Mami 1820 – Familienroman: Das verleugnete Kind
Von Isabell Rhode
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"Füße hoch, mein Schätzchen. Jetzt kommt die nächste Stufe", ermutigte Evi ihren kleinen Begleiter, als er an ihrer Hand die Treppe zum Flugzeug hochstieg. "Ein großer Junge wie du schafft das schon." Der anderthalbjährige Gabriel schaffte es nicht. Er war eben noch ein kleiner großer Junge. Hilflos blickte er in ihr Gesicht.
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Mami 1820 – Familienroman - Isabell Rhode
Mami –1820–
Das verleugnete Kind
Roman von Isabell Rhode
»Füße hoch, mein Schätzchen. Jetzt kommt die nächste Stufe«, ermutigte Evi ihren kleinen Begleiter, als er an ihrer Hand die Treppe zum Flugzeug hochstieg. »Ein großer Junge wie du schafft das schon.«
Der anderthalbjährige Gabriel schaffte es nicht. Er war eben noch ein kleiner großer Junge. Hilflos blickte er in ihr Gesicht.
»Bitte, nur noch dreimal!« flehte Evi. Ihr Lächeln verriet alle Liebe, die sie für den Kleinen empfand. Aber mit einer Tasche in der anderen Hand und dem schweren Beutel über der Schulter, konnte sie ihn nicht hochnehmen.
Die nachdrängenden Passagiere wurden allmählich ungeduldig. Evi bückte sich, weil sie einsah, daß sie es irgendwie schaffen mußte. Dabei wehte ihr eine Böe das Haar ins Gesicht, so daß sie für Sekunden nichts sehen konnte. »Gabriel!« stieß sie erschrokken vor, weil sie ins Leere griff und ihre Hand nur gegen die Leitplanke der Treppe stieß.
»Lassen Sie nur, ich nehm’ den Kleinen schon!«
Verwirrt strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und wandte sich dem Mann zu, der sich zu ihnen herumgedreht hatte und Gabriel aufhob. Sie sah in zwei helle Augen, die ein wenig spöttisch aus dem braungebrannten Gesicht hervorblickten, und konnte im ersten Schrecken nichts sagen.
»Ich wollte nur helfen. Keine Angst, Sie kriegen Ihren Liebling gleich wieder!«
»Danke! Ja, danke!« haspelte sie verlegen und folgte ihm. »Sehr freundlich von Ihnen. So, Gabriel, nun gib mir wieder deine Hand.«
Die Stewardess griff hilfreich ein und führte sie zu ihren Plätzen. Aber der freundliche Retter ließ sich nicht abschütteln. Zwischen seinem dunkelblonden Haar fielen sonnengebleichte Strähnen auf. Die ungewöhnliche saloppe Kleidung verriet beste Qualität und sein Verhalten gute Manieren. So einer wie der, dachte Evi, gehört bestimmt zu den glücklichen Typen, die das halbe Jahr Urlaub machen können.
Der hilfsbereite, attraktive Typ lachte. Lachte er sie etwa aus? Warum ging er nicht endlich weiter und ließ sie durch?
»Sitzen Sie auch hier?« fragte sie.
»Ja, ich sitze auch hier, aber erst, wenn Sie und der Kleine es sich gemütlich gemacht haben.«
»Tut mir leid, wir brauchen einige Minuten.« Wohin mit Gabriel und den Taschen in diesem Gedränge?
»Wenn ich Ihnen wieder behilflich sein darf, klappt das schon!« meinte er, nahm ihr eine Tasche ab und bugsierte sie ins Gepäckfach. Den Beutel verstaute Evi schnell unter dem Sitz am Fenster. Dann fiel ihr ein, daß sie die Tasche noch mal brauchte, um wenigstens ein Kuscheltier für Gabriel in greifbare Nähe zu bekommen. Mit unerschütterlicher Gelassenheit holte er das Gewünschte wieder aus der Klappe und verursachte damit erneut Gedränge.
»Auf dem Hinflug war es nicht so schlimm«, entschuldigte Evi sich, ließ sich endlich nieder und hob Gabriel auf den Schoß. So blieb der mittlere Platz zwischen ihr und dem Fremden frei. Das empfand sie als angenehm.
»Mama, flieg, Mama, flieg hoch«, brabbelte Gabriel, nahm den weichen Teddy und preßte ihn an sein Gesicht, bis ihm seine Äuglein zufielen. Kein Wunder, um diese Zeit hielt er ja immer sein Mittagsschläfchen.
Evi bettete ihn in ihren Armen und lehnte sich erschöpft zurück. Was um sie herum vorging, interessierte sie nicht mehr. Sie wollte sich die innere Ruhe, dieses Wohlgefühl nach diesen zwei herrlichen Ferienwochen einfach noch nicht nehmen lassen. Wann würde ihr wieder dieses Glück eine zweiwöchigen Urlaubs im Süden beschieden sein? Seitdem Gabriel bei ihr war und sie ihm die Mutter ersetzte, war jede Stunde ihres Alltags verplant. Wie sollte sie sonst noch ihrem Beruf nachkommen und daneben noch Onkel Martins Erwartungen erfüllen?
Doktor Martin Roggefeld, ihr Chef in der Apotheke, Witwer und ihr Wohnungsnachbar hatte ihr immer geholfen. Und sie schuldete ihm gern ein wenig Dankbarkeit, auch wenn damit viel Zeitaufwand verbunden war.
War es deshalb nicht selbstverständlich, wenn sie sich entspannen wollte, um sich in den letzten Stunden der so kostbaren Freizeit noch ungestört den Erinnerungen an die herrlichen zwei Wochen hinzugeben?
»Wir kennen uns«, hörte sie den Mann neben sich plötzlich sagen. »Auch, wenn Sie sich nicht mehr an unsere Begegnung erinnern.«
Hatte sie es nicht geahnt? Der nette Typ entpuppte sich als aufdringlich! »Unmöglich!« erwiderte sie kurz angebunden.
»Aber mein Gedächtnis spielt mir keinen Streich, das weiß ich. Eine Frau wie Sie vergesse ich nicht so schnell!«
Also, das war die Höhe! Evi starrte ihn an. Diese hellen Augen lachten ihr unverändert freundlich entgegen, dabei krauste sich seine etwas zu breit geratene Nase. Die vielen Lachfalten in seinem Gesicht schienen sich noch zu vermehren, so amüsierte ihn ihr entsetzter Blick.
»Irrtum ausgeschlossen! Playa del Sol, letzten Mittwochvormittag zwischen zehn und zwölf. Sie trugen einen gelben Bikini, der dunkelblau eingefaßt war. Dazu hatten Sie ein gelb-blau gemustertes Tuch um die Hüften geschlungen. Weil Sie häufig durchs Wasser planschten, war der untere Teil, also von den Knien abwärts, pitschnaß. Es hat Sie nicht gestört«, fügte er mit kehligem Lachen hinzu.
»So. Gelber Bikini, blau eingefaßt, nasses Tuch?« wiederholte Elvira mit betont fester Stimme. Aber sie spürte richtig, wie sich jede Faser ihres Körpers anspannte. Schnell wandte sie sich wieder dem schlafenden Gabriel in ihrem Arm zu, als existiere der Mann neben ihr gar nicht mehr.
Rundherum herrschte immer noch die übliche Unruhe, die das Verstauen von Gepäckstücken und das Auf- und Zuklappen der Behälter über den Sitzen hervorrief. Aber was in Evi rumorte, war mehr als ein Durcheinander. Denn sie erinnerte sich wirklich nicht an diesen Mann, der nur einen Meter von ihr entfernt auf ihre Reaktion wartete. Wie sollte sie sich verhalten, wenn er sie mit noch indiskreteren Bemerkungen nerven würde?
Ihr Herz begann zu hämmern. Er konnte doch ein Detektiv sein, den Will Kampmann ihr nachgeschickt hatte. Will, Gabriels Vater, saß zwar seit einigen Monaten hinter Gittern, aber dem war alles zuzutrauen.
Mit verschlossener Miene wandte sie sich ab und sah zum Fenster hinaus. Wann endlich startete diese dämliche Maschine? Wann endlich landeten sie in Hamburg, damit sie mit Gabriel sofort das Weite suchen konnte? Ob Onkel Martin sie abholte? Er war außer Linne der einzige, der ihr Geheimnis kannte und es gut zu hüten wußte.
Oder sollte sie Onkel Martins Rat befolgen und allen, die es wissen wollten, endlich die Wahrheit sagen? Fand sie überhaupt noch jemals den Mut zur Wahrheit und konnte anderen eingestehen, daß Gabriel nur ihr Neffe und nicht ihr Sohn war? Niemals! Linne würde es ihr nicht verzeihen. Und Linne, ihre Zwillingsschwester, war ihr doch neben Gabriel der liebste und vertrauteste Mensch auf der Welt.
Enttäuschte sie ihre Schwester, würde Linne Gabriel ungerührt in einem Kinderheim unterbringen. Ja, dazu war Linne in ihrer jetzigen Situation fähig, auch, wenn sie beide an dieser Entscheidung zerbrechen würden. Hauptsache, Will Kampmann, der verbrecherische Betrüger, erfuhr nie etwas von seinem Sohn! Ja, so war Linne – immer bereit, sich durch einen schnellen Entschluß unangenehmer Probleme zu entledigen. Aber sie war anders. Deshalb lebte sie lieber mit einer Lüge, als anderen weh zu tun.
»Entschuldigen Sie, aber Sie sollten sich jetzt anschnallen!«
Evi tat so, als habe sie seinen Rat überhört, machte sich aber sofort daran, um sich und Gabriel den Gurt umzulegen. Etwas verhedderte sich, aber der Gurt klickte doch noch zu.
»Geht das?« fragte sie verlegen. Er lachte und nickte.
»Das muß gehen. Wenn’s der Stewardess nicht paßt, soll sie ’ne bessere Lösung vorschlagen. Hauptsache, der Kleine schläft.«
Er griff geschickt ein. Klick! machte der Gurt, und Klick – machte es in Elviras Kopf und