Rhialto der Wunderbare: Die sterbende Erde IV
Von Jack Vance
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Über dieses E-Book
»Die Murthe« – Die rachsüchtige Weiße Hexe Llorio kehrt aus dem Exil zurück, und alle Magier bekommen es mit ihr zu tun. Rhialto und Ildefonse beschließen, Llorios alten Feind, den Erzmagier Calanctus, wiederzubeleben.
»Faders Hauch« – Von seinem großen Rivalen Hache-Moncour in Misskredit gebracht, begibt sich Rhialto auf eine scheinbar aussichtslose Suche in die Vergangenheit: auf die Suche nach dem Blauen Perziplex, um seine Unschuld zu beweisen.
»Morreion« – Unter dem Vorwand, den legendären Morreion vor dem »Nichts« retten zu wollen, in Wirklichkeit aber getrieben von der Gier nach den mächtigen IOUN-Steinen, segelt Ildefonses Magierkollektiv im Wandelpalast Vermoulians, dem Traumwandler, an den äußersten Rand des Universums.
Jack Vance
Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren. Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht. Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.
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Buchvorschau
Rhialto der Wunderbare - Jack Vance
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Das Buch
Der Autor
Vorwort
Die Murthe
1
2
3
4
Faders Hauch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
Morreion
1
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4
5
6
7
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9
10
11
12
13
Jack Vance
Geschichten der sterbenden Erde IV:
Rhialto der Wunderbare
Edition
Andreas Irle
An der Schüttenhöhe 40
51643 Gummersbach
2024
Originaltitel: Rhialto the Marvellous
Copyright © 1984, 2002 by Jack Vance
Originalausgabe: Rhialto the Marvellous – Brandywyne Books: San Francisco, CA; Columbia, PA, 1984
Deutsche Erstausgabe: Rhialto der Wunderbare – Irle: Bergneustadt, 1996
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Spatterlight Press
Titelbild: Konstantin Korobov
Satz: Andreas Irle
Übersetzung: Andreas Irle
Lektorat: Thorsten Grube, Gunther Barnewald
ISBN 978-1-61947-485-7
V01 2024-02-04
spatterlight.de
Management: John Vance, Koen Vyverman
E-Book Distribution: XinXii
www.xinxii.com
Das Buch
Dieses vierte und letzte Buch der Geschichten über die sterbende Erde erzählt die Abenteuer von Rhialto, welcher den Spitznamen »der Wunderbare« trägt, und dem Kollektiv der zänkischen und intriganten Magier unter der Führung von Ildefonse, dem Präzeptor.
»Die Murthe« – Die rachsüchtige Weiße Hexe Llorio kehrt aus dem Exil zurück, und alle Magier bekommen es mit ihr zu tun. Rhialto und Ildefonse beschließen, Llorios alten Feind, den Erzmagier Calanctus, wiederzubeleben.
»Faders Hauch« – Von seinem großen Rivalen Hache-Moncour in Misskredit gebracht, begibt sich Rhialto auf eine scheinbar aussichtslose Suche in die Vergangenheit: auf die Suche nach dem Blauen Perziplex, um seine Unschuld zu beweisen.
»Morreion« – Unter dem Vorwand, den legendären Morreion vor dem »Nichts« retten zu wollen, in Wirklichkeit aber getrieben von der Gier nach den mächtigen IOUN-Steinen, segelt Ildefonses Magierkollektiv im Wandelpalast Vermoulians, dem Traumwandler, an den äußersten Rand des Universums.
Der Autor
Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren.
Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht.
Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.
Informationen über ihn und sein Werk finden Sie hier:
www.editionandreasirle.de
Vorwort
Dies sind Geschichten aus dem 21ten Äon. Die Erde ist alt und die Sonne schickt sich an zu erlöschen. In Ascolais und Almery, Ländern westlich der Fallenden Wand, lebt eine Gruppe von Magiern, die eine Gesellschaft gegründet haben, um gemeinsame Interessen besser schützen zu können. Ihre Anzahl fluktuiert, derzeit aber sind es:
Ildefonse, der Präzeptor
Rhialto der Wunderbare
Hurtiancz, klein und bullig, berühmt und berüchtigt für sein streitsüchtiges Wesen.
Herark der Harbinger, präzise und streng.
Shrue, ein Diabolist, dessen Witz seine Gefährten verwirrt – und sie manches Mal auch ihres nächtlichen Schlafes beraubt.
Gilgad, ein kleiner Mann mit großen grauen Augen in einem runden grauen Gesicht, immer gekleidet in Rosarot. Seine Hände sind klamm, kalt und feucht; ihre Berührung wird von allen gemieden.
Vermoulian der Traumwandler, eine besonders große und dünne Person mit einem würdevollen Gang.
Mune der Magier, der sehr wenig spricht und es fertigbringt, einen Haushalt mit vier Ehefrauen zu führen.
Zilifant, körperlich robust, mit langen braunen Haaren und einem Rauschebart.
Darvilk der Miaanther, der aus unerfindlichen Gründen den Anblick von schwarzen Dominosteinen nicht ertragen kann.
Perdustin, eine zierliche blonde Person ohne enge Freunde. Er bevorzugt Abgeschiedenheit und Mysterium und offenbart seine Heimstatt nicht.
Ao von den Opalen, melancholisch, mit einem schwarzen Spitzbart und übertriebenem Benehmen.
Eshmiel, der mit einer Freude, die in ihrer Reinheit beinahe kindlich zu nennen ist, eine bizarre Erscheinung halb in Weiß, halb in Schwarz abgibt.
Barbanikos, der klein und untersetzt ist, mit einem quastenartigen Haarschopf.
Haze vom Trägen Wasser, ein scharfäugiger Mann mit grüner Haut und orangefarbenem Haar wie Weidenblätter.
Panderleou, ein Sammler rarer und schöner Artefakte aus allen zugänglichen Dimensionen.
Byzant der Nekromant
Dulce-Lolo, dessen Erscheinungsbild dem eines stattlichen Gourmanden gleicht.
Tchamast, mürrischer Stimmung, ein bekennender Asket, dessen Misstrauen gegenüber der weiblichen Rasse so weit geht, dass er nur männliche Insekten innerhalb des Bereiches seines Landhauses duldet.
Teutch, der selten mit seinem Munde spricht, dafür jedoch die ungewöhnliche Gabe hat, Wörter aus seinen Fingerspitzen zu werfen. Als einem der Ältesten der Nabe wurde ihm die Kontrolle seiner privaten Unendlichkeit erlaubt.
Zahoulik-Khuntze, dessen Finger- und Fußnägel mit kuriosen Zeichen graviert sind.
Nahourezzin, ein Kenner des alten Romarth.
Zanzel Melancthones
Hache-Moncour, dessen Eitelkeiten und vornehmes Getue selbst das Gehabe Rhialtos übertreffen.
Magie ist eine praktische Wissenschaft, oder zutreffender, ein Handwerk, da die Gewichtung eher auf der Fähigkeit beruht denn auf dem grundsätzlichen Verständnis. Dies ist nur eine allgemeine Behauptung, da auf einem Feld solch profunder Ausdehnung jeder Ausübende seinen individuellen Stil entwickelt. Während der glorreichen Zeit von Großmotholam versuchten viele der Magierphilosophen die Prinzipien herauszufinden, welche der Magie innewohnen.
Am Ende fanden die Suchenden nur heraus, dass vollständiges Wissen nicht möglich war. Unter ihnen einige der klingendsten Namen auf dem Gebiet der Zauberei. Um einen gewünschten Effekt zu erzielen, muss eine Anzahl von Modi durchlaufen werden, die an sich schon ein lebenslanges Studium erfordern. Jeder Modus bezieht seine Macht aus einer anderen erzwungenen Umwelt.
Die großen Magier von Großmotholam waren einsichtig genug wahrzunehmen, dass sie die Grenzen des menschlichen Verständnisses erreicht hatten und richteten ihre Bemühungen schließlich auf praktischere Probleme; sie erforschten die abstrakten Prinzipien allenfalls weiter, sofern alles andere scheiterte. Aus diesem Grund behielt die Magie ihr menschliches Flair, auch wenn die Anwender nicht unbedingt menschlich waren.
Ein flüchtiger Blick in einen der fundamentalen Kataloge zeigt diese menschliche Ausrichtung; die Nomenklatur besitzt ein wunderliches archaisches Flair. Betrachtet man (zum Beispiel) Kapitel vier von Killiclaws Elementares der praktischen Magie, »Interpersonelles Effektuieren«, bemerkt man, geschrieben in purpurner Tinte, solch eine Terminologie wie:
Xarfaggios Physische Malepsie
Arnhoults Sequestorische Digitalia
Lutar Brassnases Zwölffache Großzügigkeit
Der Zauber der Verlorenen Enzybetung
Tinklers Altertümlicher Mowder
Clambards Zügelung der Langen Nerven
Die Grünpurpurne Aufschiebung der Lust
Panguires Triumphe des Unbehagens
Lugweilers Trostloses Jucken
Khulips Nasale Steigerung
Radls Perversion des Inkorrekten Akkords
Die Essenz eines Zaubers geht einher mit einem Code oder einer Folge von Instruktionen, welche einer Wesenheit mitgeteilt wird, die fähig und nicht unwillig ist, die Umwelt in dem Sinne zu ändern, die der Zauber vorgibt. Diese Wesenheiten sind nicht notwendigerweise »intelligent« oder »bewusst« und ihr Verhalten, aus Sicht des Anwenders, ist unvorhersagbar, willkürlich und gefährlich.
Die am ehesten beeinflussbaren und kooperativen dieser Kreaturen reichen von den niederen und schwachen Elementaren bis hin zu den Sandestinen. Die unbeherrschbaren Wesenheiten sind unter den Temuchinen als »Daihak« bekannt, was Dämonen und Götter einschließt. Die Macht eines Magiers leitet sich von seiner Fähigkeit ab, die Wesenheiten zu kontrollieren. Jeder Magier von Bedeutung unterhält einen oder mehrere Sandestine. Einige wenige Erzmagier von Großmotholam wagten es, die Dienste von niederen Daihaks in Anspruch zu nehmen. Die Namen dieser Magier zu nennen, ruft Ehrfurcht hervor. Ihre Namen haben eine Resonanz der Macht. Einige der berühmten und berüchtigten Magier von Großmotholam sind:
Phandaal der Große
Amberlin I
Amberlin II
Dibarcas Maior (der unter Phandaal studierte)
Erzmagier Mael Lel Laio (er lebte in einem Palast, der aus einem einzigen Mondstein gehauen war)
Das grün und purpurne Kollegium
Zinqzin der Enzyklopädiker
Kyrol von Porphyrhyncos
Calanctus der Ruhige
Llorio die Zauberin
Die Magier des 21ten Äons sind im Vergleich eine unstete Gruppe, die Grandeur einerseits und Beständigkeit andererseits vermissen lässt.
Die Murthe
1
Eines kühlen Morgens, irgendwann in der Mitte des 21sten Äons, saß Rhialto über dem Frühstück in der Ostkuppel seines Landhauses Falu. An diesem besonderen Morgen ging die alte Sonne hinter einem frostigen Dunst auf, um die Untere Wiese mit ihrem fahlen Licht zu übergießen.
Aus Gründen, die er selbst nicht recht definieren konnte, fehlte Rhialto der Appetit auf das Frühstück und so schenkte er einer Schüssel mit Brunnenkresse, gestampften Mirabellen und Würstchen nur oberflächliche Aufmerksamkeit, während er Tee und Zwieback vorzog. Anschließend lehnte er sich, trotz eines Dutzends Aufgaben, die seiner im Werkraum harrten, auf dem Stuhl zurück und starrte abwesend über die Wiese zum Werwald hinüber.
In dieser Stimmung waren seine Sinne auf das Äußerste angespannt. Ein Insekt landete auf einem Blatt einer nahe stehenden Espe. Rhialto beobachtete genau die Winkel, in denen es die Beine anzog und das millionenfache rote Glitzern in den hervorstehenden Augen. Interessant und beachtenswert, dachte Rhialto.
Nachdem Rhialto die volle Bedeutung des Insekts in sich aufgenommen hatte, richtete er die Aufmerksamkeit auf die Landschaft als Ganzes. Er betrachtete den Hang der Wiese, der zum Ts hin abfiel und die Kräuter mit denen er bewachsen war. Er studierte die gekrümmten Stämme am Rande des Waldes, die roten Strahlen, welche durch das Laub schimmerten, das Indigo und dunkle Grün der Schatten. Seine Sehfähigkeit war in ihrer Klarheit bemerkenswert, sein Gehör stand dem in nichts nach … Er lehnte sich vor, angestrengt lauschend auf – was? Seufzer unhörbarer Musik?
Nichts. Rhialto entspannte sich, lächelte über seine seltsame Anwandlung und schenkte sich eine letzte Tasse Tee ein … Er ließ sie unangetastet.
Aus einem Impuls heraus stand er auf, begab sich ins Ankleidezimmer, wo er einen Umhang überzog, eine Jägermütze aufsetzte und den Stab an sich nahm, der unter dem Namen »Malfezars Elend« bekannt war. Sodann rief er nach Ladanque, seinem Kammerdiener und Faktotum. »Ladanque, ich werde für eine Weile im Wald spazieren gehen. Sieh zu, dass Fass fünf die Trübung behält. Wenn du willst, darfst du den Inhalt der großen, blauen Retorte in einen Flakon destillieren und verkorken. Benutze eine niedrige Temperatur und vermeide das Einatmen der Dämpfe, sonst bekommst du Ausschlag im Gesicht.«
»Gut, mein Herr. Was ist mit dem Clevenger?«
»Beachte es einfach nicht. Gehe nicht in die Nähe des Käfigs. Denke daran, sein Gerede über Jungfrauen und Reichtum ist pure Illusion. Ich bezweifle, ob es die Begriffe überhaupt versteht.«
»Wie Ihr meint, Herr.«
Rhialto verließ das Landhaus. Er überquerte die Wiese auf einem Pfad, der ihn zum Ts führte, und ging über eine Steinbrücke in den Wald.
Der Pfad, der von Nachtkreaturen aus dem Wald auf ihrem Weg über die Wiese ausgetreten worden war, verschwand abrupt. Rhialto ging weiter, folgte der natürlichen Öffnung des Waldes: durch Lichtungen, gesprenkelt mit Kandolien, roten Spiersträuchern und weißen Dymphen, vorbei an Weißbirken und Schwarzespen, vorüber an Steinfeldern, Quellen und kleinen Bächen.
Falls sich andere Geschöpfe im Wald bewegten, war nichts davon zu bemerken. Rhialto betrat eine kleine Lichtung mit einer einzelnen Weißbirke als Mittelpunkt und verharrte, um zu lauschen … Er hörte nur Stille.
Eine Minute verging. Rhialto blieb reglos stehen.
Stille. Doch war sie vollkommen?
Die Musik, wenn es sich um eine solche gehandelt hatte, war gewiss nur in seinem eigenen Kopf entstanden.
Kurios, dachte Rhialto.
Er kam an eine weitere offene Stelle; eine Weißbirke stand gebrechlich vor einem Hintergrund aus schwarzen Zedern. Als er sich abwenden wollte, vermeinte er, erneut Musik zu hören.
Tonlose Musik? Ein Widerspruch in sich!
Seltsam, dachte Rhialto, insbesondere, da die Musik offensichtlich tatsächlich von außerhalb seiner eigenen Person herrührte … Er vermeinte sie wieder zu hören: ein flatterhafter, abstrakter Akkord, der gleichzeitig ein süßes Gefühl der Melancholie, aber auch des Triumphs vermittelte; bestimmt und doch ungewiss.
Rhialto spähte in alle Richtungen. Die Musik, oder was immer es auch sein mochte, schien von einer Quelle ganz in der Nähe zu kommen. Die Vorsicht drängte ihn, auf der Stelle nach Falu umzukehren, nicht einen Blick zurückzuwerfen … Er ging weiter und gelangte an einen dunklen und tiefen Teich, der das entfernt liegende Ufer mit der Genauigkeit eines Spiegels reflektierte. Reglos dastehend, sah Rhialto das reflektierte Bild einer Frau, seltsam bleich, mit silbernem Haar, welches mit einem schwarzen Band zurückgebunden war. Sie trug einen knielangen weißen Kittel, der Arme und Beine bloß ließ.
Rhialto sah auf und zum anderen Ufer hinüber. Er konnte dort jedoch weder Frau noch Mann oder eine andere Kreatur, welcher Art auch immer, entdecken. Er wandte die Augen wieder dem Teich zu, worin er die Frau wie zuvor zu sehen vermochte.
Für einen Augenblick musterte Rhialto das Abbild. Die Frau schien hochgewachsen zu sein, mit kleinen Brüsten und schmalen Hüften; frisch und feingliedrig wie ein Mädchen. Ihr Gesicht, das weder Zartheit noch klassische Züge vermissen ließ, drückte eine Ruhe ohne jegliche Frivolität aus. Rhialto, der sich aufgrund seiner Erfahrung auf dem Gebiet der Kalosgynetik seinen Beinamen verdient hatte, fand sie schön, aber ernst, möglicherweise unerreichbar, vor allem, wenn sie sich nicht anders zu zeigen beliebte, denn als Reflektion … Und vielleicht auch aus anderen Gründen, dachte Rhialto, den nunmehr eine leise Ahnung beschlich, wer diese Frau sein mochte. Er sagte: »Meine Dame, habt Ihr mich mit Eurer Musik hierhergerufen? Sofern dies so sein sollte, erklärt wie ich Euch gefällig sein kann, obgleich ich nichts versprechen will.«
Die Frau lächelte kühl, was nicht zur Erbauung Rhialtos beitrug. Er verbeugte sich steif. »Wenn Ihr mir nichts zu sagen habt, werde ich Euch nunmehr Euch selbst überlassen.«
Er vollführte eine weitere kurze Verbeugung, dabei stieß ihn irgendetwas vorwärts, sodass er in den Teich plumpste.
Das Wasser war extrem kalt. Rhialto mühte sich zum Ufer und zog sich wieder an Land. Wer oder was auch immer ihn in den Teich gestoßen hatte, war nicht zu sehen.
Nach und nach wurde die Oberfläche des Teiches wieder glatt. Das Spiegelbild der Frau war verschwunden.
Mürrischen Schrittes machte sich Rhialto auf nach Falu, wo er sich ein heißes Bad gönnte und Verbenentee trank.
Für eine Weile saß er in seinem Werkraum und studierte Bücher aus dem 18ten Äon. Das Abenteuer im Wald war ihm nicht gut bekommen; er fühlte sich fiebrig und in seinen Ohren klingelte es.
Rhialto bereitete sich ein vorbeugendes Tonikum, das allerdings nur noch größeres Unbehagen hervorrief. Er begab sich zu Bett, schluckte eine einschläfernde Tablette und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf.
Die Unpässlichkeit währte drei Tage. Am Morgen des vierten Tages setzte sich Rhialto mit dem Magier Ildefonse in Verbindung, der in seiner Burg Boumergarth residierte, nahe dem Fluss Scaum.
Ildefonse fühlte sich ausreichend betroffen, um schnellstens im kleinsten seiner Wirbelforts Falu aufzusuchen.
Detailreich schilderte Rhialto die Ereignisse, welche am ruhigen Teich im Wald gipfelten. »Dies also sind die Begebenheiten. Jetzt bin ich neugierig auf Eure Meinung.«
Ildefonse blickte stirnrunzelnd in Richtung des Waldes. Er benutzte seine gewöhnliche Erscheinung: die eines stattlichen Gentlemans in mittlerem Alter mit einem dünnen blonden Backenbart, einem kahlen Schädel und einem Betragen jovialer Arglosigkeit. Die zwei Magier saßen unter einer Laube von purpurner Plumanthia an der Seite Falus. Auf einem in der Nähe stehenden Tisch hatte Ladanque fantasievoll einige Pasteten hergerichtet, dazu gab es drei Sorten Tee und eine Karaffe milden Weißweins. »Außergewöhnlich, gewiss«, beschied Ildefonse, »besonders, wenn man eine Begebenheit bedenkt, die mir selbst neulich zustieß.«
Rhialto sah Ildefonse scharf von der Seite an. »Euch wurde ein ähnlicher Streich gespielt?«
Ildefonse erwiderte in maßvollem Ton: »Die Antwort ist zugleich ›ja‹ und ›nein‹.«
»Interessant«, entgegnete Rhialto.
Ildefonse wählte seine Worte mit Bedacht. »Nur eine Frage, bevor ich erzähle: Habt Ihr jemals zuvor diese, lasst uns sagen, ›Schattenmusik‹, vernommen?«
»Niemals«.
»Und die Botschaft, der Sinn war …?«
»Unbeschreiblich. Weder tragisch noch heiter; süß, gleichzeitig schräg und bitter.«
»Konntet Ihr eine Melodie erkennen, oder ein Thema, oder vielleicht einen Aufbau. Irgendetwas, was uns auf eine Spur bringen könnte?«
»Nur einen Hinweis. Wenn Ihr eine ein wenig blumige Beschreibung gestattet; es erfüllte mich mit einer Sehnsucht nach dem Verlorenen und Unwiederbringlichen.«
»Aha!«, meinte Ildefonse. »Und die Frau? Etwas hat sie als die Murthe identifiziert?«
Rhialto dachte nach. »Ihre Bleichheit und das Silberhaar mochten sein, wie die Merkmale eines Waldwichts in der Verkleidung einer antiken Nymphe. Ihre Schönheit war wirklich, aber ich verspürte nicht den Drang, sie zu umarmen. Ich wage sogar zu behaupten, die Situation wäre anders gewesen, wären wir nur etwas miteinander bekannt geworden.«
»Hmm. Euer elegantes Auftreten, so vermute ich, ist bei der Murthe nur wenig ins Gewicht gefallen … Wann wurdet Ihr ihrer Identität gewahr?«
»Ich erlangte Gewissheit, während ich mich heimschleppte. Das Wasser quatschte in meinen Stiefeln. Meine Stimmung war mürrisch; vielleicht begann der Squalm zu wirken. Wie dem auch sei, Frau und Musik kamen in meinem Verstand zusammen – der Name lag plötzlich nahe. Zu Hause angelangt, konsultierte ich augenblicklich Calanctus, um dort Rat zu erlangen. Der Squalm war offensichtlich real. Heute war ich endlich in der Lage, mich mit Euch in Verbindung zu setzen.«
»Ihr hättet Euch bereits früher melden sollen, obwohl auch ich ähnliche Probleme hatte … Was ist das für ein lästiges Geräusch?«
Rhialto blickte den Weg entlang. »Etwas naht in einem Vehikel … Es scheint Zanzel Melancthones zu sein.«
»Und was ist das für ein seltsam springendes Geschöpf in seinem Gefolge?«
Rhialto reckte den Hals. »Noch ist es unklar … Jedoch werden wir es bald herausfinden.«
Entlang des Weges kam in beträchtlicher Geschwindigkeit auf vier großen Rädern ein luxuriöser Doppel-Diwan mit fünfzehn ocker-goldenen Kissen. Ein menschenähnliches Geschöpf an einer Kette rannte im Staub hinterher.
Ildefonse erhob sich und winkte mit einer Hand. »Hallo, Zanzel! Ich bin es, Ildefonse! Wohin des Wegs in solcher Hast? Welcher Art ist das kuriose Geschöpf, welches so schnell hinter Euch herrennt?«
Zanzel hielt das Vehikel an. »Ildefonse und der teure Rhialto: Wie gut Euch beide zu sehen! Mir war entfallen, dass dieser alte Weg an Falu vorüberführt, aber jetzt ist es mir eine Freude ihn wiederzuentdecken.«
»Es ist zu unser aller Glück!«, erklärte Ildefonse. »Und Euer Gefangener?«
Zanzel blickte über die Schulter. »Hier haben wir einen Heimtücker: Dies ist meine begründete Meinung. Ich bringe ihn gerade an einen Ort, wo er exekutiert werden kann, ohne dass ich befürchten muss, von seinem Geist heimgesucht zu werden. Was ist mit der Wiese dort drüben? Sie wäre weit genug von meiner Domäne entfernt.«
»Allerdings nicht von meiner«, brummte Rhialto. »Ihr müsst schon einen Ort finden, der uns beide zufriedenstellt.«
»Und was ist mit mir?«, rief der Gefangene. »Habe ich in dieser Angelegenheit nichts zu sagen?«
»Also gut, dann eben zufriedenstellend für uns alle drei.«
»Einen Augenblick, bevor Ihr mit Eurer Aufgabe fortfahrt«, sagte Ildefonse. »Erzählt mir mehr von diesem Geschöpf.«
»Da gibt es wenig zu berichten. Ich habe ihn zufällig dabei entdeckt, wie er ein Ei am falschen Ende öffnete. Wie Ihr bemerken könnt, hat er sechs Zehen, einen Hahnenkamm und Federbüschel, die aus seinen Schultern wachsen; alles Hinweise darauf, dass er aus dem 18ten, wenn nicht gar aus dem späten 17ten Äon stammt. Sein Name sei, so versichert er widerwillig, Lehuster.«
»Interessant!«, erklärte Ildefonse. »Damit wäre er ja in gewissem Sinne ein lebendes Fossil. Lehuster, bist du dir der Unterschiede bewusst?«
Zanzel gestand Lehuster keine Antwort zu. »Guten Tag, Euch beiden! Rhialto, Ihr erscheint mir etwas aufgebracht! Ich würde Euch eine heiße Milch mit Honig, Bier oder Wein und Ruhe verschreiben.«
»Vielen Dank!«, entgegnete Rhialto. »Kommt wieder vorbei,