheln: „Durch die neuen Webstühle habt ihr noch weniger Arbeit, die Arbeit wird nun von unerfahrenen jungen Mädchen getan, während ihre Väter und Brüder untätig dasitzen und den vergangenen Tagen nachtrauern, als man in diesem Land noch auf ehrbare Weise sein Handwerk betreiben konnte."
Das Gemurmel wurde lauter, hin und wieder wurden Rufe laut, und die Menge drängte in Wellen zum Tor.
„Wollt ihr den Wandel, der euren Kindern das Brot aus der Hand reißt? Oder werdet ihr euch dagegen erheben?"
Barbara winkte ihrem Vater heftig zu, um das Bevorstehende noch im letzten Moment zu verhindern. Kleinere Aufstände hatte die Regierung bereits mit Waffengewalt unterdrückt, hatte Truppen gegen das eigene Volk marschieren lassen, als gehörte es zu Napoleons Armee. Wenn ihr Vater die Männer zu Gewalt und Maschinenstürmerei aufstachelte, würden sie dafür nichts als Gewalt ernten. Möglich, dass Mr Stratford genauso schlimm war, wie ihr Vater behauptete, aber er war auch von einem ganz anderen Schlag als der zögerliche Mackay. Er würde nicht zögern, Gewalt mit Gewalt zu vergelten, und nach einem Armeebataillon schicken, das die Aufrührer erschoss.
„Vater!", schrie sie, verzweifelt bemüht, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch ringsum überragten sie die Arbeiter, und ihre Stimme ging im allgemeinen Lärm unter. Bevor sie noch etwas sagen konnte, um die Wogen zu glätten, ertönte der erste Schuss – nicht aus der Menge, sondern aus der Kutsche vor ihnen. Obwohl der Schuss in die Luft abgefeuert worden war, zog sich die Menge einen Schritt zurück. Barbara wurde mitgerissen, erleichtert zwar, dass niemandem etwas geschehen war, doch nun noch weiter von ihrem Ziel entfernt.
Der Schlag der Kutsche wurde geöffnet, und Stratford sprang heraus, ehe sein besorgter Lakai ihm helfen konnte, und lief zu dem Pfosten, an dem ihr Vater stand. Geschickt kletterte Stratford an der Rückseite hinauf, bis er oben stand, weit über ihrem Vater und den anderen Männern. In der rechten Hand hielt er etwas, das allem Anschein nach eine Duellpistole war. Mit der Linken schob er den Rock zurück, um allen zu zeigen, dass er die andere Pistole im Hosenbund stecken hatte. Er sah aus wie ein Pirat – furchtlos und bereit zum Kampf. Barbara sah ihn förmlich vor sich, wie er auf die Menge zustürmte, ein Messer zwischen den Zähnen.
Dabei war sie sich sicher, dass er nicht zu denen gehörte, die Gefangene machten. Auf seine düstere, hungrige Art mochte er ja ein attraktiver Mann sein, aber nichts an seinen scharfen Zügen ließ Barmherzigkeit vermuten. Seine grauen Augen blickten hart und aufmerksam. Sein Mund, der möglicherweise sinnlich lächeln konnte, war höhnisch verzerrt. Ihr Vater hielt ihn für den Teufel höchstpersönlich, der nichts anderes im Sinn hatte, als allen ringsum Tod und Verderben zu bringen.
Falls er tatsächlich ein Teufel sein sollte, dann zumindest ein gut aussehender. Obwohl ihr ungefähr hundert Gründe einfielen, warum sie es nicht hätte bemerken sollen, fand sie ihn höchst attraktiv. Barbara bemühte sich, nicht bewundernd zu ihm aufzublicken, wie sie es schon einige Male getan hatte, als sie ihn im Dorf gesehen hatte.
Vielleicht hätte er sie nicht so beeindrucken dürfen, da das höhnische Grinsen in seinem Gesicht die Ebenmäßigkeit seiner Züge völlig verdarb. Sein Platz auf dem Pfeiler ließ ihn größer wirken, doch eigentlich hätte es dieses Vorteils gar nicht bedurft: Er maß über einen Meter achtzig. Heute wirkte er vor allem bedrohlich, kein geeignetes Objekt für die Neugier einer jungen Dame.
Passend zu seinem äußeren Erscheinungsbild verfügte er über eine mächtige Persönlichkeit, die in Freund und Feind gleichermaßen heftige Gefühle hervorrufen konnte. Und so Furcht einflößend er auch sein mag, dachte Barbara, wenn ich ihn erst einmal richtig ansehe, werde ich den Blick nicht von ihm wenden können.
„Wer will als Erster über den Zaun?, rief Stratford der Menge entgegen. „Verlasst euch darauf, der Mann verliert nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern auch sein Leben.
Die Arbeiter wichen noch einen Schritt zurück, suchten die Nähe der anderen, als wollten sie sich in der Kälte wärmen.
Der Mann auf dem Pfeiler lachte auf sie herab. „Dachte ich es mir doch. Nichts als Prahlerei und Gebrüll, solange ihr dabei nichts riskiert, und wenn es gefährlich wird, kneift ihr."
Ihr Vater wandte sich um und rief zu Stratford hinauf: „Sie sind es hier, der feige ist, Sir. Und eitel und stolz. Sie verstecken sich hinter Ihrem Tor mit Ihren leeren Drohungen, nicht willens, sich unter einfache Leute zu begeben und ihren Schmerz zu fühlen, ihren Hunger, ihre Verzweiflung."
Stratford funkelte ihn an. „Ich muss mich nicht unter euch begeben, um euch kennenzulernen. Ich kann auch zu den Ruinen von Mackays Fabrik gehen – die ihr zerstört habt –, um mir den Grund für eure Armut anzusehen. Wenn ihr könntet, würdet ihr meine Fabrik auch abbrennen – noch bevor ich sie überhaupt eröffnen kann. Und dann würdet ihr euch beschweren, dass ich euch ungerecht behandelt hätte. Ich sage euch hier und jetzt, wo ihr an einem Ort versammelt seid, dass ich mir eure Vorwürfe nicht anhören werde, solange sie keinen Sinn ergeben."
Es war ungerecht von ihm, diese Zusammenkunft mit dem Anschlag auf Mackays Fabrik zu vergleichen. Die Anwesenden hatten damit größtenteils nichts zu tun, waren im Gegenteil herbeigeeilt, um ihren Arbeitsplatz zu retten, statt ihn zu zerstören. Die Angelegenheit war weitaus komplexer, als Stratford sie hier darstellte. Er war zu neu in der Gegend und von vornherein nicht bereit, ihnen zuzuhören, genau, wie ihr Vater gesagt hatte. Barbara versuchte, sich durch die Menge nach vorn zu drängen, um sich Gehör zu verschaffen.
Gerade als sie dachte, sie hätte ihr Ziel erreicht, verfing sich ein Mann mit dem Stiefelabsatz in ihrem Rocksaum und brachte sie ins Wanken. Panik überkam sie, als ihr klar wurde, dass niemand bemerkte, wie sie fiel. Die Männer hatten ihre Angst vor den Pistolen überwunden und rückten vor, um Stratfords Vorwurf der Feigheit zu entkräften.
Sie rief noch einmal, hoffte, dass ihr Vater sie hörte und ihr zu Hilfe eilte. Doch er hatte ihr den Rücken zugewandt und drohte Stratford mit der Faust. Er war viel zu sehr mit sich beschäftigt, um den Vorfall zu bemerken. Im nächsten Moment würde sie in die Knie gehen und dann von der Menge überrollt werden wie von einer menschlichen Woge und von den genagelten Stiefeln in den Schlamm getrampelt werden.
„Heda! Plötzlich änderte sich die Stimmung, und die Menschenmenge um sie teilte sich. Eine Hand packte sie bei der Schulter, und dann wurde sie auf die Füße gerissen. Ein Schrei ertönte, der ebenso laut war wie der ihres Vaters. Aber er war von jemandem neben ihr ausgestoßen worden und übertönte den Lärm der Menschenmenge. „Passt doch auf, ihr Riesentrampel. Zu mir könnt ihr ja sagen, was ihr wollt, aber doch nicht in Anwesenheit einer Dame. Nehmt wenigstens auf sie Rücksicht. Vielleicht will ich euch ja deswegen nicht einstellen, weil ihr euch wie Tiere benehmt.
Dann stand sie wieder auf den Füßen, und die Hand, die sie gestützt hatte, wurde zurückgezogen. Sie spürte die Menge ringsum zurückbranden, nachdem ihr Retter gegangen war. Doch einen Augenblick schien die Stimmung der Leute gedämpft, als hätte die Scham über ihr Verhalten den allgemeinen Wahn abgemildert.
Und der Mann, der sie gerettet hatte, stand wieder ganz vorn, schob sich an ihrem Vater vorbei und kletterte auf den Pfeiler am Tor zurück. Schon als er noch hinter den Toren gestanden hatte, hatte sie Mr Stratford für eine eindrucksvolle Gestalt gehalten. Doch noch aufregender war es, ihm so nahe zu sein, und wenn es nur einen Moment gewesen war. Er hatte seine Kraft benutzt, die anderen aus dem Weg zu drängen, und seine Wendigkeit, herunter- und wieder hinaufzuklettern, ehe den zornigen Arbeitern überhaupt klar geworden war, dass er sich in ihre Hand begeben hatte. Doch er sah schon wieder auf sie herab, eher angewidert als zornig, als hätten sie ihm eben bewiesen, dass er mit seiner Verachtung ganz richtiggelegen hatte.
„Geht heim zu euren Familien, wenn euch so viel an ihnen liegt. Das neue Jahr ist nahe, und mit ihm ein neues Zeitalter. Am besten, ihr gewöhnt euch daran. Wenn meine Fabrik in einem Monat eröffnet wird, gibt es Arbeit für diejenigen unter euch, die bereit sind, all diesen Unsinn hier zu vergessen und sich wieder ihrem Weberschiffchen zu widmen. Aber wenn ihr euch gegen mich erhebt, sorge ich dafür, dass ihr alle deportiert werdet, und stelle eure Töchter ein. Die kommen mich billiger, und außerdem werden sie so vernünftig sein, den Mund zu halten." Er streckte die Hand zu seinem Hosenbund aus, und die Menschen vor ihm keuchten erschrocken auf. Statt der Pistole zog er jedoch eine Börse hervor und ließ Geldstücke auf die Menge regnen.
„Frohe Weihnachten euch allen, rief er und lachte ebenso triumphierend wie bitter auf, als die Menschen ihren Zorn vergaßen und eifrig nach den Geldstücken haschten. „Kommt bloß nicht mehr her. Wenn ihr meine Maschinen zerstört, kaufe ich neue, bis ihr genug davon habt, sie mir kaputt zu machen. Nehmt mein Geld und geht nach Hause. Ich habe die Konstabler gerufen. Wenn sie kommen und ihr seid noch da, verbringt ihr Weihnachten in der Zelle und könnt von eurer Familie nur träumen. Also trollt euch.
Barbara schämte sich für die Dorfbewohner, die diese neuerliche Drohung gar nicht hörten, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, das Geld aufzuklauben. In besseren Zeiten hätten sie dem Fremden in ihrer Mitte das Geld vor die Füße geworfen, statt sich sein Almosen und seine Verachtung zu eigen zu machen. Aber die wirtschaftlichen Probleme der letzten Zeit hatten dazu geführt, dass die meisten Leute im Dorf keine Arbeit hatten und alles Geld nehmen mussten, das sie kriegen konnten, um Weihnachten feiern zu können.
Die aufstachelnden Worte ihres Vaters gingen in der allgemeinen Unruhe unter, als die Leute sich nach den Münzen bückten. Diesmal konnte Barbara sich mühelos durch die Menge schieben, bis sie schließlich ihrem Vater die Hand auf den Arm legen konnte. „Komm mit, wisperte sie. „Jetzt gleich. Bevor das hier weiter eskaliert. Du kannst deine Ansprache an einem anderen Tag halten.
Anscheinend war er auch nicht mehr in der Stimmung dazu; eben noch war er förmlich besessen vom Kampfeswillen gewesen, doch nun war er ganz friedlich und ein wenig verwirrt, als wüsste er nicht, wieso er hier vor so vielen Leuten stand. Er würde sich widerstandslos wegführen lassen; sie könnten zu Hause sein, ehe die Hüter des Gesetzes erschienen. Alles würde gut werden. Bis zum nächsten Mal.
Direkt über ihr, abgehoben vom allgemeinen Chaos, sah Joseph Stratford zu – distanziert und leidenschaftslos, als interessierte er sich gar nicht für den Schmerz, den er verursachte. Als Barbara ihn ansah, schienen all der Zorn und die Enttäuschung ihres Vaters in sie zu fahren. Wenn Gott der Herr ihr Verstand verliehen hatte, warum hatte er nicht einen Mann aus ihr machen können, damit sie bei anderen Männern Gehör fände?
Sie wandte sich um und rief zu dem dunklen Mann hinauf, der sich über seine Mitmenschen so erhaben dünkte: „Sie geben den Männern hier die Schuld. Aber Sie sollten sich ebenfalls schämen. Sie erheben sich über uns und halten sich für einen Gott. Sie machen sich über Not und Elend lustig, deren Ausmaße sie überhaupt nicht erfassen können. Sie handeln, als wären Sie aus demselben rauen Holz, demselben kalten Metall der Maschinen gemacht, die Ihre Fabrik füllen. Wenn ich in Ihr Herz sehen könnte, würde ich dort nichts als ein Uhrwerk finden, angetrieben von dem Kohlenfeuer in Ihren Adern."
Einen Augenblick glaubte sie fast, dass sich seine Miene veränderte, seine Augen schienen sich eine Spur zu weiten, als hätten ihre Worte ihn getroffen. Doch dann stieß er ein freudloses kleines Lachen aus, begleitet von einem Schulterzucken. „Ich wünsche Ihnen ebenfalls frohe Weihnachten, meine Liebe." Darauf drehte er sich um und sprang geschickt von dem Pfeiler, obwohl es dabei fast acht Fuß nach unten ging. Dann schlenderte er zu seiner Kutsche und den nervösen Lakaien zurück. Diese traten vorsichtig vor, um das Tor zu öffnen, damit die Kutsche durchfahren konnte. Sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn die Männer, die ihnen bis dahin den Weg versperrt hatten, hatten sich in verlegenem Schweigen nach Hause gewandt, sobald sie das Geld vom Boden geklaubt hatten.
Barbara zog ihren Vater an den Straßenrand, um die Pferde vorbeizulassen. Doch als die Kutsche bei ihnen angelangt war, hörte sie, wie innen mit dem Stock an die Wand geklopft wurde, um den Fahrer zum Halten aufzufordern. Der Kutscher brachte die Pferde zum Stehen, und dann beugte Stratford sich aus dem Fenster und sah sie an.
„Wir sind noch nicht am Ende, Stratford", sagte ihr Vater mit ruhigerer Stimme. Jetzt, wo die Menge weg war, klang er durchaus vernünftig und fast wieder wie er selbst.
„Das habe ich auch nicht geglaubt, Lampett", erwiderte Stratford und lächelte kalt. Dabei blickte er ihrem Vater prüfend in die Augen, wie ein Boxer, der die Reichweite seines Gegners abzuschätzen versucht, ehe er zum Schlag ausholt.
„Ich lasse nicht zu, dass Sie diese Leute – meine Leute – behandeln, als wären sie nichts als ein Anhängsel Ihrer Webstühle. Es sind Menschen, keine Waren. Als solche sollten Sie sie respektieren."
„Wenn sie sich wie Menschen benehmen, werde ich Ihnen den entsprechenden Respekt entgegenbringen. Vorher nicht. Und jetzt gehen Sie. Ihr Publikum hat sich davongemacht, und Ihr Kind zittert vor Kälte."
Ich bin kein Kind. Sie war vierundzwanzig. Nicht dass das eine Rolle gespielt hätte. Aber sie zitterte tatsächlich – vor Angst und vor Kälte. Auf die kränkende Bemerkung hin richtete sie sich ein bisschen gerader auf und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, damit sie so gesammelt und