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Clarges
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eBook354 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Clarges, die Stadt am Fluss Choral, ist die letzte zivilisierte Metropole der Erde. Die Menschen dort gehen ihren Strebschaften nach, um sich den Aufstieg in die nächsthöhere Stufe der Gesellschaft zu verdienen und damit gleichzeitig ihre Lebenszeit zu verlängern.
Mitglieder der Amarant-Gesellschaft haben nicht nur eine unbeschränkte Lebenszeit, sondern sind auch vor Unfällen geschützt. Sie besitzen Simulakren, die sie immer wieder aktualisieren. Stößt ihnen etwas zu, werden diese geklonten Abbilder ihrer selbst geweckt und setzen ihr Leben fort.
Das Ventil für den Druck, der durch das tägliche Streben nach Steigung entsteht, ist das Vergnügungsviertel Carnevalle – hier mischen sich die Menschen aller Gesellschaftsschichten, um das alltägliche Leben abzuschütteln und sich zu zerstreuen.
In Carnevalle bereitet Given Waylock seinen sozialen Aufstieg vor, um in die Amarant-Gesellschaft vorzustoßen. Allerdings holt ihn dabei seine Vergangenheit ein und der Plan droht zu scheitern.
Dazu kommt die Überbevölkerung, mit dem Clarges zu ringen hat – mit allen Erscheinungsformen, die dieses Problem mit sich bringt …
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum16. Sept. 2018
ISBN9781619472952
Clarges
Autor

Jack Vance

Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren. Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht. Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

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    Buchvorschau

    Clarges - Jack Vance

    Jack Vance

    Clarges

    Edition

    Andreas Irle

    Hunschlade 27

    51702 Bergneustadt

    2017

    Originaltitel: Clarges

    Copyright © 1956, 2002 by Jack Vance

    Originalausgabe: To Live Forever – Ballantine Books: New York, 1956

    Deutsche Erstausgabe: Start ins Unendliche – Semrau: Hamburg, 1959

    Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Spatterlight Press

    Titelbild: Joel Anderson

    Satz: Andreas Irle

    Übersetzung: Andreas Irle

    Lektorat: Thorsten Grube, Gunther Barnewald

    ISBN 978-1-61947-295-2

    V01 2017-11-13

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    spatterlight.de

    Management: John Vance, Koen Vyverman

    Das Buch

    Clarges, die Stadt am Fluss Choral, ist die letzte zivilisierte Metropole der Erde. Die Menschen dort gehen ihren Strebschaften nach, um sich den Aufstieg in die nächsthöhere Stufe der Gesellschaft zu verdienen und damit gleichzeitig ihre Lebenszeit zu verlängern.

    Mitglieder der Amarant-Gesellschaft haben nicht nur eine unbeschränkte Lebenszeit, sondern sind auch vor Unfällen geschützt. Sie besitzen Simulakren, die sie immer wieder aktualisieren. Stößt ihnen etwas zu, werden diese geklonten Abbilder ihrer selbst geweckt und setzen ihr Leben fort.

    Das Ventil für den Druck, der durch das tägliche Streben nach Steigung entsteht, ist das Vergnügungsviertel Carnevalle – hier mischen sich die Menschen aller Gesellschaftsschichten, um das alltägliche Leben abzuschütteln und sich zu zerstreuen.

    In Carnevalle bereitet Given Waylock seinen sozialen Aufstieg vor, um in die Amarant-Gesellschaft vorzustoßen. Allerdings holt ihn dabei seine Vergangenheit ein und der Plan droht zu scheitern.

    Dazu kommt die Überbevölkerung, mit dem Clarges zu ringen hat – mit allen Erscheinungsformen, die dieses Problem mit sich bringt …

    Der Autor

    Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren.

    Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht.

    Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

    Informationen über ihn und sein Werk finden Sie hier:

    www.editionandreasirle.de

    Kapitel I

    1

    Clarges, die letzte Metropole der Welt, erstreckte sich fünfzig Kilometer entlang des Nordufers des Flusses Choral, nicht weit entfernt von dessen Mündung.

    Clarges war eine uralte Stadt – Gebäude, Monumente, Wohnhäuser, urige Tavernen, Hafenanlagen und Lagerhäuser im Alter von zwei- oder gar dreitausend Jahren waren nicht selten. Die Bürger des »Großraumes« schätzten diese Berührungspunkte mit der Vergangenheit, bezogen aus ihnen einen unbewussten Trost, ein mystisches Gefühl der Identifikation mit dem Fortbestehen der Stadt. Die einzigartige Veränderung des Freihandelssystems allerdings, welche ihnen das Leben sicherte, zwang sie zur Innovation. Als Resultat daraus wurde Clarges zu einer Mischung aus Althergebrachtem und Neuem, und die Bürger waren – sowohl in dieser als auch in anderen Hinsichten – hin- und hergerissen zwischen sich widerstreitenden Empfindungen.

    Niemals hatte es eine Stadt gegeben, die Clarges in Grandeur und düsterer Schönheit gleichkam. Vom Textilzentrum erhoben sich Türme wie Turmalinkristalle, hoch genug, um vorüberziehende Wolken zu durchschneiden. Darum herum befanden sich große Geschäfte, Theater und Wohnblöcke. Jenseits davon waren die Vororte, die Industriegebiete, die unbestimmten Schwarzlande, welche sich so weit erstreckten wie man sehen konnte. Die besten Wohngebiete – Balliasse, Eardiston, Vandoon, Tempelwolke – befanden sich an den Hügelhängen nördlich und südlich des Flusses. Überall herrschte Bewegung, das Vibrieren von Vitalität, das Gefühl menschlichen Regens und Strebens. Eine Million Fenster flimmerten im Sonnenlicht, Fahrzeuge verdunkelten die Boulevards, Schwärme von Luftgefährten flogen wie in einem Geflecht entlang der Luftstraßen. Männer und Frauen gingen rasch, keine Zeit verschwendend, über die Straßen zu ihren Zielen.

    Auf der anderen Seite des Flusses lag der Bezirk Glade, eine graubraune, ebene und trostlose Einöde, ohne Nutzen, unbewohnbar; nichts wuchs dort, außer verkrüppelten Weiden und rostfarbenen Binsen. Glade hätte keinerlei Daseinsberechtigung gehabt, hätten sich dort nicht die hunderttausend Hektar Carnevalles befunden.

    Vor dem tristen Hintergrund Glades erstrahlte Carnevalle wie eine Blume auf einem Schlackehaufen. Die hunderttausend Hektar beherbergten einen Schatz an Farben und Gepränge und boten spektakuläre Möglichkeiten zur Zerstreuung, für den Nervenkitzel und die Entspannung.

    In Clarges selbst war das Leben auf die Aktivitäten der Menschen begrenzt. Carnevalle besaß ein Eigenleben. Am Morgen herrschte Stille. Gegen Mittag mochten das Surren von Reinigungsgeräten und gelegentlich auch Schritte zu vernehmen sein. Am Nachmittag erwachte Carnevalle zum Leben, wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling, der sich putzt und zögerlich mit den Flügeln flattert. Bei Sonnenuntergang beruhigte sich alles für einen Augenblick. Dann brandete eine Woge von solcher Vitalität und Erregung heran, dass die bloße Vorstellung, in Vergessenheit zu geraten, ad absurdum geführt wurde.

    Um den Randbereich herum schwangen sich die Kometengondeln des Grand Pyrotecks: die Heilig-Gral-Rublone, die Goldene Gloriana, die Mystische Emeraud, die Melanchthon und die Ultralazuli – jede in einer anderen Farbe, jede mit einem Flammenzug in eigenem Glanz. Die Pavillons strahlten in prismatischen Lichtbrechungen; die Pagoden tropften vor geschmolzenen Flüssigkeiten; zahllose Lichter trieben umher wie Schleier von Leuchtkäfern. Über die Avenuen, durch die Alleen und Straßen strömten und schoben sich die Menschenmengen. Zu den Geräuschen der die Nerven kitzelnden Fahrgeschäften, zu dem Zischen und dem Zwasch, wenn die Gondeln des Grand Pyrotecks vorübersausten, zu den Rufen der Marktschreier und Hökerer, zu den Tönen getragener Zithern, heiseren Akkordeons, läutenden Zovellen, klagenden Lemurkas, hellen Ecktren, kamen das Scharren Hunderttausender Füße, der Unterton der Erregung und Aufschreie der Betroffenheit, Überraschung und Freude.

    Im Laufe des Abends nahm der Rausch Carnevalles ein Eigenleben an. Die Feiernden drängten sich durch die Geräusche von Hunderten Hörnern und Musiken; sie atmeten aromatische Staube und Pastellnebel ein; sie trugen Kostüme, Kopfschmuck und Masken; Zurückhaltung war ein spröder Belag, der mit Freude durchbrochen wurde. Sie erforschten das Seltsame und das Kuriose, spielten mit Schwindel und Taumel, stellten die Vielfältigkeit der menschlichen Nerven auf die Probe.

    Mitternacht in Carnevalle war der Höhepunkt des Tumults. Hemmungen gab es keine mehr; Tugend und Laster besaßen keine Bedeutung. Zuweilen schlugen Lachanfälle zu haltlosem Weinen um, doch das verebbte schnell und lag in der Natur eines geistigen Orgasmus’. Mit dem Fortschreiten der Nacht wurden die Menschenmengen langsamer, zaghafter; Kostüme waren unordentlich, Masken wurden abgelegt. Männer und Frauen – schläfrig, blass, benommen – taumelten in die Schächte des U-Bahn-Systems, um nach Hause zu fahren: überallhin – von Balliasse bis Brayerdorf, vom Herrenhaus bis zur Ein-Zimmer-Wohnung. Alle fünf Phylen kamen nach Carnevalle: Brut, Keil, Dritte, Schwelle und Amarant, ebenso die Glarks. Sie mischten sich ohne Berechnung oder Neid untereinander; sie kamen nach Carnevalle, um die Unbilden und die Belastungen ihrer Existenz zu vergessen. Sie kamen, gaben ihr Geld aus und verbrachten dort – weitaus kostbarer als Geld – Augenblicke ihres Lebens.

    2

    Ein Mann mit einer Messingmaske stand in einer Bude vor dem Haus des Lebens und rief hinaus in die Menge. Lichter in Gestalt von Unendlichkeitssymbolen schwebten um seinen Kopf herum, über ihm ragte die Idealversion einer Lebenskarte auf. Die helle Lebenslinie stieg in perfekter Halbparabel durch die Abstufungen der Phylen auf.

    Der Mann mit der Messingmaske sprach mit einer Stimme von großer Eindringlichkeit: »Freunde, was auch immer eure Phyle sein mag, hört mich an! Ist euer Leben auch nur einen Florin wert? Werden euch endlose Jahre beschieden sein? Tretet ein in das Haus des Lebens! Ihr werdet Didaktor Monkur und seine bemerkenswerten Methoden preisen!«

    Er berührte einen Auslöser. Aus einer verborgenen Quelle erklang heiser und pochend ein leiser Ton, der sich in Höhe und Intensität steigerte.

    »Steigung! Steigung! Kommt ins Haus des Lebens, aufwärts mit eurer Steigung! Lasst euch von Didaktor Monkur eure Zukunft analysieren! Lernt die Methoden, die Techniken kennen! Nur einen Florin für das Haus des Lebens!«

    Der Ton hob sich über die Oktaven, erzeugte ein Gefühl des Unbehagens und der Labilität, wurde greller und war schließlich nicht mehr zu vernehmen. Der Mann in der Bude sprach mit beschwichtigender Stimme. Wenn der Ton die Spannungen der Existenz darstellte, so vermittelten der Mann und seine Stimme Sicherheit und Kontrolle.

    »Jeder besitzt ein Gehirn, alle sind nahezu identisch. Weshalb sind dann einige Brut, einige Keil, andere Dritte, Schwelle und Amarant?«

    Er beugte sich vor, so als wolle er eine dramatische Offenbarung machen. »Das Geheimnis des Lebens ist Technik! Didaktor Monkur lehrt Technik! Ist die Unendlichkeit einen Florin wert? Dann kommt – tretet ein in das Haus des Lebens!«

    Eine Reihe von Passanten bezahlte den Florin und drängte sich durch den Eingang. Schließlich war das Haus voll.

    Der Mann mit der Messingmaske trat aus der Bude. Eine Hand packte seinen Arm, er wirbelte mit wilder Geschwindigkeit herum. Die Person, die an ihn herangetreten war, taumelte zurück.

    »Waylock, erschreck mich doch nicht so! Ich bin’s nur – Basil!«

    »Das sehe ich«, sagte Gavin Waylock knapp. Basil Thinkoup, klein und rundlich, war als mythischer Vogel kostümiert und trug eine mit Rüschen besetzte Jacke aus metallgrünen Farnwedeln. Rote und graue Schuppen bedeckten die Beine, schwarze Federn säumten das Gesicht wie die Blütenblätter einer Blume. Falls er Waylocks Mangel an Freundlichkeit bemerkte, zog er es vor, ihn zu ignorieren.

    »Ich hatte erwartet, von dir zu hören«, meinte Basil Thinkoup. »Ich habe gedacht, du hättest dich von unserer letzten Unterhaltung bewegen lassen …«

    Waylock schüttelte den Kopf. »Mir würde eine solche Beschäftigung nicht liegen.«

    »Aber deine Zukunft!«, protestierte Basil Thinkoup. »Wirklich, es ist paradox, dass du andere dazu drängst, große Anstrengungen zu unternehmen, selbst aber ein Glark* bleibst.«

    * Glark: (Etymologie ungewiss. Möglicherweise von gay lark – fröhliche Lerche.) Eine Person, die nicht am Spiel-Ehrlich-Modell teilnimmt – etwa ein Fünftel der Bevölkerung.

    Waylock zuckte mit den Schultern. »Alles zu seiner Zeit.«

    »›Alles zu seiner Zeit‹! Die kostbarsten Jahre vergehen, und deine Steigung liegt flach!«

    »Ich habe Pläne. Ich bereite mich vor.«

    »Während andere aufrücken! Eine armselige Methode, Gavin!«

    »Lass mich dir ein Geheimnis verraten«, sagte Waylock. »Du wirst keinem etwas davon erzählen?«

    Basil Thinkoup war gekränkt. »Habe ich mich nicht als vertrauenswürdig erwiesen? Sieben Jahre lang …«

    »Ein Monat fehlt noch zu den sieben Jahren. Wenn dieser Monat vorüber ist – dann lasse ich mich in Brut registrieren.«

    »Das freut mich zu hören! Komm, wir trinken ein Glas Wein auf deinen Erfolg!«

    »Ich muss mich um meine Bude kümmern.«

    Basil schüttelte den Kopf, die Anstrengung ließ ihn taumeln. Es war offensichtlich, dass er zumindest ein wenig berauscht war. »Du verwirrst mich, Gavin. Sieben Jahre, und jetzt …«

    »Beinahe sieben Jahre.«

    Basil Thinkoup blinzelte. »Sieben Jahre mehr, sieben Jahre weniger – ich bin immer noch verwirrt.«

    »Jeder Mensch ist ein Rätsel. Ich bin ein Muster der Einfachheit – wenn du mich nur kennen würdest.«

    Basil Thinkoup ließ es durchgehen. »Komm mich im Palliatorium von Balliasse besuchen.« Er beugte sich dicht an Waylock heran und die Federn um sein Gesicht wischten über die Messingmaske. »Ich probiere einige recht neue Methoden aus«, sagte er in vertraulichem Ton. »Wenn sie Erfolg haben, gibt es genügend Steigung für uns beide, und ich möchte dir das zurückzahlen, was ich dir schulde. Zumindest in gewissem Maße.«

    Waylock lachte. Der Laut hallte hinter der Messingmaske wider. »Eine kleine Schuld, Basil.«

    »Keineswegs!«, rief Basil. »Wo wäre ich jetzt ohne deine Triebkraft? Immer noch an Bord der Amprodex

    Waylock vollführte eine wegwerfende Bewegung. Sieben Jahre zuvor hatten er und Basil sich als Schiffskameraden an Bord der Obstbarke Amprodex kennengelernt. Der Kapitän, Hesper Wellsey, war ein großer Mann mit langem schwarzem Schnurrbart und der Veranlagung eines Rhinozerosses gewesen. Seine Phyle war Keil gewesen, und seine besten Bemühungen hatten ihn nicht in Dritte zu bringen vermocht. Er hatte keine Freude an den zehn Jahren gehabt, die Keil ihm verschafft hatte. Stattdessen hatte er Wut und Erniedrigung verspürt. Als die Barke in die Choralmündung fuhr, und sich die Türme des Textilzentrums durch den Dunst erhoben, war Hesper Wellsey in Katto* gefallen. Er hatte sich eine Feueraxt geschnappt, den Ingenieur in zwei Teile gespalten, die Fensterscheiben des Messesaals zerschlagen und war dann auf das Reaktorhaus zugegangen, in der Absicht, das Sicherheitsschloss zu zertrümmern, die Bremssubstanz zu zerstören und die Barke dreißig Kilometer in allen Richtungen in die Luft zu jagen.

    * Katto: Das Katatonie-Manie-Syndrom.

    Es war niemand da gewesen, um ihn aufzuhalten. Die Mannschaft, entsetzt über die Entweihung des Lebens, war zum Hecküberhang geflohen. Waylock war mit klappernden Zähnen in der Hoffnung nach vorn gegangen, Wellsey in den Rücken zu fallen, doch als er einen Blick auf die grässliche Axt erhaschte, hatten seine Knie nachgegeben. Er hatte sich gegen die Reling gelehnt, Basil Thinkoup aus seinem Quartier treten sehen und sich dem die Axt schwingenden Wellsey genähert. Basil war zurückgesprungen, hatte sich geduckt, war ausgewichen und hatte diesem gut zugeredet. Wellsey hatte die Axt geschleudert, es versäumt, Basils Schädel zu spalten, war der letzten Phase des Syndroms erlegen und auf dem Deck zusammengebrochen.

    Waylock war vorgetreten und hatte die steife Gestalt angestarrt. »Was immer du getan hast, es ist ein Wunder!« Er hatte schwach gelacht. »In einem Palliatorium würdest du schnelle Steigung machen!«

    Basil hatte ihn skeptisch angesehen. »Meinst du das ernst?«

    »Natürlich.«

    Basil hatte geseufzt und den Kopf geschüttelt. »Ich besitze den Hintergrund dafür nicht.«

    Waylock hatte gesagt: »Du brauchst keinen Hintergrund, nur Aufgeschlossenheit und guten Wind. Sie jagen dich, bis sie nicht mehr können. Du hast es in dir, Basil Thinkoup!«

    Basil hatte unsicher den Kopf geschüttelt. »Das würde ich wirklich auch gern denken.«

    »Dann versuch es zumindest.«

    Basil hatte es versucht und innerhalb von fünf Jahren Keil erreicht. Seine Dankbarkeit Waylock gegenüber war grenzenlos. Nun, da sie vor dem Haus des Lebens standen, gab er Waylock einen Klaps auf den Rücken. »Komm mich im Palliatorium besuchen! Letzten Endes bin ich Stellvertretender Psychopathologe – wir werden uns etwas ausdenken, um deine Steigung in Angriff zu nehmen. Nichts Großartiges zunächst, aber du wirst dich schon entwickeln.«

    Waylocks Lachen war sardonisch. »Den Kattos als Spielball zu dienen – das ist nichts für mich, Basil.« Er stieg wieder in die Bude und stieß durch den Schwarm der Unendlichkeitssymbole. Seine Kornettstimme erklang: »Hebt eure Steigung! Didaktor Monkur besitzt den Schlüssel zum Leben! Lest seine Traktate, wendet seine Tinkturen an, schreibt euch für seine Kuren ein! Steigung, Steigung, Steigung!«

    3

    Zu der Zeit besaß das Wort »Steigung« eine besondere Bedeutung. Steigung war das Maß des Aufstiegs eines Menschen durch die Phylen. Sie spürte den Umrissen seiner Vergangenheit nach und sagte den Zeitpunkt seines letztendlichen Dahinscheidens voraus. Der strengsten Definition nach war Steigung der Winkel der Lebenslinie eines Menschen, die Ableitung seiner Leistungen in Bezug auf sein Alter.

    Das System war aus dem Spiel-Ehrlich-Gesetz entstanden, das vor dreihundert Jahren, während des Malthusianischen Chaos’, eingeführt worden war. Das Spiel-Ehrlich-Gesetz hatte bereits seit Leeuwenhoek und Pasteur gedroht und war eigentlich von der Ausprägung der menschlichen Geschichte vorgegeben. Da Krankheiten und körperlicher Verfall durch immer effektiver werdende medizinische Techniken minimiert worden waren, vermehrte sich die Weltbevölkerung in ungeheurer Zahl, sie verdoppelte sich in einigen wenigen Jahren. Bei einer solchen Zuwachsrate würde in dreihundert Jahren eine fünfzehn Meter dicke Schicht menschlicher Wesen die Erde bedecken.

    Theoretisch lag die Lösung des Problems auf der Hand: zwangsweise Geburtenkontrolle, Massenherstellung von synthetischen und pelagischen Nahrungsmitteln, Rekultivierung von Einöden, Euthanasie für Unterentwickelte. Doch in einer durch Tausende sich widersprechender Lebensentwürfe aufgeteilten Welt war die Umsetzung der Theorie in die Praxis unmöglich. Gerade als das Große Einheitsinstitut eine Technik entwickelte, welche die Alterung endlich und vollständig hemmte, begannen die ersten Aufstände. Das Jahrhundert des Malthusianischen Chaos’ war angebrochen: der Große Hunger setzte ein.

    Aufruhr breitete sich über die gesamte Welt aus: Raubzüge ums Essen entwickelten sich zu kleinen Kriegen. Städte wurden geplündert und niedergebrannt, Horden durchstreiften die Landschaft auf der Suche nach Nahrung. Die Schwachen konnten nicht überleben; die Anzahl der Leichen übertraf die der Lebenden.

    Die Verwüstung brach unter der eigenen Heftigkeit zusammen. Die Welt war geschunden, die Bevölkerung um drei Viertel reduziert. Rassen und Nationalitäten verschmolzen miteinander, politische Gruppierungen verschwanden, um in manchen Gebieten als wirtschaftliche Gemeinwesen wiedergeboren zu werden.

    Eines dieser Gebiete, der Großraum Clarges, hatte relativ wenig gelitten und wurde zur Zitadelle der Zivilisation. Aus Notwendigkeit wurden die Grenzen geschlossen. Horden von draußen stürmten gegen die elektrischen Barrikaden an, in der Hoffnung, sie durch pure Kraft des Willens zu überwinden. Verkohlte Leichen übersäten den Boden zu Hunderten.

    So entstand der Mythos von der Unbarmherzigkeit des Großraums, und kein Nomadenkind erreichte das Erwachsenenalter, ohne die Ballade des Hasses gegenüber Clarges zu verinnerlichen.

    Der Großraum war der Ursprung des Großen Einheitsinstituts gewesen, das immer noch ein Zentrum der Forschung war. Es wurde berichtet, dass Mitglieder des Instituts sich mit einer erhöhten Lebenserwartung ausstatten würden. Das Gerücht kam nicht ganz an die Wahrheit heran. Das Endprodukt der Techniken des Großen Einheitsinstituts war das ewige Leben.

    Die Bürger von Clarges brachen in Wut aus, als dieser Umstand bekanntgemacht wurde. Sollten die Lektionen des Großen Hungers unbeachtet bleiben? Es gab leidenschaftliche Proteste. Hundert Pläne wurden geschmiedet, Hundert sich widersprechende Vorschläge unterbreitet. Schließlich wurde das Spiel-Ehrlich-Gesetz entworfen und widerwillig gebilligt. Im Wesentlichen belohnte dieses System öffentlichen Dienst mit zusätzlichen Lebensjahren.

    Fünf Phylen oder Leistungsstufen wurden festgeschrieben: Basis, Zweite, Dritte, Vierte, Fünfte. Basis wurde als Brut bekannt, Zweite als Keil, Dritte – weniger häufig – als Arrant und Vierte als Schwelle. Als die ursprüngliche Gruppe des Großen Einheitsinstituts die Amarant-Gesellschaft einrichtete, wurde die fünfte Leistungsstufe zu Amarant. Das Spiel-Ehrlich-Gesetz definierte gewissenhaft die Bedingungen des Fortschritts. Ein Kind wurde ohne Phylen-Bestimmung geboren. Jederzeit nach Erreichen des sechzehnten Lebensjahres konnte man sich in Brut registrieren lassen und sich damit den Vorschriften des Spiel-Ehrlich-Gesetzes unterwerfen.

    Wenn man es vorzog, sich nicht registrieren zu lassen, gab es keine Sanktionen und man lebte ein natürliches Leben, ohne die Vorteile der Behandlung durch das Institut, bis zu einem Alter von durchschnittlich zweiundachtzig Jahren. Diese Personengruppe waren die »Glarks«, sie verfügten nur über einen geringfügigen gesellschaftlichen Status. Das Spiel-Ehrlich-Gesetz sah für Brut eine Lebensspanne vor, die der Durchschnittsspanne eines Nichtteilnehmers gleichkam – etwa zweiundachtzig Jahre. Erreichte man Keil, unterzog man sich dem Instituts-Prozess, der den körperlichen Verfall stoppte, und erhielt weitere zehn Lebensjahre bewilligt. Mit dem Eintritt in Dritte gewann man zusätzliche sechzehn, in Schwelle noch einmal zwanzig Jahre. Der Durchbruch nach Amarant bescherte einem die ultimative Belohnung.

    Zu diesem Zeitpunkt zählte das Volk des Großraums zwanzig Millionen Personen. Die maximal wünschenswerte Bevölkerungszahl wurde auf fünfundzwanzig Millionen geschätzt. Dieses Maximum würde sehr schnell erreicht sein. Man musste dem hässlichen Dilemma ins Gesicht sehen: Wenn ein Mitglied einer Phyle seine Jahre gelebt hatte, was dann? Auswanderung war eine zweifelhafte Lösung. Clarges war in aller Welt verhasst. Einen Fuß über die Grenze zu setzen, bedeutete den sofortigen Tod. Nichtsdestotrotz wurde ein Auswanderungsbeamter benannt, um das Problem zu untersuchen.

    Der Auswanderungsbeamte erstattete Bericht in einer ungemütlichen Sitzung des Prytanaeums.

    Fünf Regionen der Welt hielten innerhalb ihrer Grenzen so etwas wie Zivilisationen aufrecht, wenn auch barbarische: Kypre, Sous-Ventre, das Gondwanesische Reich, Singhalien und Nova Roma. Keine davon wollte eine Einwanderung erlauben, außer auf Basis von Gegenseitigkeit, was das Projekt unpraktisch machte.

    Der Großraum konnte seine Grenzen mit Waffengewalt ausdehnen, bis der Großraum Clarges, als logische Begrenzung des Vorgangs, die gesamte Welt umfasste, womit das grundlegende Problem nur aufgeschoben wäre.

    Das Prytanaeum lauschte verdrossen und änderte das Spiel-Ehrlich-Gesetz. Der Auswanderungsbeamte erhielt die Anweisung, den grundsätzlichen Zweck des Gesetzes durchzusetzen. Kurz: Er wurde ermächtigt, jeden Bürger, der die autorisierte Begrenzung seiner Jahre erreichte, aus dem Leben zu entfernen.

    Die Änderung wurde nicht ohne Bedenken akzeptiert. Einige bezeichneten die Regelung als unmoralisch, doch andere zitierten die nachweislichen Gefahren der Überbevölkerung. Sie betonten, dass jeder Mensch die Wahl hatte: Man konnte eine natürliche Lebensspanne leben oder nach einer höheren Phyle streben und sie möglicherweise erreichen. Fiel die Wahl auf letzteres, willigte man in einen bindenden Vertrag ein. Es wurde nichts geraubt, außer dem, was man nur unter Bedingungen erhalten hatte. Man verlor nichts – und konnte den größten nur vorstellbaren Schatz gewinnen.

    Das Spiel-Ehrlich-Gesetz wurde, einschließlich der Änderung,

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