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Panoptikum: Phantastische Erzählungen
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eBook342 Seiten4 Stunden

Panoptikum: Phantastische Erzählungen

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Über dieses E-Book

Zwölf Kurzgeschichten und Novellen aus dem weiten Feld der Phantastik. Von historischem Steampunk über groteske Märchen und Lovecraft'schen Tentakelhorror bis zur dystopischen Science Fiction und schwarzem Humor.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Okt. 2014
ISBN9783943948301
Panoptikum: Phantastische Erzählungen

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    Buchvorschau

    Panoptikum - Andreas Zwengel

    2014

    Land jenseits der Wälder

    Nach einer langen, zermürbenden Reise quer durch Europa erreichten die beiden Reisenden im Oktober 1767 müde und übel gelaunt den Rand der Karpaten. Ihre Kutsche wies hüben wie drüben eine Vielzahl von Einschüssen und Beilkerben auf sowie eine vom Feuer geschwärzte Rückfront. Zeugnisse der abenteuerlichen Reise und manch aufgebrachten Mobs, dem sie hatten entfliehen müssen.

    Die beiden Männer waren im Auftrag der Universität Göttingen unterwegs. Julius Leonhard Lorenz, ein Schöngeist und trotz seines enzyklopädischen Wissens von zupackendem Wesen, war mit der Erforschung mysteriöser Ereignisse betraut worden, die den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen jener Zeit widersprachen. Caspar Nolte, von hagerer Statur, schalkhafter Gesinnung und als Veteran des Siebenjährigen Krieges der Inbegriff von Zähigkeit, sorgte für seine Sicherheit.

    Zu Beginn ihrer Reise waren sie Fremde gewesen, doch nach unzähligen Wochen auf engstem Raum vertrauter miteinander als manch andere nach jahrzehntelanger Freundschaft. Man kannte die Gewohnheiten des Gegenübers, die Vorlieben und Abneigungen, den Geruch und die Geräusche. Inzwischen waren alle Geschichten erzählt, die meisten mehrmals und sie hatten gelernt, gemeinsam zu schweigen.

    „Siebenbürgen. Die lateinische Bezeichnung lautet Terra transsilvania, das Land jenseits der Wälder", erklärte Lorenz, ohne von seinen Aufzeichnungen aufzusehen.

    „Vortrefflicher Name", bestätigte Nolte mit Blick auf die vorüberziehende Landschaft. Sie hatten am Nachmittag den falschen Abzweig gewählt und waren über Stunden einem sich stetig verjüngenden Weg gefolgt, der ein Wenden unmöglich machte. Die Verzögerung verdross Lorenz, denn sie befanden sich in Konkurrenz mit einer Gesandtschaft der Royal Society of London unter Leitung von Sir Thomas Ruggles, die sich wenige Wochen vor ihnen aufgemacht hatte, um ebenfalls das Phänomen der Wiedergänger zu ergründen.

    Seit den zwanziger Jahren hatte es Berichte über sogenannte Vampire gegeben, und in den letzten Jahren häuften sich diesbezüglich Meldungen aus Griechenland, Böhmen, Schlesien und den Balkanländern. Nicht wenige äußerten Bedenken, dass ein solch fragwürdiges Unternehmen dem Ansehen und der Integrität der Wissenschaft schaden werde. Doch, wenn die Royal Society das Thema für erforschenswert befand, durfte man selbstverständlich nicht hintenanstehen. Sein Ruf öffnete Sir Thomas Tür und Tor bei den Behörden und öffentlichen Stellen, während Lorenz und Nolte, mit weit weniger bekannten Namen, meist auf die begrenzte Gutmütigkeit ihrer Zeitgenossen angewiesen waren. Bisher war Sir Thomas ihnen stets voraus gewesen und hatte durch sein rücksichtsloses Verhalten die Bevölkerung gegen sich aufgebracht, deren Zorn sie als Nachzügler häufig genug hatten ertragen müssen. Nur ein einziges Mal wollte Lorenz zuerst am Ort einer Sichtung eintreffen. Doch nie lag die Hoffnung ferner, als an diesem gottverlassenen und von regenträchtigen Wolken bedrohten Ort. Fernab aller Reisestrecken verwandelte der geringste Schauer die unbefestigten Wege in Morastbäder, in denen die Räder versanken. Die mitgeführten Balken waren allesamt angebrochen, die Seile mehrfach gerissen und wieder geflickt geworden. Sie hatten gewettet, welch unglückliche Fügung ihre Reise endgültig beenden würde. Lorenz setzte auf das Brechen der Federung oder der Räder, Nolte wählte das Reißen der Aufhängungsriemen und der Kutscher hielt mit einer eingestürzten Brücke oder einem verschütteten Weg dagegen.

    Die Dunkelheit war längst hereingebrochen und der schmale Pfad am Rande des bodenlosen Abgrundes kaum noch ersichtlich. Ihr Kutscher kündigte an, die Fahrt für diesen Tag zu beenden, als er vor ihnen einen schwachen Lichtschein ausmachte. Frisch angespornt überquerte die Kutsche eine Holzbrücke und erklomm eine kurze Steigung, von deren Scheitelpunkt aus der Weg sanft in ein Dorf hinabglitt. Es waren nur wenige, düster wirkende Holzhäuser, aus denen der Rauch senkrecht in den Nachthimmel stieg. An allen Enden des kleinen Dorfes brannten Feuer, die seinen Mittelpunkt hell erleuchteten. Dort hielt die Kutsche. Lorenz und Nolte stiegen aus, streckten sich und dehnten die vom langen Sitzen schmerzenden Glieder. Niemand erschien zu ihrer Begrüßung. Kein Fensterladen und kein Türspalt wurden gelüpft. Sie riefen laut, klopften an Türen und erklärten lautstark ihr Anliegen.

    „Verdammtes abergläubiges Volk, wir sollten weiterfahren."

    „Heute fahren wir nirgendwo mehr hin", sagte der Kutscher ruhig und stopfte seine Pfeife. Er brauchte nicht auf die geschundenen und völlig verausgabten Tiere hinzuweisen, die eine längere Pause benötigten. Lorenz betrachtete nachdenklich die Häuser.

    „Allacci hat solches Verhalten in Griechenland beobachtet. Die Wiedergänger gehen der Legende nach des Nachts umher, klopfen an Türen und rufen die Bewohner beim Namen. Antwortet der Bewohner, muss er am nächsten Tag sterben. Ein Wiedergänger ruft jedoch nie zweimal denselben Namen."

    Er sah Nolte an.

    „Und das ist die Lösung. Wir rufen jeden Namen zweimal, bis irgendwer öffnet."

    „Kennen Sie den Namen eines Bewohners? Oder überhaupt einen rumänischen Namen?"

    Lorenz schüttelte den Kopf und der Kutscher weigerte sich, an diesem Blödsinn teilzuhaben. Er hatte es schon lange aufgegeben, am Geisteszustand seiner Passagiere zu zweifeln. In jedem Land engagierten sie einen tüchtigen Mann, der ihr Gefährt zu lenken verstand und neben der jeweiligen Landessprache auch des Deutschen mächtig war, doch dieser hier war störrischer als manches Lasttier. Mit mehr Unverschämtheit als Verstand oder Gelehrsamkeit gesegnet, hatte er durch seine beispiellose Launigkeit und die völlige Abwesenheit von Unterwürfigkeit sofort ihr Herz gewonnen. Sie versuchten ihr Glück ohne seine Hilfe und riefen zweimal jeden Namen, der ihnen einfiel und der irgendwie fremd und ungewöhnlich klang.

    Letztlich mussten sie in der Kutsche übernachten. Sie war vielen Wirtshäusern an den Kutschenstrecken mit ihren dreckigen Gaststuben und den feuchten, übelriechenden Räumen vorzuziehen, die man mit Ratten und Wanzen teilen musste. Doch obgleich ihre Kutsche eine Spezialanfertigung war, die alle Errungenschaften europäischer Ingenieurskunst in sich vereinigte, hatten sie sich, vertrauend auf die Gastfreundschaft einfacher Bauern, insgeheim ein sauberes und bequemes Bett versprochen. Die ständigen Stöße und Rumpeleien unterwegs waren auf Dauer äußerst belastend. Nicht nur für den Körper, auch fürs Gemüt.

    In mehrere Decken gehüllt und halb vom Schlaf übermannt, verriet Nolte sein Instinkt, dass er beobachtet wurde. Er linste aus dem Fenster und suchte die dichten Baumreihen ab. Schließlich entdeckte er eine gebückte Gestalt, die oben an der Steigung mitten auf dem Weg stand, deutlich abgehoben von dem helleren Nachthimmel. Nolte machte ein Geräusch, um Lorenz zu wecken, doch die Gestalt war bereits verschwunden.

    Als sie am nächsten Morgen die Vorhänge zur Seite schoben, blickten sie in ausdruckslose Gesichter. Der gesamte Ort hatte sich im Halbkreis um die Kutsche versammelt. Ein bärtiger Hüne, der offenbar die Funktion des Schultheißen in diesem Ort innehatte, trat vor und sagte etwas in ganz und gar unfreundlichem Tonfall. Die Reisenden sahen ihren Kutscher an.

    „Er sagt, die Herren seien wohl krank im Kopf, dass sie die ganze Nacht herumschreien und niemanden schlafen lassen."

    Lorenz ließ den Kutscher um eine warme Mahlzeit für sie bitten und stellte eine großzügige Entlohnung in Aussicht. Der Schultheiß nickte widerwillig, wandte sich ab und schritt auf das größte Haus des Dorfes zu. Die Bewohner bildeten eine Gasse, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihm folgen sollten.

    „Die Leute sind sehr misstrauisch, flüsterte Lorenz seinem Gefährten zu, „wir müssen auf jedes Wort achten, das wir von uns geben, und jede unbedachte Geste, die missverstanden werden könnte, vermeiden. Es ist eine Prüfung und sie werden uns sehr genau beobachten. Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, mein lieber Nolte, aber sie neigen gelegentlich zu provozierendem Verhalten.

    Die Tür war eingerahmt von Knoblauch. Zudem waren Türpfosten und Fensterrahmen mit Knoblauchsaft bestrichen, und wenn sie sich nicht sehr täuschten, hatten die Bewohner auch ihre Kleidung damit getränkt. Lorenz presste sich ein parfümiertes Taschentuch auf die Nase und blieb vor der Schwelle des Hauses stehen. Der Schultheiß und seine Frau sahen die Reisenden an, diese schauten abwartend zurück. Lorenz war überrascht, dass ihnen die gastfreundliche Geste der Einladung ins Haus versagt blieb, doch dann fiel ihm ein kleiner Absatz in den Abhandlungen ein, wonach ein Vampir nur nach Aufforderung durch den Hausherrn dessen Schwelle überschreiten durfte. Er legte eine Hand auf Noltes Schulter und schob ihn vor sich her ins Innere.

    Das Essen, das ihnen die Frau des Vorstehers austeilte, war derart mit Knoblauch durchsetzt, dass es nicht zu genießen war. Lorenz führte den Löffel zögerlich und mit angewidertem Ausdruck zum Mund, wurde immer langsamer, bis er den Löffel fallen ließ, um die Hand auf den Mund zu pressen. Die Menschen wichen zurück und der Wirt stellte eine Frage mit einem sehr lauernden Unterton.

    „Essen Sie, um Gottes willen", befahl der Kutscher, anstatt zu übersetzen.

    „Ich bitte Sie. Manche mögen keine Zwiebeln, andere kein Sauerkraut. Ich ertrage nun mal Knoblauch nicht, und auch auf die Gefahr hin, die hiesige Küche zu beleidigen …"

    Eine Axt spaltete den Teller und sauste in die Tischplatte. Gleichzeitig legte sich von hinten eine Schlinge um Lorenz’ Kehle. Das andere Ende des Seils wurde über einen Dachbalken geworfen und straff gezogen, bis Lorenz auf den Zehenspitzen stand, den Hals weit gestreckt. Der Schultheiß holte erneut mit der Axt weit aus und hielt plötzlich inne, als er das Kreuz unter Lorenz’ aufgerissenem Hemd sah. Rasch befreite man ihn von dem Strick. Nolte schob unbemerkt die gezogenen Dolche in die Ärmel zurück, setzte sich wieder und hielt seinen ausgekratzten Teller für einen Nachschlag hin.

    Ein Schrei, den man nach Süden hin bis in die Walachei hören mochte, trieb alle aus dem Haus. Ein Junge kam aufgeregt den Weg heruntergerannt. Gemeinsam folgten sie ihm, bis sie vor der zerstörten Brücke standen. Steine waren von einem benachbarten Hang gerollt und hatten viele der Holzplanken durchschlagen. Ein einzelner Reiter mochte die Reste noch überqueren können, doch niemals eine Kutsche. Wortlos hielt der Kutscher die Hand auf und kassierte seinen Wettgewinn ein.

    „Sie glauben, es sei unsere Schuld", sagte Lorenz leise und wie zur Bestätigung spuckte ihm der Junge, den Flegeljahren kaum entwachsen, auf seinen Schuh und traf den Strumpf weit oberhalb des Knöchels. Die Stimmung wurde bedrohlich und der Kreis der Dorfbewohner schloss sich langsam um sie.

    „Darf ich nun provozierendes Verhalten zeigen?", fragte Nolte und zog in einer fließenden Bewegung beide Dolche. Der Kutscher hielt plötzlich ein Hackbeil in der Hand, das er aus Gründen mit sich führte, die die Reisenden gar nicht wissen wollten. Die Dorfbewohner wichen unter aufgeregtem Gemurmel zurück, bis sie alle in ihren Häusern verschwunden waren, die sie lautstark verriegelten. Die Reisenden blieben allein zurück.

    „Diese Prüfung haben wir wohl nicht bestanden", resümierte Nolte.

    „Während die Herren zu Tisch waren, habe ich eine interessante Entdeckung gemacht", sagte der Kutscher und imitierte dabei wie üblich Lorenz’ affektierten Tonfall. Er führte sie zum Friedhof am Waldrand und wies auf eine Reihe frischer Gräber. Vier an der Zahl. Hier mochten sie die Antwort für das Verhalten der Dorfbewohner erhalten. Es beflügelte Lorenz, durch Zufall an diesen Ort gelangt zu sein. Er hatte sein Handeln ganz dem Dienste der Wissenschaft unterstellt und war nicht vom Ehrgeiz zerfressen wie sein englischer Kollege, dennoch liebäugelte auch er mit dem Ruhm.

    Nach vielen Monaten auf Reisen war ihnen das Öffnen von Gräbern längst zur Routine geworden. Es gab kaum noch Überraschungen. Sie hatten verstümmelte Leichname in allen Variationen gesehen, jeden Alters und beiderlei Geschlechts. Tote, die mit dem Gesicht nach unten begraben waren oder die man zuvor verbrannt hatte. Andere waren gepfählt, geköpft, gefesselt oder hatten ein Kreuz auf der Brust liegen. Häufig waren Gliedmaßen zerschmettert oder die Sehnen zerschnitten worden, alles, um die Wiedergänger am Verlassen ihres Grabes zu hindern. Es gab aber auch andere Formen des Aberglaubens, bei denen die Leichen ihr Grab nicht verlassen, sondern von dort aus ihren unheilvollen Einfluss auf die Menschen nehmen. Die Legenden waren vielfältig und häufig widersprachen sie sich auch. Lorenz und Nolte folgten einer Spur von Gerüchten, unbelegten Behauptungen und zweifelhaften Sichtungen. Aber nie hatten sie bisher eine Bestätigung für die Existenz eines Wiedergängers, eines Nachzehrers oder eines Vampires entdeckt und die stetig wachsenden Zweifel am Sinn ihrer Mission verstärkten ihre ohnehin skeptische Haltung.

    Der Kutscher händigte ihnen die Schaufeln aus, sah aber keine Veranlassung, selbst tätig zu werden. Indes ohne Beschäftigung verweilte er unter den Bäumen, wo alsbald etwas seine Aufmerksamkeit weckte. Eine Weile huschte er mit gesenktem Kopf zwischen den Bäumen umher, scharrte dann und wann etwas Laub zur Seite und verschwand tiefer im Wald.

    „Diese Mythen dienen den Leuten, um sich alles Unerklärliche zu erklären. Die Pest, eine Seuche unter den Tieren, eine Missernte oder der unerwartete Tod eines Verwandten, dozierte Lorenz, während Nolte die Erde vom Grab schaufelte. „Lasst sehen, was wir hier haben.

    Nolte lehnte sich gegen den Rand der Grube, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und wies nach unten.

    „Dort liegt eine geköpfte Leiche. Der Kopf zwischen den Füßen, damit er nicht wieder anwachsen kann."

    Lorenz wurde bleich wie frische Segel.

    „Ist euch nicht wohl?", fragte Nolte besorgt. An dem Leichnam mochte es nicht liegen, hatten sie derer bisher wohl an die zwei Dutzend erblickt. Und jener war noch relativ gut erhalten.

    „Der Mann ist mir bekannt", keuchte Lorenz.

    „Ihr kennt transsilvanische Bauern?"

    „Dieser Mann ist weder Transsilvanier noch Bauer. Sein Name ist Benjamin North, der Assistent und Schwiegersohn von Sir Thomas."

    Lorenz untersuchte den Schädel und fand eine Bisswunde. Ein einzelner Zahnabdruck befand sich oberhalb des Schnittes, den zweiten fand er am Halsansatz am anderen Ende des Grabes.

    „Denkt Ihr, was ich denke, mein lieber Nolte?"

    „Dass wir sofort hier verschwinden sollten?"

    Ein Knirschen, das Brechen von Ästen und die Geräusche eines großen, kräftigen Wesens, das sich durch das Unterholz schob, ließ sie zurückweichen und den Atem anhalten, bis der Kutscher sichtbar aus dem Tannendunkel trat.

    „Dies fand ich am Rand des Abgrundes."

    Lorenz drehte den Gegenstand ratlos in den Händen.

    „Dies ist Teil einer Kutsche", erklärte Nolte.

    „Konnten Sie erkennen, ob sich die Engländer in der Kutsche befanden?"

    „Ich habe die toten Pferde gesehen, denn die Kutsche hing noch an ihnen, als sie über den Abgrund getrieben wurden."

    „Wir müssen sicher sein."

    „Der Abstieg ist unmöglich", erklärte der Kutscher vorsorglich.

    „Dann bleibt leider nur die Möglichkeit, alle Gräber zu öffnen und nachzusehen."

    „Wir könnten die Antwort aus den Bewohnern herausprügeln", schlug Nolte vor.

    „Solcher Methoden hat sich Sir Thomas befleißigt. Wir sollten uns des Verstandes bedienen und Vernunft walten lassen. Wie dem auch sei, wir werden um das Graben nicht herumkommen. Sir Thomas war hier. Wir haben den Leichnam seines Schwiegersohnes und einen Teil seiner Kutsche. Aber was ist geschehen?"

    „Die Dorfbewohner haben uns lange genug im Trüben fischen lassen. Wir sollten ihnen die Pistole auf die Brust setzen. Und das meine ich durchaus wörtlich", beharrte Nolte, aber Lorenz wollte nichts davon wissen.

    „Welchen Grund sollten sie haben, uns zu vertrauen? Für sie sind wir vom gleichen Schlag wie die Engländer."

    Sir Thomas war überall in Europa in Dörfer wie dieses gekommen und hatte im Namen der Wissenschaft gewütet wie andere im Dienste ihres Königs oder ihres Glaubens. Seine Assistenten hatten die Bewohner mit Waffengewalt zurückgehalten, während er und North die Häuser durchsuchten. Und er war dabei immer ungeduldiger und rücksichtsloser vorgegangen, weil er von der deutschen Expedition wusste. Auch wenn er sie anfangs nicht als ernstzunehmende Konkurrenz betrachtet hatte, sorgte er bald dafür, dass nichts zurückblieb, das ihnen in irgendeiner Form nützlich sein könnte. Er vernichtete Hinweise, verbrannte Fundstellen und verjagte Zeugen. Für eine solche Vorgehensweise hatte Lorenz nichts als Verachtung übrig.

    „Versuchen wir uns zu erinnern. Was hat uns dazu gebracht, den falschen Abzweig zu nehmen? Wahrscheinlich war es das Gleiche, das Sir Thomas zu demselben Irrtum verleitet hat", überlegte Nolte.

    „Sie leiden unter Verfolgungswahn. Welchen Zweck sollten diese einfachen Leute verfolgen?"

    „Sie ermorden die Reisenden, rauben alle Wertgegenstände und rollen die Kutschen in den Abgrund. Für mich klingt das nicht besonders abwegig."

    Lorenz betrachtete ihn mit Langmut.

    „Warum haben sie uns dann nicht gleich in der ersten Nacht ermordet, bevor wir die Gelegenheit hatten, misstrauisch und wachsam zu werden?"

    Nolte zuckte mit den Schultern.

    „Wer weiß schon, wie diese Leute denken? Vielleicht mögen sie es, vorher mit ihren Opfern zu spielen."

    „Und die Brücke? Ihren einzigen Weg in die Außenwelt haben sie mit Absicht zerstört, um uns an der Flucht zu hindern?"

    „Warum zweifeln Sie so sehr daran?"

    „Die Dorfbewohner haben Angst. Sie steht ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie sind keine kaltblütigen Mörder, sondern versuchen nur zu überleben. Den Leuten muss geholfen werden."

    Sie arbeiteten den Nachmittag hindurch, und als sie am Ende der Gräberreihe angelangt waren, dämmerte es bereits. Erschöpft standen sie vor den offenen Gräbern und betrachteten ihren Fund.

    „Wir haben alle Mitglieder der englischen Gesandtschaft gefunden. Mit Ausnahme von Sir Thomas."

    „Wenn ich den unterschiedlichen Zustand der Leichen bedenke, dürften sie im Verlauf einer Woche gestorben sein. Drei von ihnen wurden mit einer scharfen Klinge geköpft, einer – dem Anschein nach der zuletzt Gestorbene – mit einem wesentlich gröberen Werkzeug."

    „Aber was ist mit Sir Thomas?"

    „Entweder haben wir seinen Leichnam noch nicht gefunden …"

    „… oder er ist der Mörder", ergänzte Nolte.

    Sie gingen zurück zur Kutsche. Nolte kontrollierte die Geheimfächer hinter der Samtbespannung des Innenraumes, wo sie Lorenz’ Aufzeichnungen, zahlreiche Medikamente und ihre Waffen bewahrten.

    „Ihr wart bisher recht skeptisch gegenüber den Berichten. Ist es damit vorbei?"

    Lorenz schüttelte nachdenklich den Kopf.

    „Ein Mörder ist in diesem Ort. Ob lebendig oder untot spielt dabei eine untergeordnete Rolle."

    „Wir sollten unser Werkzeug nutzen, die Kutsche auseinanderbauen und auf der anderen Seite der Brücke wieder zusammensetzen, damit wir verschwinden können", erklärte Nolte.

    „Wenn wir an dieser Stelle weichen, dann können wir genauso gut nach Göttingen zurückkehren. Nein, hier und heute müssen wir uns dem Übel stellen, um das Schicksal von Sir Thomas zu klären."

    Nolte rollte mit den Augen und begann nach seinen Pistolen zu kramen.

    Die Dunkelheit kam so schnell herab, als habe man die Sonne vom Himmel geschossen. Die Dorfbewohner hatten die Vorbereitungen der Reisenden misstrauisch beobachtet, doch keiner von ihnen wagte sich ins Freie. Der Kutscher hatte sich mit einem Gewehr in die Dachluke eines Hauses gezwängt, von wo aus er den Dorfplatz überblicken konnte. Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken, doch es war nur ein Unzucht treibendes Pärchen, bei dem die Lust die Gefahr überwog und das alsbald durch grobe Anrede aus einem der Fenster in verschiedene Häuser gescheucht wurde. Unterdessen weilten Lorenz und Nolte in der Kutsche und hielten, ein jeder auf seiner Seite, Ausschau. Eine angespannte Stille lag über dem Ort. Nicht einmal die Geräusche von Tieren waren zu hören und das empfanden sie wirklich als beunruhigend.

    Es war Nolte, der die Gestalt zuerst ausmachte. An derselben Stelle wie in der Nacht zuvor. Zunächst unbeweglich stand sie oben auf der Kuppe. Dann machte sie einen Schritt. Und noch einen. Immer schneller. Sie rannte den Weg herab in den Ort hinein, in den Schein der Fackeln, direkt auf die Kutsche zu. Das spärliche graue Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen vom Kopf ab. Die Augen leuchteten irr, der Mund war glitschig vom eigenen Sabber, die einst edle Kleidung verschmutzt und zerrissen. Lorenz erkannte ihn sofort und trotz seines Entsetzens waren seine Gedanken klar: Sir Thomas war bereits gebissen worden, als er das Dorf erreichte. Irgendwo auf seiner Reise musste er einem echten Vampir begegnet sein. Zweifellos hatte er die Veränderungen an sich wahrgenommen, aber seinen Zustand vor seinen Begleitern verbergen können. Bei ihrer Ankunft war die Verwandlung abgeschlossen, Sir Thomas zerstörte die Kutsche, um seine Begleiter an der Flucht zu hindern, und tötete einen nach dem anderen. Die Mitglieder der Gesandtschaft hatten untereinander dafür gesorgt, dass die infizierten Kollegen nicht zurückkehren konnten. Nur für den letzten war niemand mehr da gewesen, der ihm diesen Dienst erweisen konnte. Hier war ohne Zweifel der Schultheiß mit seiner Axt tätig geworden.

    Ungebremst prallte der englische Wissenschaftler gegen die Kutsche. Er stank wie ein Waldwesen. Mit einem Fuß auf der Trittstufe glitt Sir Thomas’ Hand zum Türgriff. Nolte trat kraftvoll gegen die Tür, damit sie aufflog. Es gab ein krachendes Geräusch, dann schwang sie leer zurück. Einen Moment war es still, dann hörten sie Schritte auf dem Kutschendach und gleich darauf einen Schuss aus dem Gewehr des Kutschers. Hinter ihnen wurde die Tür aufgerissen. Nolte schwang seine beiden Pistolen herum und feuerte sie ab.

    Am nächsten Morgen lockte strahlender Sonnenschein die Dorfbewohner aus ihren Häusern. Der Lärm hatte viele von ihnen erst in den frühen Morgenstunden einschlafen lassen und einige überhaupt nicht. Ein Pferd hing ohne sichtbare Wunden tot im Geschirr, das andere war verschwunden. Die steifen Ledervorhänge der Kutsche waren zugezogen. Der Schultheiß klopfte vorsichtig an die Tür, doch niemand regte sich. Er versuchte es erneut, diesmal heftiger und fasste den Griff, um die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Er rüttelte daran, spürte am Gewicht der Kutsche, dass sie nicht leer sein konnte, und schlug mit der flachen Hand gegen das Holz, doch er erhielt keine Antwort. Der Schultheiß stellte seine Bemühungen ein. Als er sich zu den anderen Bewohnern umdrehte, sah er Angst und Schrecken auf den Gesichtern. In stummer Übereinkunft sammelten sie Stroh, alte Lumpen und Holz, das sie unter der Kutsche aufhäuften. Frauen und Kinder bestrichen die Kutsche mit Öl und Fett, dann zogen sie sich zurück. Die Männer, bewaffnet mit Sensen, Äxten und Säbeln, bildeten einen Kreis um die Kutsche, um alles darin an einer Flucht zu hindern. Dem Schultheißen tat es leid um die Fremden, aber er trug die Verantwortung für das Leben aller. Inständig hoffte er, dass nicht einer der Reisenden mit dem fehlenden Pferd verschwunden war, sondern das Böse selbst die Gelegenheit ergriffen hatte, ihr Dorf zu verlassen. Ein plötzliches Rumpeln im Inneren der Kutsche ließ sie alle erschrocken zurückweichen. Der Schultheiß schlug ein Kreuz vor seiner Brust und ließ sich die Fackel reichen.

    Unplugged

    Die ehemalige Fabrikhalle war in einem erbärmlichen Zustand. Die Natur hatte das Gelände im Laufe der Jahre zurückerobert und zahlreiche Tiere betrachteten es als ihr Zuhause. Die Teerfläche des Parkplatzes war an vielen Stellen aufgerissen und Unkraut wucherte in den Ritzen der Betonwege. Der Drahtzaun, der alles umgab, war verrostet und an vielen Stellen niedergetreten. Francis gab dem Gebäude in seiner jetzigen Form nicht mehr lange. Bei der Fassade könnten ein paar Hektoliter Farbe ein Wunder bewirken, der Inneneinrichtung dagegen hätte ein Brand gutgetan. Der ehemalige Büroraum, in dem Francis erwachte, roch penetrant nach Schimmel. Die Tapete hatte sich gelöst und hing in

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