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Wagen 8: Harz-Krimi
Wagen 8: Harz-Krimi
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eBook372 Seiten5 Stunden

Wagen 8: Harz-Krimi

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Über dieses E-Book

In der beschaulichen Kleinstadt Wernigerode steht ein Zug der berühmten Schmalspurbahn bereit, seine Fahrt zum Brocken aufzunehmen. Die ersten Gäste sind eingestiegen, als zwei Männer mit Handfeuerwaffen den Rangierer überwältigen. Sie zwingen ihn, sofort loszufahren. Steuern kann er den Zug nur mit der Fernbedienung, der Platz des Lokführers in der Maschine ist unbesetzt! Ein Terroranschlag? Das Spezialeinsatzkommando der Polizei wird alarmiert. Seine Männer versuchen alles, den Zug zu stoppen. Das ist nicht so einfach wie gedacht, zumal ein schwerer Sturm über dem Harz tobt. Eine dramatische Fahrt, die für die Geiseln zum Horrortrip zu werden droht.
SpracheDeutsch
HerausgeberProlibris Verlag
Erscheinungsdatum3. Nov. 2021
ISBN9783954752355
Wagen 8: Harz-Krimi

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    Buchvorschau

    Wagen 8 - Mario Schulze

    Mario Schulze

    Wagen 8

    Harz-Krimi

    Prolibris Verlag

    Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Einige Handlungsorte werden die Besucher des Harzes oder seine Bewohner jedoch bestimmt wiedererkennen.

    Alle Rechte vorbehalten,

    auch die des auszugsweisen Nachdrucks

    und der fotomechanischen Wiedergabe

    sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

    in elektronischen Systemen.

    © Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2021

    Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

    Titelfoto © Markus Behrla, Bergkamen

    Schriften: Linux Libertine

    E-Book: Prolibris Verlag

    ISBN E-Book: 978-3-95475-235-5

    Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

    ISBN: 978-3-95475-226-3

    www.prolibris-verlag.de

    Die wichtigsten mitwirkenden Figuren:

    Richard (Rick) Emmeran - Unternehmer und Bäcker

    Sophie Emmeran - Ballonfahrerin und Ricks Frau

    Ulrich Medow - Ricks Schwager

    Die Bahnangestellten

    Ernst Urbanek - Rangierlokführer

    Conrad Fichte - Fahrdienstleiter

    Ralph Bärbaum - Conrads Chef

    Simone - Zugbegleiterin

    Die Polizeibeamten

    Marvin Mölter - Kriminaloberkommissar beim Landeskriminalamt Magdeburg (LKA)

    Robert König - Gruppenleiter des Spezialeinsatzkommandos Magdeburg (SEK)

    Sören Schmieder - Mitglied des SEK

    Habermann - Kriminalrat beim LKA

    Lore Sikora - Polizeibeamtin und Fahrgast in Zug 8925

    Holger Matthies - Lores Kollege

    Roth und Schwarz - LKA-Beamte

    Achtendorff - Polizeipsychologe

    Weitere Fahrgäste im Zug

    Nadja Thimm - Zockerin

    Franz Berger - ohne seine Frau, aber mit einem Koffer

    Frau Freytag - kann nicht rückwärtsfahren

    Nils + Wilma Langhans - wollen am Mammutmarsch teilnehmen

    Sonstige

    Claudius Eisen - Handelsvertreter für Heizungsanlagen

    Victoria - Claudius’ Ehefrau, aber seit über 13 Jahren tot

    Hermann Prior - ist ebenfalls tot

    Heiner Auck - Revierförster

    Ines Kraff - eine Zeugin, die sich irrt

    Dr. Helge Rüdenbach - Oberstaatsanwalt, der es eilig hat

    Henning Gabler - rechtmäßig verurteilter Steuerverkürzer

    Bärbel Knecht - Urbaneks Freundin, versteht etwas von Blumen

    Holly - versteht etwas von Heißluftballons

    Mörke - versteht etwas von Milchvieh

    Tomáš - Mörkes Landarbeiter

    Prolog

    Daniela war ein paar Stunden zu früh. Alle, die davon etwas verstanden, hatten ihre Ankunft erst für den angehenden Nachmittag erwartet. Doch nun war sie da. Zornig kam sie daher und unbändig, wich keinem der Hindernisse aus, arbeitete sich an Tälern und Bergkuppen ab, an Brücken, Dächern und Masten, an Werbebannern und Baukränen.

    Schon seit fast zwei Wochen war es ununterbrochen windig gewesen in Norddeutschland. Ein Umstand, dem die Einheimischen im Harz mit Gleichmut begegneten. So etwas war man hier gewöhnt. Nur die wenigen Touristen, die sich um diese Jahreszeit hierher verirrten, traf es unvorbereitet. Als Daniela von Süden und Westen kommend die ersten Höhenzüge des kleinen, aber stolzen Mittelgebirges erreichte, war Cora, ihre kleine Schwester, bereits seit einigen Stunden fort. Ab den späten Abendstunden dieses Novembertages war es unvermittelt völlig windstill gewesen, und das hatte Nachtarbeiter oder die Menschen, die aus Sorge um ihr Habe oder aus anderen Gründen schlecht schlafen konnten, aufatmen lassen – in der trügerischen Hoffnung, das Gröbste hinter sich zu haben. Auf die Wetterleute verließ man sich hier nicht. Wind und Wolken trieben es rund um den Brocken nach ganz eigenen Gesetzen.

    Doch nun war Daniela da. Im Institut für Meteorologie der Freien Universität Berlin hatte es zunächst Diskussionen um den Namen gegeben. Nach Cora war nun der Buchstabe D an der Reihe, Dorothea hätte ganz passabel gepasst, nur hatte es vor nicht allzu langer Zeit bereits ein Hoch dieses Namens gegeben. Einer der Meteorologen schlug Dagmar vor, in Würdigung seiner Frau, die just am gestrigen Tag ihren fünfzigsten Geburtstag begangen hatte, doch dieser Kollege war im Institut nicht sehr beliebt, und so überging man ihn einfach und schließlich wurde an die Nachrichtenagenturen der Name Daniela gemeldet.

    Daniela kam zunächst aus Neufundland, wo sie einfach so geboren worden war. Ein ganz normales Tiefdruckgebiet, wie es sie zu jeder Zeit unzählige Male auf der Welt gab. Doch immer mehr warme Luft stieg nach oben, Daniela wuchs heran und zog deshalb schnell die Aufmerksamkeit der Meteorologen auf sich. Sie beobachteten ihre nach Osten verlaufende Bahn über den Atlantik genau und erkannten bald, dass man es hier mit einem Orkan zu tun haben würde, wenn die Front Europa erreichte. Sie würde nicht so gewaltig sein wie einige berühmte Vorfahren, etwa Lothar oder Kyrill, aber dennoch so stark, dass man es für besser hielt, eine Unwetterwarnung herauszugeben.

    Nachdem Daniela über die Britischen Inseln hinweggezogen war, traf sie auf das Festland, beschleunigte wiederum und benötigte daher nur noch eine Nacht bis zu den westlichen Ausläufern des Harzes.

    Danielas Kraft würde – so hatten es die Wissenschaftler errechnet – in ein paar Stunden merklich nachlassen. Aber noch war dieser Zeitpunkt nicht gekommen. Der hoch aufragende Brocken wirkte wie eine Flasche, an der sich der Windstrom teilte, um hernach dicht an seinem Bauch entlangzuströmen. Auf der Rückseite des Berges bündelte er seine Kräfte wieder und zog weiter gen Osten. Seine Energie reichte durchaus noch, um den ohnehin bereits geschwächten Baumbestand auf den Höhenzügen des Ostharzes anzugreifen. Denn auch der Boden war durch den spärlichen Regen der letzten beiden Sommer entkräftet. Deshalb konnte er besonders die dort reichlich vorhandenen Flachwurzler nicht halten. Und so geschah es, dass am Morgen dieses Novembertages die ersten besonders exponiert stehenden ausgewachsenen Fichten ihren Widerstand aufgaben und ganz in der Nähe des Großen Thumkuhlenkopfes mit mächtigem Getöse zu Boden stürzten.

    Kapitel 1

    09.58 Uhr. Auch im Stellwerk Wernigerode, dem Herz der Harzer Schmalspurbahnen, wurde unterdessen aufmerksam registriert, dass der Orkan Daniela ungestümer als erwartet auf den Westharz getroffen war. Bald würde er auch hier angekommen sein. Der diensthabende Verantwortliche für den Fahrbetrieb, Ralph Bärbaum, telefonierte in diesem Augenblick mit dem zuständigen Wetteramt, denn er stand vor der Frage, ob er den Zug 8925, der in siebenundzwanzig Minuten Abfahrt in Richtung Brocken haben würde, noch freigeben sollte. –

    Rick Emmeran hingegen, der nur zweihundert Meter vom Stellwerk entfernt auf dem Gelände des Wernigeröder Bahnhofs stand, hatte Angst, und diese Angst war jetzt so stark geworden, dass sie in seinen Hals hineinwuchs. Verzweifelt schloss er die Augen, kurz nur; er versuchte, diese Nähmaschine in seinen Fingern zu beruhigen.

    Die Umgebung beobachten, hatte Ulrich gesagt. Zunächst nur beobachten. Achte auf alles, was ungewöhnlich ist. Das wirst du ja wohl noch hinbekommen. Das bekam er hin. Hier war nichts Auffälliges zu sehen. Der Bahnsteig war ohnehin fast verwaist. Es regnete.

    Gemächlich rollte, geschoben von einer brummigen weinroten Diesellok, ein leerer Zug in den kleinen Kopfbahnhof ein. Noch achtzig Meter vielleicht, dann würde er zum Stehen kommen müssen. Grüne Leuchtbuchstaben auf der schmächtigen elektronischen Anzeigetafel verrieten, dass dies ein Zug zum Brocken war. Zehn Uhr fünfundzwanzig ab Wernigerode Hauptbahnhof. Bis zur Abfahrt blieb zum Glück noch etwas Zeit.

    Rick, der eigentlich Richard hieß, aber von niemandem so genannt wurde, weil das klänge, als wäre es der Name seines Vaters, Rick gewann wieder die Kontrolle über seinen Körper. Er ballte in den Taschen seiner dunkelblauen, festen Regenjacke die Fäuste zusammen, bis die Daumen schmerzten. Das Zittern musste ganz verschwinden. An Sophie zu denken, half etwas. Der vom langsam aufkommenden Sturm getriebene Niesel an diesem nasskalten, ungemütlichen Tag im November, der den Menschen schon seit dem Aufstehen die Laune verdorben hatte und die Bahnsteige glänzen ließ, legte sich auf die Gläser seiner Brille.

    Warum hatte er sich damals nur auf diesen ganzen Irrsinn eingelassen, dachte er voller Selbstmitleid. Dann würde er jetzt hier nicht stehen. Dann würde sein Leben ganz normal weitergehen und niemand wäre in Gefahr.

    Rick bemerkte nun auch die für die Fahrt zum Brocken vorgesehene Dampflok. Noch stand die nicht an ihrem Zug. Ihr Heizer war draußen im Bahnhofsvorfeld auf einen altertümlich anmutenden blauen Drehkran geklettert und füllte ihren Tender nun mit anthrazitfarbenen, regennassen Kohlebrocken. Aber Rick hatte nicht lange Sinn für die Szenerie. Wie schon mehrfach in den letzten Minuten blickte er sich verstohlen um. Für Ulrichs Vermutung, er könnte beobachtet werden, fand er nicht den geringsten Hinweis. Doch das musste nichts bedeuten. Gar nichts musste das bedeuten.

    Vielleicht fünfzehn Meter fehlten dem Zug nun noch bis zum Erreichen des Prellbocks. Es wurde Zeit für den Rangierer, das mächtige Ungetüm am anderen Ende des Zuges, das damit beschäftigt war, die Wagenkette in den Bahnsteig zu drücken, zu zügeln. Im Schritttempo näherte sich diese ihrem Ziel. Routiniert sprang der Mann mit der verschmutzten, einst signalfarbenen Arbeitskluft von der unteren Stufe des letzten Waggons auf das nasse Pflaster und griff sogleich nach den Hebeln des Paneels, das er vor seinen Bauch geschnallt hatte. Der Mann bediente die Maschine per Funkfernsteuerung. Oben in der Kanzel der Lokomotive saß niemand. Der Führerstand war leer.

    Die Bremsen schlugen an und gaben ein kurzes, markantes Quietschen von sich. Der Zug stand. Nun, da die Waggons an ihrem Platz waren, würde der Mann nach vorn gehen, die Diesellok abkuppeln, sich auf ihren Rangiertritt stellen und ihr mit seinen Hebeln den Befehl geben, allein davonzubrausen, eine Rußfahne in den Himmel stoßend. Danach setzte sich die schwarzglänzende Dampflok, deren Männer nun noch damit beschäftigt waren, ihre Wasservorräte zu ergänzen, vor den Zug, um ihn bald darauf die steilen Hänge des Harzes hinaufzuschleppen.

    »Bin wieder bei dir. Alles okay?«

    Endlich! Rick atmete auf. Ulrich hatte es doch noch rechtzeitig geschafft. Als die SMS gekommen war, die Rick befahl, sich zum Bahnhof zu begeben, hatte Ulrich nach seiner Jacke gegriffen, das Auto verlassen und war überhastet davongeeilt. Er werde pünktlich da sein, hatte er ihm noch zugerufen.

    »Hier ist niemand«, antwortete Rick knapp. Nichts war los hier. Der Bahnsteig zeigte sich beinahe menschenleer. Gut für sie. Das Wetter war auf ihrer Seite. Rick zog sich die Kapuze seiner Jacke tiefer über die Augen. »Sie müssen die Lok erst austauschen. Die Dampflok muss an den Zug. Kann aber nicht mehr lange dauern«, ergänzte er.

    Ulrich warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Noch haben wir ein bisschen Reserve. Knapp vierzig Minuten braucht der Zug bis Drei Annen Hohne.«

    Unvermittelt wechselte Ulrich das Thema. Er müsse nicht so ein Gesicht machen, alles werde nach Plan verlaufen, umarmte ihn sein Schwager und drückte ihm dabei unauffällig den warmen, glatten Stahl einer Pistole in die Hand. »Die Beretta 92. Solide Waffe. Eins der ersten Stücke aus meiner Sammlung. Versagt nie. – Aber pass auf, sie ist geladen.«

    »Spinnst du? Das war nicht ausgemacht!« Rick wurde schon wieder schlecht. Wozu brauchte er eine Waffe? Sie waren doch keine Verbrecher.

    Er solle sie ja nicht benutzen. Aber man wisse nie, was alles passieren könne. Vielleicht müsse er sich verteidigen oder jemanden in Schach halten. Und wenn es darauf ankomme: Besser dieser Dreckshund als Sophie.

    Rick griff nur widerwillig nach der Beretta. Ungelenk steckte er sie in den Gürtel, nachdem er sich zuvor bei Ulrich vergewissert hatte, dass sie nicht entsichert war. Er verstand nicht viel von Waffen. Ulrich dagegen schon. Sein Schwager besaß eine ganze Vitrine voll davon. Von jedem Auslandsurlaub brachte er sich eine neue mit. Rick hatte keine Ahnung, wie er sie sich beschaffte. Er würde hohe Wetten eingehen, dass die meisten davon nicht einmal registriert waren. Vor ein paar Jahren hatte Ulrich ihn sogar einmal in einen alten Steinbruch mitgenommen, um Schießübungen zu machen. Rick hatte nie wieder danach gefragt. Er fürchtete sich vor Waffen.

    Jetzt galt es erst einmal, kein Aufsehen zu erregen. Sonst war alles verloren. Niemand beachtete sie. Die Zugbegleiterin war soeben, mit einem Regenschirm über dem Kopf, auf dem das Logo der Bahngesellschaft prangte, aus ihrem Dienstabteil gestiegen, das sich im Waggon direkt hinter der Lok befand. Nun ging sie die Wagenreihe entlang, warf einen prüfenden Blick auf die Bremsen und klebte danach in die Fenster des vorletzten Waggons Zettel, auf denen man in fetten, roten Buchstaben das Wort Reserviert lesen konnte. Offenbar erwartete sie nachher noch eine Reisegruppe, die vorbestellt hatte. Viele Touristen stiegen erst in Drei Annen Hohne oder Schierke zu. An einem verregneten, windigen Novembertag wie diesem allerdings, noch dazu mitten in der Woche, fanden sich normalerweise kaum Fahrgäste, die hoch hinauf in den Harz wollten. Es waren die Schönwettertouristen, die die Züge auf den Brocken füllten.

    Ulrich zündete sich mit einiger Mühe noch eine letzte Zigarette vor der Abfahrt an, da öffnete sich plötzlich die Tür des kleinen Bahnhofsgebäudes hinter ihnen. Etwa eine Handvoll Menschen quoll heraus und hastete auf den Zug zu. Drei weitere folgten ein paar Schritte später. Sie hatten offenbar den Schutz des Wartehäuschens, in dem auch ein Fahrkartenschalter untergebracht war, genutzt, um nicht nass zu werden. Wind und Wasser trotzend, liefen die Leute zu ihrem Bahnsteig, und einige Sekunden später schon begannen sie, in den letzten Waggon zu steigen, denn der war dem Bahnhofsgebäude am nächsten. Niemand wollte länger als nötig dem Regen ausgesetzt sein. Ein älteres Ehepaar, mit Wanderstöcken, Rucksack und schweren Schuhen beladen, bildete den Schluss und mühte sich die eisernen Stufen am Ende des Zuges hinauf. Sie war einen Kopf kleiner als er, weshalb ihr Abstand und Höhe der Stufen Mühe bereiteten. Der Mann half ihr und schloss anschließend geräuschvoll und mit einem kräftigen Ruck die Schiebetür des Waggons.

    Rick sah seinen Schwager ratlos an. Er hatte gehofft, dass sie vielleicht allein in ihrem Wagen sitzen würden. »Was machen wir nun?«

    Ulrich, der die kleine Menschengruppe ebenfalls aufmerksam verfolgt hatte, zog an seiner Zigarette und ließ den grauen Qualm aus seinem halb geöffneten Mund kriechen. »Nichts. Was kümmern sie uns.«

    »Wir könnten einen anderen Waggon nehmen.«

    »Können wir nicht. Das weißt du.« Er hielt Rick sein Handy hin. Auf dem Display war die Nachricht mit der unmissverständlichen Anweisung zu lesen.

    Rick spürte sofort wieder das Gefühl der Panik in seinem Magen. »Woher weiß er, dass wir seine Forderungen befolgen?«

    »Weil er uns immer zwei Schritte voraus ist. Und weil wir keine Wahl haben.« Ulrich rauchte hastig. Er hielt die Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen. Das machte er sonst nie. »Wenn der Rangierer fertig ist, steigen wir ein. Wir setzen uns auf unsere Plätze und sind zwei ganz normale Reisende. Alles geht glatt.«

    »Und wenn die Zeit doch knapp wird?«

    »Keine Sorge. Wir haben zwanzig Minuten Reserve. Wir schaffen es.«

    »Wir müssen noch Fahrkarten holen«, fiel Rick plötzlich ein. Wie hatte er das vergessen können!

    »Das habe ich bereits getan.«

    Rick atmete durch und war wieder einmal froh, dass er seinen Schwager hatte. Allein hätte er das hier bestimmt nicht durchgestanden. Ulrich mochte genauso nervös sein, doch er traf klare, richtige Entscheidungen.

    Die unsichtbare Stimme am Mikrofon für die Lautsprecherdurchsage meldete sich mit der Mitteilung, dass der Zug um 10.25 Uhr zum Brocken aufgrund der extremen Witterung heute nur bis Schierke verkehren würde. Man bitte um Verständnis. Ihre Blicke trafen sich. Na und? Das ist unwichtig für uns, sagte Ulrich stumm, die Anweisung lautete, in Drei Annen Hohne auszusteigen. Ein kleiner Ort mit nur wenigen Häusern auf halber Strecke zum Brocken. Was danach geschah, war gleichgültig. Rick deutete ein Nicken an. Ulrich hatte ja recht.

    »Glaubst du wirklich, er beobachtet uns?«

    Ulrich wiegte den Kopf. »Nicht ausgeschlossen. Vielleicht hat er aber auch einen zweiten Mann hier irgendwo. Möglicherweise sogar im Zug. Oder er steigt später zu. Wir sollten die Fahrgäste unbedingt im Auge behalten.«

    Ricks unglückliche Miene veranlasste den Schwager, ihm einen Klaps auf die Schulter zu geben. »Kopf hoch. Das wird schon.«

    Der Rangierer schien es heute nicht besonders eilig zu haben. Er machte nun eine hohle Hand, um sich eine Zigarette anzustecken, dann schwatzte er noch ein wenig mit der Zugbegleiterin, die ihm einen Platz unter ihrem zerzausten Schirm anbot, den sie kaum zu bändigen vermochte. Während sie fast nur zuhörte und fortwährend über seinen Monolog lachte, hatte der Mann das Paneel mit den kleinen Hebelchen, das Rick eher an die Steuereinheit einer Modelleisenbahn erinnerte, nun abgeschnallt und über die Schulter gehängt. Gestenreich untermalten seine Hände die Worte, die den Mund verließen. Die Zigarette zwischen den Lippen wippte dabei ständig auf und nieder.

    Rick rümpfte die Nase. Er hatte nicht daran gedacht, einen Schirm mitzunehmen. Langsam kroch die Nässe auf seine Schultern. Da verabschiedete sich der Rangierer nach einem Blick auf die Uhr von seiner Kollegin, die ihm das Paneel aus der Hand nahm und sich zurück an die Spitze des Zuges begab. Im Gehen winkte sie ihm noch einmal zu.

    »Der hat Feierabend! Sie bringt die Fernsteuerung zu einem anderen Rangierer! Was machen wir jetzt, Ulrich?«

    »Nichts, Mann. Es ist doch völlig zweitrangig. Reiß dich jetzt zusammen, Rick!« Der Schwager brauchte nicht viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. »Los! Wir gehen.«

    Ulrichs schroffe Erwiderung machte Rick bewusst, wie schwer es ihm selbst gerade fiel, Dinge richtig einzuordnen. Er griff nach der fliederfarbenen, gut gefüllten Sporttasche, die bis eben zu seinen Füßen auf dem nassen Pflaster gestanden hatte und an ihrem Boden nun einige dunklere Flecken zeigte, und ging eiligen Schrittes dem Schwager hinterher. Doch er merkte selbst, dass ihm die Souveränität fehlte. Wie ein Kind sehnte er sich jetzt in seine Hexenküche zurück, einem kleinen Backstübchen zum Ausprobieren und Kreativsein, sozusagen das Hirn seiner Bäckerei Emmeran, die jeden Tag den halben Landkreis mit frischem Brot und knusprigen Brötchen versorgte.

    Diese Hexenküche war einer seiner Lieblingsplätze. Dort konnte er Entscheidungen treffen, die sich richtig anfühlten, die die Firma voranbrachten. Dafür hatte er ein Händchen. Für Aktionen wie diese hier war er einfach nicht geschaffen.

    Der Rangierer kam ihnen nun vom Ende des Bahnsteigs entgegen, hatte sich den Kragen seines Pullovers hochgeschlagen und die Schultern in den Nacken gedrückt, um dem Regen zu trotzen. Er hielt auf den Ausgang zu. Als sein linker Arm in einem Augenblick der Unachtsamkeit mit Ricks Sporttasche kollidierte, die dieser gerade wie einen Obstkorb in der Armbeuge trug, weil er dabei war, sich mit dem Taschentuch die Brille zu säubern, geschah etwas, das für die Ereignisse danach nicht folgenlos bleiben würde. Rick merkte es sofort, ohne dass er es noch verhindern konnte. Die Beretta, die unter seiner Jacke aus dem Gürtel gerutscht war, fiel direkt vor dem Mann auf das Pflaster. Eine Chance, dass der Rangierer die Waffe übersah, gab es nicht.

    Sie wirkte eher unscheinbar und auf jeden Fall harmlos, wie sie da einen halben Meter von Ricks Füßen entfernt lag. Schwarzer Stahl und klare Linien. Doch die Reaktion des Bahnangestellten war genau die, die man von ihm in einer solchen Situation erwarten musste. Eine Sekunde benötigte er, um die Lage zu erfassen, dann kickte er die Waffe beiseite und griff schon zu seinem Handy. Ohne zu zögern, drückte Ulrich, der das verräterische Fallen der Waffe ebenfalls gehört hatte, dem Mann die Mündung der eigenen Pistole an den Hals. »Zurück zum Waggon!«

    Ulrich musste seine Aufforderung wiederholen, ehe der Mann sich zögernd bewegte. Rick klaubte die Beretta wieder auf und hielt sich dicht hinter den beiden, sicherte so leidlich ab, dass diese Geiselnahme der Welt zunächst verborgen blieb. Der Rangierer war kräftig, hatte breite Schultern. Er blieb sogar unbewaffnet ein nicht zu unterschätzender Gegner, sollten sie unvorsichtig sein. Er hatte begriffen, dass er von zwei Männern mit einer Pistole bedroht wurde, aber den Sinn dieser Aktion verstand er selbstredend nicht. »Was soll das werden?«, fragte er mit fester, kratziger Stimme. »Halten Sie das da für einen Postzug voller Geld?«

    »Maul halten! Schneller, gehen Sie! Wir meinen es ernst! Zurück zum Waggon! Steigen Sie wieder auf die Plattform und tun Sie genau das, was ich Ihnen sage. Die Knarre ist geladen und ich kann damit umgehen!«

    Rick zitterte schon wieder. Ulrich klang jetzt tatsächlich wie ein Verbrecher. Bloß keinen Fehler machen. Selbst einfache Handlungen wie das Einsteigen in einen Zug wuchsen plötzlich zu großen Herausforderungen heran.

    Tatsächlich. Es funktionierte. Nach einem Moment des trotzigen Zögerns ging der Mann nun, mit kleinen Schritten zwar, aber dennoch zielgerichtet los, erreichte den letzten Waggon, fasste nach der Haltestange und zog sich mit geübtem Griff auf die Plattform hoch. Ulrich folgte ihm, dann Rick. Die Mündung von Ulrichs Waffe zeigte wieder auf das Gesicht des Rangierers.

    »Was wollen Sie?«, fragte der nochmals und versuchte das Kratzen wegzuräuspern.

    »Rufen Sie jetzt die Zugbegleiterin zurück!«

    Kopfschütteln. Seine Kollegin bringe er nicht in Gefahr, krächzte der Mann trotzig. Erst als Ulrich die Waffe mit einem deutlich hörbaren Klicken entsicherte, überlegte er es sich anders.

    Rick verfolgte Ulrichs Aktion mit Fassungslosigkeit. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sein Schwager plante. Er wusste nur, dass sie dafür in den Knast wandern würden. Bisher hätte alles noch als eine Art Notwehr gelten können, doch dies war eine Geiselnahme! Man konnte nicht ein Verbrechen mit einem anderen bekämpfen.

    Der Rangierer beugte sich vor, um Sichtkontakt zu bekommen, und rief energisch den Namen Simone. Als sie reagierte, winkte er ihr, zurückzukommen.

    Rick und Ulrich hatten sich bis zum letzten Moment auf der Plattform vor ihr verborgen; als sie nahe genug war, sprang Ulrich vom Waggon. Mit der Waffe in ihrem Rücken schob er die überraschte Frau nach oben zu den anderen und schloss den Sicherheitsbügel hinter sich. Es war nun eng auf dem kleinen Vortritt des Wagenkastens. Rick war unschlüssig, was er tun musste. Sollte er die Tür öffnen und in den Waggon hineingehen?

    »Das Bedienpult!«, forderte Ulrich im nächsten Moment von der Zugbegleiterin. Mit schreckgeweiteten Augen, aber ohne ein einziges Wort reichte die Frau ihm das Paneel.

    »Was hast du vor?«, fragte Rick zischelnd. Dass er seine Ahnungslosigkeit preisgab, war ihm nun egal. »Der Zug fährt erst in knapp zwanzig Minuten! Das schaffen wir nie, so lange hier nicht aufzufallen! Bis dahin hat der ganze Bahnhof mitbekommen, was hier vor sich geht!«

    »Abwarten!« Ulrich schob dem Rangierer das Pult in die Hand. »Sie starten jetzt den Zug!« Um seiner Forderung mehr Nachdruck zu verleihen, drückte er die immer noch entsicherte Waffe in dessen Gesicht. »Machen Sie schon!«

    Der Eisenbahner, dessen stoppelige, wettergegerbte Wangenhaut vom Lauf der Pistole nun seltsam deformiert war, begann einen letzten, vorsichtigen Versuch des Widerstands. »Hören Sie! Das hier ist keine Straße. Wir haben eine eingleisige Strecke mit anderen Zügen im Gegenverkehr. Sie kommen nicht weit.«

    Der Schuss durchschlug mit einem fürchterlichen, trockenen Knall das Tonnendach des Waggons und hinterließ ein kleines, aber eindrückliches Loch in seinem Blech. Feiner, kaum sichtbarer Rauch kroch aus der Mündung der Waffe.

    Nun wusste der Rangierer, dass Ulrich nicht bluffte. »Sind Sie irre?«, entfuhr es ihm, doch er griff ohne weiteres Zögern zu seinem Paneel und nach zwei, drei Handgriffen gehorchte die Diesellok: Der Motor schlug mit einem kurzen Bellen an, ging dann in ein dumpfes Brummen über und entfaltete vorsichtig seine Kräfte. Der Zug setzte sich tatsächlich in Bewegung. Bänke, Masten und zwei tropfnasse Fahrräder, die zur Verladung bereitstanden, zogen vorbei. Die wenigen Menschen, die sich bei dem Wetter neugierig und in Regencapes gehüllt auf die große Aussichtsplattform gleich neben dem Stellwerk gewagt hatten, um den Dampflokschuppen zu besichtigen, hatte der Knall der Beretta erstarren lassen.

    Die Zugbegleiterin, die noch immer kein einziges Wort gesagt hatte, schwebte offenbar in Todesangst, denn mit ungeahnten Kräften stieß sie Rick, der ihr im Weg stand, beiseite, öffnete den Sicherheitsbügel auf der anderen Seite und sprang ab, bevor der Zug zu schnell geworden war. Mit den Armen über dem Kopf blieb sie am Rande des Schotterbetts liegen.

    Rick überforderte die Situation nun endgültig. Er schob Ulrich ein wenig beiseite, damit der Rangierer nicht mithören konnte. »Was machst du? Wir können doch nicht so losfahren? Von hier hinten! Auf der Lok ist kein Mensch!«

    »Wir können und wir werden. Wir müssen das hier jetzt zu Ende bringen. Denk an Sophie! Oder hast du eine bessere Idee? Außerdem sparen wir so noch ein bisschen Zeit! Wer weiß, wozu das gut ist.«

    »Und die Leute im Waggon?«

    »Betrachte sie als unsere Lebensversicherung.«

    »Aber wenn einer von denen draufgeht?«

    »Wenn alles nach Plan läuft, passiert keinem was.«

    Rick war noch nicht überzeugt von Ulrichs Worten. »Und was ist, wenn uns wirklich ein Zug entgegenkommt? Hast du daran auch gedacht?«

    Ulrich grinste triumphierend. »Lass dich nicht von diesem Rangierer ins Bockshorn jagen, Rick! Ich habe den Fahrplan gelesen. Der erste Zug des Tages startet von Drei Annen Hohne um 11.08 Uhr. Da sind wir längst oben. Und wenn nicht, dann wartet er.«

    Langsam bewegte sich die Wagenschlange mit der weinroten Diesellok an der Spitze aus dem Bahnhof heraus. Der blaue Kohlekran wurde passiert und die kräftige Dampflok, die eigentlich diesen Zug zum Brocken schleppen sollte.

    »Wir haben soeben ein rotes Signal überfahren …«, setzte der Rangierer vorsichtig an, offensichtlich noch immer in der Hoffnung, die Katastrophe abwenden zu können.

    »Geben Sie mir das Funkgerät!«, verlangte Ulrich und riss es dem Mann fast aus der Hand.

    Dem Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk war längst aufgefallen, dass sich der Zug ohne Abfahrauftrag in Bewegung gesetzt hatte. Ulrich ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern erteilte mit klaren Worten seine Anweisungen. Der Mann da oben würde sie sehen können, in diesem Moment passierte der letzte Waggon des Zuges die Höhe des Stellwerks. Deutlich sichtbar hielt Ulrich ihrer Geisel die Waffe an den Kopf. »Freie Fahrt in Richtung Drei Annen Hohne, alle Signale auf Grün, keine Störungen, sonst wird es Tote geben!«

    Kapitel 2

    10.10 Uhr. Nicht nur im Wagen 8 des Zuges 8925 hatte man wahrgenommen, dass soeben ein Schuss gefallen war. Sein Knall rollte durch den ganzen Bahnhof. Menschen drehten sich um, Fenster wurden geöffnet. Und so dauerte es nicht lange, bis auch die große Maschinerie der polizeilichen Gefahrenabwehr begann, die dafür vorgesehenen Routinen abzuspulen. –

    Lore Sikora hörte für zwei Sekunden auf zu atmen, als der Schuss fiel. Ihre Hand fuhr, dem Reflex folgend, an die rechte Hüfte, doch sie griff ins Leere. Dafür kullerte die kleine Porzellaneule von ihrem Schoß auf den Boden des Waggons.

    Lore hatte gerade versucht, die filigrane Figur mit den großen blauen Glasaugen in einem mit Seidenpapier ausgeschlagenen Schächtelchen unterzubringen, das noch eine rote Schleife bekommen sollte. Es war das Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter, die heute siebenundsiebzig Jahre alt wurde. Eulenfiguren waren ihre große Leidenschaft, sie sammelte sie seit Jahren. Manche von ihnen waren richtig wertvoll, man würde dreistellige Summen dafür bekommen. Da war es schwer, noch eine zu finden, die nicht schon in der gläsernen Vitrine mit den Perlmuttgriffen ihren Platz gefunden hatte. Einer von Lores Kollegen aus dem Revier, der kürzlich in Italien im Urlaub gewesen war, hatte ihr eine mitgebracht, die in der Sammlung noch fehlte. Mutter würde sich freuen.

    Doch nun hatte Lore keinerlei Gedanken mehr an den Geburtstag. Das Geräusch eines Schusses kannte sie genau. Lore war Polizeibeamtin. Die Stunden auf dem Schießstand zählte sie längst nicht mehr. Das war vor wenigen Sekunden nicht etwa die spektakuläre Fehlzündung eines Pkw oder das Herunterknallen eines stumpfen schweren Gegenstands auf eine Stahlplatte gewesen, wie es bei Eisenbahnen manchmal vorkommen konnte. Hier hatte jemand gerade aus nächster Nähe eine Waffe abgefeuert und deren Kugel hatte irgendwo die Haut dieses Waggons durchschlagen. Jeder hier konnte eben die kurze Resonanz an den Wänden spüren. Das

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