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Araminta-Station: Die Cadwal Chroniken I
Araminta-Station: Die Cadwal Chroniken I
Araminta-Station: Die Cadwal Chroniken I
eBook894 Seiten11 Stunden

Araminta-Station: Die Cadwal Chroniken I

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Über dieses E-Book

Die Cadwal Chroniken I Araminta-Station I

Der Planet Cadwal ist ein Reservat unter dem Schutz der Naturalistischen Gesellschaft. Es stehen Veränderungen an, tiefgreifende Veränderungen. Die Verwaltung in Araminta-Station ist die Behörde, welche die Vorgaben der Cadwal-Charta umzusetzen hat. Diese Vorgaben sind jedoch im Laufe der Zeit recht lax gehandhabt worden. So drohen nun extreme Maßnahmen, um der Charta wieder gerecht zu werden. Selbstverständlich herrscht demgegenüber heftiger Gegenwind. Dieser kommt von der LFF, der Leben, Frieden und Freiheitpartei, die ihre eigenen Vorstellungen von der Zukunft Cadwals hat. Spielball aller sind die Yips, die Bewohner des Lutwen Atolls und deren Hauptstadt Yipton, die gemäß der Charta zum großen Teil unrechtmäßig dort leben.

Das subtile Meisterwerk über menschliches Handeln, Idealismus und Kalkül. Das alles in dem für Vance typischen impressionistischen Stil, der am besten mit einem Glas Wein vor dem Kamin zu genießen ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum11. Nov. 2023
ISBN9781619474888
Araminta-Station: Die Cadwal Chroniken I
Autor

Jack Vance

Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren. Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht. Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

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    Buchvorschau

    Araminta-Station - Jack Vance

    Jack Vance

    Die Cadwal Chroniken I:

    Araminta-Station

    Edition

    Andreas Irle

    An der Schüttenhöhe 40

    51643 Gummersbach

    2023

    Originaltitel: Araminta Station

    Copyright © 1987 by Jack Vance

    Originalausgabe: Araminta Station – Underwood-Miller: Los Angeles, CA; Columbia, PA 1987

    Deutsche Erstausgabe: Station Araminta – Heyne, München, 1995

    Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Spatterlight Press

    Titelbild: Luc Desmarchelier

    Satz: Andreas Irle

    Übersetzung: Andreas Irle

    Lektorat: Thorsten Grube, Gunther Barnewald

    ISBN 978-1-61947-488-8

    V01 2023-10-22

    spatterlight.de

    Management: John Vance, Koen Vyverman

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    logo_xinxii

    Das Buch

    Die beiden öffneten die Tür und traten hinaus auf die Plattform. Der Himmel flimmerte von den Flügeln von Millionen Schmetterlingen, die aus allen Teilen Deucas’ eintrafen. Das Flattern der Flügel erzeugte ein tiefes, nahezu nicht vernehmbares Summen; die Luft war schwer von einem gehaltvollen süßen Geruch. Sie kamen in Scharen und Schwärmen von markanten Farben: Scharlachrot und Blau, schillernd Grün, Zitronengelb und Schwarz, Purpurn, Lavendelfarben, Weiß und Blau, Lila und Rot. Sie flogen schräg zur Wiese hinab, um herumzuwirbeln und zu kreisen, wobei sie häufig durch einen weiteren Schwarm von anderer Art flatterten und dadurch etwas schufen, was wie zuvor unbekannte Farben von erstaunlich pointillistischer Brillanz wirkte.

    Nachdem sie herumgeschwirrt und gekreist waren, ließ sich jeder der Schwärme in dem Baum nieder, der für seine Art vorgesehen war. Gleichzeitig warfen sie die Flügel ab, ließen es unterhalb des Baums bunt schneien und verliehen der Wiese so ein kurioses schrilles Aussehen.

    Die Schmetterlinge, nun fünf Zentimeter große Larven, gleichmäßig hellgrau, mit sechs starken Beinen und hornigen Mandibeln, liefen den Baumstamm hinab zum Boden und wuselten mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Meer.*

    * Der Lebenszyklus des Schmetterlings ist von beträchtlichem Interesse. Nachdem er die Flügel abgeworfen hat, bricht er zur See auf, doch nicht ohne unterwegs Abenteuer zu bestehen. Zunächst müssen die Larven einen Meter zwanzig hohe Hügel aus verfestigter Erde überwinden, denen Gruppen von Kriegerinsekten entströmen, um die Larven zu packen oder zu töten und mit sich in den Hügel zu nehmen. Die Larven sind weder hilflos noch leicht zu besiegen; mittels Strahlen von Tinte blenden sie zunächst ihre Feinde, dann knipsen sie ihnen die Köpfe ab und laufen weiter. Auf der gesamten Wiese toben wilde Schlachten, während die Horden der ehemaligen Schmetterlinge achtlos vorübermarschieren.

    Sobald sie den Strand erreicht haben und so weit gekommen sind, sehen sie sich, zehn Meter von ihrem Ziel entfernt, einem weiteren Hindernis ausgesetzt: hin und her sausende und herabstechende Vögel. Die Überlebenden dieser Plünderung haben noch eine Gefahr zu überwinden: die Yooten, wuchtige Tiere, eine Mischung aus Mandoril und Ratte (Mandorilkreuzungen sind auf Cadwal weit verbreitet), lethargisch von Veranlagung; sie wandern über den Strand und saugen die Larven mit langen Rüsseln auf. Eine abstoßende Kreatur, halb amphibisch, mit rosa und schwarz gesprenkelter Haut, verströmt der Yoot einen widerwärtigen Geruch wie viele andere Geschöpfe Cadwals auch.

    Die Larven, welche den Kriegerinsekten, den Vögeln und Tieren entkommen sind, zählen immer noch Millionen. Sie stürzen sich in die Brandung, um eine neue Phase ihres bemerkenswerten Lebenszyklus’ zu beginnen.

    Zwischen den Felsen und Riffen nahe dem Ufer ernähren sich die ehemaligen Schmetterlinge von Plankton, verlieren die Beine, bilden einen flexiblen Panzer, fischähnliche Schwanzflossen und werden nicht lange danach tatsächlich zu fünfzehn Zentimeter großen Fischen. Auf ein mysteriöses Zeichen hin schwimmen sie nach Osten, fort von Deucas, um eine Wanderung zu beginnen, die sie um die halbe Welt führt. Schließlich erreichen sie einen Ort südlich von Ecce, wo eine gewaltige Ansammlung von Seetang in einem Wirbel der Meeresströmung gefangen ist. Die ehemaligen Schmetterlinge, nun dreißig Zentimeter lange Fische, pflanzen sich hier fort und legen im Seetang Eier. Nachdem sie ihre Bestimmung erfüllt haben, sterben sie und treiben an die Oberfläche. Der aus den Eiern schlüpfende Krill ernährt sich von den Eltern. Während des Wachstums durchläuft er zehn Häutungen, bis zum Zustand der Verpuppung, danach krabbeln die Geschöpfe hinaus auf den Seetang und trocknen sich die Flügel. Nicht lange danach flattern sie in die Luft und brechen ohne Umstände auf zur Westküste von Deucas.

    Glawen und Sessily nahmen langstielige Netze und Tröge aus dem Flieger, und Glawen, der an Chilkes Bemerkungen dachte, steckte sich die Pistole in den Gürtel.

    Sie fragte rätselnd: »Wozu die Pistole? Es gibt genügend herumliegende Flügel; du musst keine Schmetterlinge schießen.«

    Er erwiderte: »Es ist eines der ersten Dinge, die mich mein Vater gelehrt hat: Gehe nicht einen Meter ohne Waffe in die Wildnis.«

    Der Autor

    Jack Vance (richtiger Name: John Holbrook Vance) wurde am 28. August 1916 in San Francisco geboren. Er war eines der fünf Kinder von Charles Albert und Edith (Hoefler) Vance. Vance wuchs in Kalifornien auf und besuchte dort die University of California in Berkeley, wo er Bergbau, Physik und Journalismus studierte. Während des 2. Weltkriegs befuhr er die See als Matrose der US-Handelsmarine. 1946 heiratete er Norma Ingold; 1961 wurde ihr Sohn John geboren.

    Er arbeitete in vielen Berufen und Aushilfsjobs, bevor er Ende der 1960er Jahre hauptberuflich Schriftsteller wurde. Seine erste Kurzgeschichte, »The World-Thinker« (»Der Welten-Denker«) erschien 1945. Sein erstes Buch, »The Dying Earth« (»Die sterbende Erde«), wurde 1950 veröffentlicht.

    Zu Vances Hobbys gehörten Reisen, Musik und Töpferei – Themen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in seinen Geschichten finden. Seine Autobiografie, »This Is Me, Jack Vance! (»Gestatten, Jack Vance!«), von 2009 war das letzte von ihm geschriebene Buch. Jack Vance starb am 26. Mai 2013 in Oakland.

    Informationen über ihn und sein Werk finden Sie hier:

    www.editionandreasirle.de

    Anmerkungen und Hinweise – zu lesen, falls man dazu geneigt ist:

    Dies sind Auszüge aus der Einleitung zu Die Welten der Menschen von Mitgliedern des Fidelius-Instituts. Sie dienen dazu, die Lücke zwischen jetzt und dann, hier und dort zu überbrücken:

    … In diesem Werk, nun dreißig Jahre in der Vorbereitung, versuchen wir weder, ins erschöpfende Detail noch in die analytische Tiefe zu gehen, sondern vielmehr ein Mosaik aus Millionen Teilen zusammenfügen, welche, so unsere Hoffnung, ein scharf eingestelltes Bild ergeben.

    … Ordnung, Logik, Symmetrie: das sind schöne Worte, doch jeder Anspruch, dass wir unser Material in so strikte Formen gepresst hätten, wäre offensichtliche Augenwischerei. Jede besiedelte Welt ist sui generis und präsentiert dem wissbegierigen Kosmologen eine unverwechselbare Menge an Informationen. All diese Mengen sind untereinander unvermischbar, sodass Bemühungen, sie zu verallgemeinern, zu einem Wirrwarr werden. Uns ist eine einzige Gewissheit gegeben: Kein Ereignis hat zweimal stattgefunden, jeder Fall ist einzigartig.

    … Bei unseren Reisen von einem Ende des Gaeanischen Reiches zum anderen und gelegentlich auch ins Jenseits, haben wir nichts entdeckt, was darauf hindeutet, dass die menschliche Rasse überall und unweigerlich großzügiger, toleranter, gütiger und erleuchteter wird. Überhaupt nichts.

    Auf der anderen Seite, und das ist die gute Nachricht, scheint es auch nicht schlechter zu werden.

    … Engstirnigkeit rührt offenbar von einem ahnungslosen Egoismus her, der sich, sofern in Worte gefasst, so wiedergeben ließe: »Da ich mich entschieden habe, an diesem Ort zu leben, muss dieser somit zwangsläufig in all seinen Aspekten vorzüglich sein.«

    … Dennoch und trotzdem, das bevorzugte Ziel der zum ersten Mal Reisenden ist nahezu immer die Alte Erde. Latent in allen Exilanten vorhanden, so scheint es, ist die Sehnsucht, die ursprüngliche Luft zu atmen, das Wasser zu schmecken, sich den Mutterboden durch die Finger zu kneten.

    Zudem entladen in den Häfen der Erde täglich ankommende Raumschiffe zwei- oder dreihundert Särge jener, die mit dem letzten Atemzug entschieden haben, ihre Substanz wieder dem feuchten braunen Moder der Erde hinzuzufügen.

    … Sobald Menschen auf einer neuen Welt eintreffen, beginnt der Prozess der Wechselwirkung. Die Menschen versuchen, die Welt an ihre Bedürfnisse anzupassen; gleichzeitig wirkt die Welt, weitaus subtiler, um die Menschen zu verändern.

    Auf diese Weise ergibt sich der Kampf Mensch gegen Umwelt. Zuweilen überwinden die Menschen den Widerstand des Planeten. Irdische oder anderweitig fremde Flora wird eingeführt und an das chemische und ökologische Milieu angepasst; schädliche einheimische Pflanzen werden zurückgedrängt, vernichtet oder ausgegrenzt, und die Welt nimmt allmählich das Erscheinungsbild der Alten Erde an.

    Doch mitunter ist der Planet stark und zwingt die Eindringlinge zur Anpassung. Zunächst aus Zweckmäßigkeit, dann aus Gewohnheit und schließlich aus eigenem Bestreben gehorchen die Kolonisten den Diktaten der Umwelt und werden letzten Endes nahezu ununterscheidbar von echten Einheimischen.

    Einleitung

    1. Das Purpurrose-System in Mirceas Strähne

    (Auszüge aus Die Welten der Menschen von Mitgliedern des Fidelius-Instituts.)

    Halbwegs entlang des Perseiden-Arms hat ein willkürlicher Wirbel der galaktischen Gravitation zehntausend Sterne eingefangen und sie in einem Strom mit einer Locke und einem Schnörkel am Ende schräg abbiegen lassen. Das ist Mirceas Strähne.

    An der Seite der Locke, offenbar Gefahr laufend, in die Leere abzuwandern, befindet sich das Purpurrose-System, das drei Sterne umfasst: Lorca, Sing und Syrene. Lorca, ein weißer Zwerg, und Sing, ein roter Riese, schwingen sich dicht beieinander um ihr gemeinsames Gravitationszentrum: Ein beleibter alter Herr von rosigem Gesicht, der mit einem zierlichen kleinen Mädchen in Weiß Walzer tanzt. Syrene, ein gelbweißer Stern von üblicher Größe und Leuchtkraft, umläuft das kreiselnde Paar in diskretem Abstand.

    Syrene beherrscht drei Planeten, einschließlich Cadwal, der einzigen bewohnten Welt des Systems.

    Cadwal ist ein erdähnlicher Planet von elftausend Kilometern Durchmesser und einer Schwerkraft von etwa Erdnorm.

    (Eine Liste und eine Analyse physikalischer Messwerte ist an dieser Stelle nicht berücksichtigt.)

    2. Die Welt Cadwal

    Cadwal wurde zuerst von Rudel Neirmann erforscht, einem Mitglied der Naturalistischen Gesellschaft der Erde. Sein Bericht löste das Aussenden einer Expedition aus, welche nach ihrer Rückkehr zur Erde empfahl, Cadwal auf ewig als Naturreservat vor der Ausbeutung durch den Menschen zu schützten.

    Zu diesem Zweck sicherte sich die Gesellschaft den formellen Titel an Cadwal und erließ einen Beschluss zur Erhaltung: die Charta.

    Die drei Kontinente von Cadwal wurden Ecce, Deucas und Throy genannt*, die sich deutlich voneinander unterschieden.

    * Die ersten drei Kardinalzahlen in der Sprache des antiken Etrurien.

    Ecce, das sich beidseitig des Äquators erstreckte, waberte vor Hitze, Gestank, Farbe und unbändiger Vitalität. Selbst die Vegetation von Ecce nutzte Kampftechniken im Bemühen ums Überleben. Drei Vulkane, zwei davon aktiv, der dritte schlummernd, bildeten die einzigen Erhebungen über einem flachen Gelände aus Dschungel, Sumpf und Morast. Träge Flüsse wanden sich durch die Landschaft und ergossen sich in die See. Die Luft dampfte vor Tausend seltsamen Gerüchen; wilde Geschöpfe jagten einander, brüllten im Triumph oder heulten im Todesschrecken, ganz wie ihre Rolle in diesem Geschehen es vorschrieb. Die ersten Forscher schenkten Ecce nur oberflächliche Aufmerksamkeit, und über die Jahre hinweg folgten andere ihrem allgemeinen Beispiel.

    Deucas, auf der anderen Seite der Welt und viermal so groß wie Ecce, breitete sich in der gemäßigten Zone im Norden aus. Die Fauna, gelegentlich sowohl wild als auch Respekt einflößend, umfasste einige halbintelligente Arten; die Flora ähnelte in vielen Fällen jener der Erde – so sehr, dass die ersten Agronomen in der Lage waren, irdische Nutzpflanzen wie Bambus, Kokospalmen, Weintrauben und Obstbäume, ohne Furcht vor einem ökologischen Desaster, einzuführen. *

    * Die biologischen Techniken, neue Arten in fremde Umgebungen einzuführen, ohne das einheimische Milieu zu gefährden, sind längst perfektioniert worden.

    Throy, südlich von Deucas, erstreckte sich von unterhalb des Polareises bis tief in die gemäßigte Zone des Südens. Throy war ein Land von dramatischer Topografie. Klippen lehnten sich über Schluchten; das Meer prallte gegen die Steilküsten; der Wind fuhr röhrend durch die Wälder.

    Überall sonst waren Ozeane: große verlassene Ausdehnungen von tiefem Wasser, ohne Inseln, bis auf einige wenige unbedeutende Ausnahmen: Lutwen Atoll, Thurben Eiland und Ozean Eiland vor der Ostküste von Deucas und ein paar Felsinselchen vor Kap Journal im fernen Süden.

    3. Araminta-Station

    In Araminta-Station, einer zweihundertfünfzig Quadratkilometer großen Enklave an der Ostküste von Deucas, errichtete die Gesellschaft eine Verwaltungsstelle, um den Bestimmungen der Charta Geltung zu verschaffen. Es wurden sechs Ämter eingerichtet, welche die notwendige Arbeit erledigen sollten:

    Amt A: Aufzeichnungen und Statistiken

    Amt B: Patrouillen und Überwachungen: Polizei und Sicherheitsdienst

    Amt C: Taxonomie, Kartographie, Naturwissenschaften

    Amt D: Häusliche Dienste

    Amt E: Finanzwesen: Exporte und Importe

    Amt F: Besucherunterkünfte

    Die ursprünglichen Vorsteher waren Deamus Wook, Shirry Clattuc, Saul Diffin, Claude Offaw, Marvell Veder und Condit Laverty. Jedem wurde eine Belegschaft von vierzig Personen gewährt. Eine Tendenz, diese Mitarbeiterschaft aus der Familie und Gildenverwandtschaften zu rekrutieren, führte zu einem Zusammenhalt der ersten Verwaltung, zu der es ansonsten nicht gekommen wäre.

    Sechs vorübergehende Schlafsäle, jeder in Verbindung mit einem Amt, beherbergten das Verwaltungspersonal. Sobald die Finanzmittel zur Verfügung standen, wurden sechs schöne Residenzen gebaut, von denen jede die anderen in Grandeur und Fülle der Einrichtung zu übertreffen suchte; sie wurden bekannt als Wook-Haus, Clattuc-Haus, Veder-Haus, Diffin-Haus, Laverty-Haus und Offaw-Haus.

    Jahrhunderte vergingen; die Arbeit wurde für keines der sechs Häuser weniger. Jedes wurde kontinuierlich vergrößert, umgebaut und mit geschnitztem und poliertem Holz, Fliesen und Täfelungen aus halbedlen Steinen und von der Erde, Alphanor oder Mossambey importierten Einrichtungsgegenständen im Detail verfeinert. Die hohen Damen eines jeden Hauses waren fest entschlossen, dass ihr eigenes Haus alle anderen in Stil und palastartigem Luxus übertreffen sollte.

    Jedes Haus entwickelte seine eigene unverwechselbare Persönlichkeit, welche von den Bewohnern geteilt wurde, sodass sich die weisen Wooks von den frivolen Diffins so sehr unterschieden wie die vorsichtigen Offaws von den unbekümmerten Clattucs. Desgleichen verachteten die unerschütterlichen Veders die emotionalen Exzesse der Lavertys.

    Im Flussblick-Haus am Leur, eineinhalb Kilometer südlich von der Verwaltungsstelle, wohnte der Konservator, der Oberpfleger von Araminta-Station. Kraft Charta war er ein aktives Mitglied der Naturalistischen Gesellschaft, ein Einwohner Stromas, der kleinen Naturalisten-Niederlassung in Throy.

    Araminta-Station legte sich schon früh ein Hotel zu, um seine Besucher unterzubringen, einen Flughafen, ein Krankenhaus, Schulen und ein Theater: das »Orpheum«. Damit die Versorgung mit Devisen sichergestellt wurde, fingen Weingüter an, gute Tropfen für den Export zu produzieren, und Touristen wurden ermutigt, eine oder alle von einem Dutzend Wildhütten zu besuchen, die an besonderen Orten errichtet worden waren und umsichtig geleitet wurden, um Beeinträchtigungen der Umwelt zu vermeiden.

    Mit den neuen Annehmlichkeiten gingen Grundsatzprobleme einher. Wie konnten so viele Unternehmungen mit einer Belegschaft von zweihundertvierzig Personen betrieben werden? Eine Anpassung war notwendig, und »Kollaterale« in der Erscheinung von »Zeitarbeitskräften« begannen, in vielen leitenden Funktionen in den Dienst zu treten.

    Die »Kollateralen« bildeten eine Klasse, die nahezu unbemerkt entstanden war. Eine Person, die in eines der Häuser hineingeboren wurde, welcher jedoch aufgrund der zahlenmäßigen Begrenzung der volle »Amtsstatus« verwehrt werden musste, wurde zu einer »Kollateralen« mit geringerem Status. Viele Kollaterale wanderten aus; andere fanden ihnen mehr oder weniger zusagende Beschäftigungen in der Station.

    Die Charta nahm Kinder, Personen im Ruhestand, Hausbedienstete und »Zeitarbeitskräfte ohne ständigen Wohnsitz« von der Zählung aus. Der Begriff »Zeitarbeitskräfte« wurde ausgedehnt, sodass Landarbeiter, Hotelangestellte, Flughafenmechaniker – eigentlich Arbeitende jeglicher Beschreibung –, inbegriffen waren, und der Konservator drückte ein Auge zu, solange den Arbeitskräften kein ständiger Wohnsitz gewährt wurde.

    Eine Quelle kostengünstiger, reichlicher und gefügiger Arbeitskräfte, praktischerweise in der Nähe, wurde benötigt. Wer konnte geeigneter sein als die Bewohner des Lutwen Atolls, fünfhundert Kilometer nordöstlich von Araminta-Station? Dabei handelte es sich um die Yips, Nachkommen davongelaufener Bediensteter, illegaler Einwanderer und anderer.

    Auf diese Art und Weise wurden die Yips Teil des Alltags von Araminta-Station. Sie wohnten in Schlafsälen in der Nähe des Flughafens und erhielten Arbeitserlaubnisse von nur sechs Monaten Dauer. Soweit waren die strengen Naturschützer bereit, sich zu beugen, doch nicht weiter; jedes Zugeständnis darüber hinaus, so argumentierten sie, würde die Anwesenheit der Yips formalisieren und allmählich zu Yip-Niederlassungen auf dem Kontinent Deucas führen, was nicht zu dulden sei.

    Mit der Zeit stieg die Bevölkerung von Lutwen Atoll auf eine unvernünftige Zahl an. Der Konservator benachrichtigte das Hauptquartier der Naturalistischen Gesellschaft auf der Erde und drängte darauf, drastische Maßnahmen zu ergreifen, doch die Gesellschaft durchlebte gerade harten Zeiten und bot keine Hilfe.

    Yipton wurde zur eigenständigen Touristenattraktion. Fähren von Araminta-Station brachten Touristen zum Arkadyhof: einem vollkommen aus Bambuspfählen und Palmwedeln erbauten Gebäude. Auf der Terrasse servierten schöne Yipmädchen Rumpunsch, Gin Sling, Sundowner, Trelawny-Spritzer, Malzbier und Kokoswein, wobei alle Mixgetränke in Yipton gebraut oder destilliert wurden. Andere, intimere Dienstleistungen standen ohne Weiteres im Pussycat-Palast zur Verfügung, der überall in Mirceas Strähne und darüber hinaus wegen der vielseitigen Bediensteten berühmt war – doch nichts war umsonst. Bat in Yipton nach dem Essen jemand um einen Zahnstocher, fand er diesen als Posten auf der Rechnung wieder.

    Der Reiseverkehr nahm sogar noch mehr zu, als der Oomp­haw (so der Titel des Yip-Oberhauptes) eine Reihe erstaunlicher neuer Unterhaltungen einführte.

    4. Stroma

    Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Charta war mit endgültigerer Wirkung gelöst worden. Während der ersten Jahre waren die Mitglieder der Gesellschaft, welche Cadwal besuchten, im Flussblick-Haus untergebracht worden. Letztlich begehrte der Konservator auf und lehnte es ab, sich um das ständige Kommen und Gehen zu kümmern. Er schlug vor, eine zweite kleine Enklave, fünfzig Kilometer südlich, einzurichten, mit Gästehäusern, die für die Nutzung von auf Besuch anwesenden Naturalisten reserviert waren. Der Plan stieß, als er auf der jährlichen Versammlung der Gesellschaft (auf der Erde) vorgestellt wurde, auf gemischte Reaktionen. Strenge Naturschützer klagten, dass die Charta durch einen Kniff nach dem anderen ausgehöhlt werde. Andere hielten dem entgegen: »Schön und gut, doch sollen wir, wenn wir nach Cadwal kommen, entweder, um Forschungen anzustellen oder um Freude aus den Landschaften zu schöpfen, in einem Zelt wohnen?«

    Die Versammlung verabschiedete einen Kompromissplan, der niemandem gefiel. Eine neue Niederlassung wurde genehmigt, aber nur unter der Bedingung, sie an der besonderen Örtlichkeit zu errichten, die den Stroma-Fjord in Throy überblickte. Dies war ein Standort, welcher auf nahezu skurrile Art und Weise unpassend war, was offensichtlich dazu dienen sollte, die Befürworter des Plans zu entmutigen, Klage zu erheben.

    Die Herausforderung wurde allerdings angenommen. Stroma wurde errichtet: eine Stadt hoher schmaler Häuser, streng und malerisch, schwarz oder dunkelumbra, mit Tür- und Fenstereinfassungen in Weiß, Blau und Rot. Die Häuser waren auf acht Ebenen mit majestätischen Aussichten hinab auf den Stroma-Fjord gebaut.

    Auf der Erde wurde die Naturalistische Gesellschaft Opfer einer schwachen Führung und einer allgemeinen Ziellosigkeit. Bei einer letzten Versammlung wurden die Aufzeichnungen und Dokumente an die Archivbibliothek abgetreten, und der Vorsitz führende Direktor schlug den Gong der Vertagung zum letzten Mal.

    Auf Cadwal nahmen die Leute von Stroma offiziell keine Notiz von diesem Ereignis, obwohl das einzige Einkommen Stromas nun von den privaten Außerweltinvestitionen stammte, wie es mehr oder weniger seit vielen Jahren bereits der Fall gewesen war. Das Jungvolk reiste immer häufiger ab, um sein Glück anderswo zu suchen. Einige wurden nicht mehr gesehen; andere hatten Erfolg und kehrten mit Zuströmen neuer Einkünfte zurück. Auf die ein oder andere Weise überdauerte Stroma und erfreute sich sogar einer bescheidenen Blütezeit.

    5. Glawen Clattuc

    Etwas mehr als neunhundert Jahre waren vergangen, seit Rudel Neirmann das erste Mal auf Cadwal gelandet war. In Araminta-Station ging der Sommer in den Herbst über, und Glawen Clattucs sechzehnter Geburtstag stand bevor, der den Übergang von der »Kindheit« zum »vorläufigen Personal« formell besiegelte. Bei dieser Gelegenheit würde er seinen offiziellen »Statusindex«, oder »SI« erfahren: eine Zahl, welche von einem Computer berechnet wurde, nachdem dieser Massen an genealogischen Daten verarbeitet hatte.

    Die Zahl überraschte nur selten jemanden, zuletzt jene Person, die am unmittelbarsten davon betroffen war; sie hatte sie sich längst schon an den Fingern abgezählt und Prognosen angestellt.

    Da die Bewohnerzahl jeden Hauses auf vierzig Personen festgelegt war, zur Hälfte männlich, zur Hälfte weiblich, war jeder SI von »20« oder darunter vorzüglich, von »21« oder »22« gut, »23« oder »24« in Ordnung; alles darüber war nicht eindeutig und hing von den Bedingungen im Haus ab. Eine Zahl jenseits der »26« war entmutigend und gab Anlass zu schwermütigen Spekulationen in Bezug auf die Zukunft.

    Glawens Platz auf der genealogischen Karte war nicht erhaben. Seine Mutter, nun tot, war außerwelt geboren; sein Vater Scharde, ein Beamter von Amt B, war der dritte Sohn eines zweiten Sohns. Glawen, ein besonnener und realistischer Jugendlicher, hoffte auf »24«, was ihm immer noch eine Chance auf den »Amtsstatus« bot.

    6. Wochentage

    Eine letzte Bemerkung in Hinsicht auf die Wochentage. Auf Cadwal und allgemein im Gaeanischen Reich war die traditionelle Siebentagewoche die Norm geblieben. Indem eine Nomenklatur Verwendung fand, die auf dem sogenannten »Metallverzeichnis« basierte, wurden die Ohren schindende Inkongruenz gegenwärtiger Entsprechungen (das heißt »Montag«, »Dienstag«, etc.) vermieden.

    Linguistische Anmerkung: Ursprünglich war jedem Begriff der Nenner »Ain« vorangestellt (wörtlich: »dieser Tag des …«), sodass der erste Arbeitstag der Woche »Ain-Ort« war oder »dieser Tag des Eisens«. Während die Wurzelsprache veraltete und verdrängt wurde, ging das »Ain« verloren, und die Tage wurden einfach mit dem Metallnamen allein benannt.

    Die Wochentage:

    (Ain)-Ort – Eisen

    Tzein – Zink

    Ing – Blei

    Glimmet – Zinn

    Verd – Kupfer

    Milden – Silber

    Smollen – Gold

    Kapitel I

    1

    Glawen Clattucs sechzehnter Geburtstag war Anlass für eine bescheidene Feier, die in Hausvorsteher Fratanos formellem Gruß und der Verkündung von Glawens »SI«, oder »Statusindex«, gipfeln würde – einer Zahl, welche im großen Ganzen die Richtung von Glawens Zukunft bestimmen würde.

    Aus Gründen der Bequemlichkeit und Wirtschaftlichkeit würde die Feier mit der allwöchentlichen »Tischgemeinschaft« zusammenfallen, an der alle hausinternen Clattucs teilnehmen mussten und bei der weder Alter noch Unpässlichkeit als Entschuldigung für ein Fernbleiben akzeptiert wurden.

    Der Morgen vor der Festlichkeit verlief ruhig. Glawens Vater Scharde überreichte seinem Sohn zwei Schulterklappen in Silber und Türkis, wie sie von Herren an den höchst exklusiven Erholungsorten des Gaeanischen Reichs getragen wurden, sofern man den Modezeitschriften Glauben schenken durfte.

    Scharde und Glawen nahmen das Frühstück wie üblich in ihren Gemächern ein. Sie wohnten allein; Glawens Mutter Marya war bei einem Unfall drei Jahre nach seiner Geburt ums Leben gekommen. Er erinnerte sich dunkel an eine liebevolle Präsenz und spürte ein unterschwelliges Geheimnis, doch sein Vater wollte nicht über das Thema reden.

    Die nackten Tatsachen waren simpel. Scharde war Marya begegnet, als sie mit ihren Eltern Araminta-Station besucht hatte. Er hatte die Gruppe auf der Runde zu den Wildhütten begleitet und Marya später in Sarsenopolis auf Alphecca Neun besucht. Dort hatten die beiden geheiratet und waren kurz darauf nach Araminta-Station zurückgekehrt.

    Die Außerwelt-Heirat hatte Clattuc-Haus überrascht und ein unerwartetes Furore hervorgerufen, angestiftet von einer gewissen Spanchetta, Großnichte des Hausvorstehers Fratano. Sie war bereits mit dem sanften und geduldigen Millis verheiratet gewesen und hatte einen Sohn namens Arles hervorgebracht; nichtsdestotrotz hatte sie seit Langem bereits schamlos und vergebens Scharde für sich selbst ins Auge gefasst.

    Spanchetta war zu jener Zeit eine junge Frau mit feurigen Augen, drall und groß, mit einer stürmischen Verve und einer großen, ungebärdigen Masse dunkler Locken, die gewöhnlich in einem zylinderförmigen Wust auf ihrem Kopf lagen. Um ihre Wut zu rechtfertigen, griff sie die Probleme ihrer Schwester Simonetta auf: »Smonny«.

    Wie Spanchetta war auch Smonny groß und stämmig, besaß ein rundes Gesicht, rundliche Schultern und grobe, klamme Gesichtszüge. Hatte Spanchetta dunkle Haare und dunkle Augen, nannte Smonny toffeefarbenes Haar und golden-haselnussbraune Augen ihr eigen. Häufig wurde ihr scherzhaft versichert, dass sie mit gelber Haut gut und gern als Yip* durchgehen könne, was sie immer wieder aufs Neue ärgerte.

    * Geschlechtsverkehr zwischen Yips und gewöhnlichen Gaeanern bringt keine Nachkommen hervor; Yips sind offenbar eine Unterart des Menschen im Prozess der Differenzierung: zumindest wird dies vermutet.

    Yips, sowohl Männer als auch Frauen, waren körperlich attraktiv; tatsächlich war die Schönheit der Yipmädchen sprichwörtlich.

    Um ihre Absichten zu verwirklichen, war Smonny zielbewusst, aber faul. Wo Spanchetta beliebte, zu toben und zu tyrannisieren, setzte Smonny Schmeichelei oder brummige Beharrlichkeit ein, welche die Geduld ihres Widersachers unterhöhlte und sie schließlich in Luft auflöste. Ihrer Trägheit wegen fiel sie durch die Kurse am Lyceum, und so wurde ihr der Amtsstatus verwehrt. Spanchetta gab die Schuld dafür sofort Scharde, denn er hatte Marya ins Haus geholt und Smonny damit »herausgekegelt«.

    »Das ist doch absurd und unlogisch«, wurde ihr von keinem Geringeren als Fratano, dem Hausvorsteher, entgegengehalten.

    »Ganz und gar nicht!«, verkündete Spanchetta mit funkelnden Augen und wogendem Busen. Sie tat einen Schritt nach vorn, und Fratano wich einen zurück. »Die Sorge hat Smonnys Konzentration vollkommen zunichtegemacht! Es hat sie ganz krank gemacht!«

    »Dennoch, das ist nicht Schardes Schuld. Du hast genau das gleiche getan, als du Millis geheiratet hast. Er war auch kein Hausmitglied – ein Laverty-Kollateraler, wie ich mich entsinne.«

    Spanchetta konnte nur grollen: »Das ist etwas anderes. Millis ist von unserer Sorte, kein kleiner Eindringling von Gott weiß woher!«

    Fratano wandte sich ab. »Ich kann nicht noch mehr von meiner Zeit mit diesem Unsinn verschwenden.«

    Spanchetta stieß ein bitteres Kichern aus. »Das Opfer ist ja auch nicht deine Schwester, es ist meine! Wieso sollte es dir etwas ausmachen? Deine Position ist sicher! Und was deine Zeit betrifft: Du bist doch nur darauf aus, zu deinem Nachmittagsschlaf zu kommen. Aber den wird es heute nicht geben. Smonny kommt, um mit dir zu reden.«

    Fratano, nicht der Verstockteste, seufzte tief. »Ich kann im Augenblick nicht mit Smonny reden. Ich werde eine besondere Ausnahme machen. Sie kann noch einen Monat zum Lernen haben und die Prüfung erneut ablegen; etwas Besseres ist nicht möglich. Sollte sie durchfallen, ist sie draußen!«

    Das Zugeständnis gefiel Smonny überhaupt nicht. Sie setzte zu einem heulenden Klagen an. »Wie soll ich Stoff aus fünf Jahren in einem Monat schaffen?«

    »Du musst dein Bestes geben«, schnappte Spanchetta. »Ich schätze, die Prüfung wird nur eine Formsache sein; Fratano hat etwas in der Art angedeutet. Trotzdem, mit nichts kommst du nicht durch! Also musst du sofort mit dem Lernen anfangen.«

    Smonny unternahm lediglich einen oberflächlichen Versuch, den Stoff zu begreifen, den sie so lange ignoriert hatte. Zu ihrer Bestürzung war die Prüfung von der üblichen Art und nicht nur ein Vorwand, um ihr den Abschluss zu ermöglichen. Ihr Ergebnis war sogar noch schlechter als zuvor, und nun gab es keine Hilfe mehr: Sie war draußen.

    Die Delogierung aus Clattuc-Haus war ein langer und zänkischer Prozess, der seinen Höhepunkt bei der Tischgemeinschaft erreichte, als Smonny ihre Abschiedsbemerkungen machte, die von sarkastischen Spötteleien über die Offenbarung schimpflicher Geheimnisse bis zu einem hysterischen Schreianfall ausuferten.

    Fratano rief schließlich die Bediensteten, um sie mit Gewalt zu entfernen; Smonny sprang auf den Tisch und rannte hin und her, verfolgt von den vier verwirrten Bediensteten, welche sie schließlich ergriffen und fortzerrten.

    Smonny begab sich außerwelt nach Soum, wo sie kurz in einer Sardinen-Konservenfabrik arbeitete; danach schloss sie sich, Spanchetta zufolge, einer asketischen religiösen Gruppe an und verschwand anschließend, niemand weiß, wohin.

    Nicht lange danach gebar Marya Glawen. Drei Jahre später ertrank sie in der Lagune, während zwei Yips in keiner großen Entfernung am Ufer standen. Als sie gefragt wurden, weshalb sie ihr nicht zur Hilfe gekommen seien, sagte einer: »Wir haben nichts gesehen.« Der andere gab an: »Es war nicht unsere Angelegenheit.« Beide wurden, verdutzt und verständnislos, auf der Stelle zurück nach Yipton geschickt.

    Sein Vater sprach nie über den Vorfall, und Glawen stellte keine Fragen. Scharde ließ keine Anzeichen erkennen, wieder zu heiraten, auch wenn die Damenwelt ihn für ausgesprochen sympathisch hielt. Er war ruhig und sprach leise, besaß eine durchschnittliche Statur, war schlank und stark, hatte drahtige kurze Haare, die vorzeitig ergraut waren, und schmale himmelblaue Augen, welche aus einem knochigen, wettergegerbten Gesicht heraus glänzten.

    Am Morgen von Glawens Geburtstag hatten die beiden kaum gefrühstückt, als Scharde zu einer Spezialaufgabe ins Amt B gerufen wurde. Glawen, der nichts Besseres zu tun hatte, blieb am Tisch sitzen, während die beiden Yip-Bediensteten, welche das Frühstück serviert hatten, die Teller abräumten und den Raum in Ordnung brachten. Glawen beobachtete sie und fragte sich, was hinter den halb lächelnden Gesichtern vorging. Die raschen Blicke von der Seite: Was hatten sie zu bedeuten? Spott und Verachtung? Einfach nur Neugierde? Oder überhaupt nichts? Er konnte es nicht bestimmen, und das Yip-Betragen gab keinen Aufschluss darüber. Es wäre interessant, dachte er, die schnelle, zischende Mundart der Yips zu verstehen.

    Schließlich erhob sich Glawen vom Tisch. Er verließ Clattuc-Haus und wanderte hinunter zur Lagune: eine Reihe überfließender Teiche, die vom Fluss Wann gespeist wurden, mit Bäumen entlang des Ufers, sowohl einheimische als auch importierte* – Schwarzer Bambus, Trauerweiden, Pappeln, Purpurgrüne Vergeen. Der Morgen war frisch und sonnig; der Herbst lag in der Luft; in einigen Wochen würde Glawen mit dem Lyceum beginnen.

    * Eine große Anzahl von auf der Erde heimischen Pflanzen und Bäumen ist eingeführt worden, um die bereits vielfältige Flora von Cadwal noch zu bereichern. Jedenfalls haben die Biologen die Pflanzen an die Umwelt angepasst und ausgeklügelte genetische Sicherheitsmaßnahmen getroffen, um einer ökologischen Katastrophe vorzubeugen.

    Er erreichte das Clattuc-Bootshaus: ein rechteckiges Gebäude mit gewölbtem Dach aus grünem und blauem Glas, das von Säulen aus schwarzem Eisen getragen wurde, gebaut, um die anderen fünf Bootshäuser an Eleganz zu übertreffen.

    Die Clattucs jener Zeit waren, mit Ausnahme möglicherweise von Scharde und Glawen, keine begeisterten Segler. Das Bootshaus beherbergte zwei Stechkähne, eine breite kleine Schaluppe mit einer Länge von siebeneinhalb Metern und eine Fünfzehn-Meter-Ketsch für ausgedehntere Hochseetörns.*

    * Da Inseln in den Meeren Cadwals nahezu nicht vorhanden sind, liegt die grundsätzliche Entmutigung, in See zu stechen, im Mangel an gefälligen Zielen. Passionierte Yachtleute segeln gen Süden nach Stroma in Throy, umsegeln Deucas oder sogar Cadwal selbst: in letzterem Fall, ohne woanders anzulanden als an der gefährlichen Küste von Ecce.

    Das Bootshaus war einer von Glawens liebsten Rückzugsorten, wo er nahezu immer für sich allein war, was er an diesem Tag mehr wollte als alles andere, um sich für die Feuerprobe der Tischgemeinschaft und seine Geburtstagsfeier zu rüsten.

    Solche Angelegenheiten waren wenig mehr als Formalitäten, hatte ihm Scharde versichert. Von Glawen würde nicht verlangt werden, eine Rede zu halten oder sich auf irgendeine andere Art und Weise in Verlegenheit zu bringen. »Du isst lediglich mit deiner Sippe zu Abend. Zum größten Teil ist es eine leidige Gruppe, dessen bist du dir wohl bewusst. Nach dem ein oder anderen Augenblick werden sie dich nicht mehr beachten und sich mit ihrem Klatsch und ihren kleinen Intrigen beschäftigen. Schließlich wird dich Fratano zu einem Vorläufigen erklären und deinen SI verkünden, der, wie ich schätze, ziemlich sicher bei 24 oder schlimmstenfalls bei 25 liegen wird, was immer noch nicht schlecht ist, bedenkt man die knirschenden Gelenke und grauen Haare derjenigen, die am Tisch sitzen.«

    »Und das ist alles?«

    »Mehr oder weniger. Falls jemand sich genötigt sieht, mit dir zu reden, reagiere freundlich, aber ansonsten kannst du in Ruhe essen, und niemand wird es bemerken.«

    Glawen setzte sich auf eine Bank, von wo aus er die Lagune überblicken konnte, und beobachtete das Spiel des Sonnenlichts und des Schattens auf dem Wasser. Er sagte sich: »Vielleicht wird es letzten Endes gar nicht so schlimm. Dennoch, ich wäre erleichtert, wenn sich der SI als einen oder zwei Punkte tiefer herausstellt als ich befürchte.«

    Das Scharren von Schritten unterbrach seine Gedanken. Eine voluminöse Gestalt erschien am Ende des Kais. Glawen seufzte. Da kam die Person, welche er am wenigsten sehen wollte: Arles, zwei Jahre älter als er, einen Kopf größer und um fünfzig Pfund schwerer. Er besaß ein großes und flaches Gesicht mit einer Stupsnase und einen Mund mit vollen, wulstigen Lippen. Eine schicke Kappe mit modisch schräg abstehendem Schirm hielt die schwarzen Locken im Zaum.

    Mit einem Alter von achtzehn Jahren und einem SI von 16, aufgrund seiner direkten Abstammung von Spanchetta und Valart, ihrem Vater, zu dem ehemaligen Vorsteher Damian, welcher der Vater des gegenwärtigen Vorstehers Fratano* war, konnte Arles nur ein ernsthaftes Vergehen oder ein Versagen am Lyceum Schwierigkeiten bereiten.

    * Genealogische Details und SI muss man sich nicht merken. Sie werden so wenig erwähnt wie nur möglich.

    Als er aus dem Sonnenlicht in das kühle Halbdunkel trat, blieb er blinzelnd stehen. Glawen hob rasch einen Schleifstein auf, sprang an Bord der Schaluppe und machte sich am Heckgeländer zu schaffen. Er hockte sich hin; möglicherweise übersah Arles ihn.

    Dieser schlenderte mit den Händen in den Taschen langsam über den Steg und spähte nach links und rechts. Schließlich bemerkte er Glawen. Er blieb stehen und starrte, verblüfft über dessen Aktivität. Er bummelte näher. »Was machst du da?«

    Glawen entgegnete monoton: »Ich schmirgele das Boot ab, als Vorbereitung für die Lackierung.«

    »Das habe ich mir gedacht«, meinte Arles kalt. »Immerhin sind meine Augen in sehr gutem Zustand.«

    »Dann steh nicht einfach nur herum; mach dich an die Arbeit. Ein weiterer Schleifklotz ist im Spind.«

    Arles stieß schnaubend ein verächtliches Lachen aus. »Meinst du das ernst? Das ist Arbeit für die Yips!«

    »Weshalb haben sie sie dann noch nicht erledigt?«

    Arles zuckte mit den Achseln. »Beklag dich bei Namour; er wird sie schon zurechtrücken. Aber lass mich aus dem Spiel; ich habe Besseres zu tun.«

    Glawen fuhr mit gelassener Konzentration mit der Arbeit fort, was Arles schließlich ärgerte.

    »Manchmal, Glawen, finde ich dich absolut unvorhersehbar. Hast du nicht etwas vergessen?«

    Der Angesprochen hielt inne und starrte verträumt hinaus über das Wasser. »Mir fällt nichts ein. Sofern ich es vergessen habe, ist das natürlich nur folgerichtig.«

    »Bah! Noch mehr von deinem ausgelassenen Gerede! Heute ist dein Geburtstag! Du solltest oben in deinen Räumlichkeiten sein und dich vorbereiten – das heißt, falls du eine gute Figur abgeben willst. Hast du weiße Schuhe? Falls nicht, solltest du dir schleunigst welche besorgen. Ich sage dir das aus Nettigkeit, mehr nicht.«

    Glawen warf Arles einen raschen Seitenblick zu, dann widmete er sich wieder der Arbeit. »Würde ich barfuß zum Essen kommen, niemand würde es bemerken.«

    »Hah! Da irrst du dich aber gewaltig! Unterschätze niemals gutes Schuhwerk! Das ist das Erste, worauf die Mädchen schauen!«

    »Hm … Das ist etwas, was ich noch nicht wusste.«

    »Du wirst sehen, dass ich recht habe. Mädchen sind clevere kleine Wesen; sie können einen Kerl im Nullkommanichts abschätzen! Falls deine Nase läuft, der Hosenstall offen ist oder deine Schuhe nicht flott sind, erzählen sie sich das untereinander: ›Dem Rübenkopf würde ich nicht mal die Uhrzeit sagen!‹«

    »Das sind wertvolle Hinweise«, meinte Glawen. »Ich werde sie mir merken!«

    Arles runzelte die Stirn. Man konnte nie sicher sein, wie man Glawens Bemerkungen zu interpretieren hatte; häufig grenzten sie ans Bissige. Im Augenblick wirkte er ernst und respektvoll, was so war, wie es sein sollte. Beruhigt ging Arles weiter, noch erhabener als zuvor. »Vielleicht sollte ich es nicht erwähnen, aber ich habe mir die Mühe gemacht, ein Handbuch von narrensicheren Methoden auszuarbeiten, wie man mit den Mädchen auskommt, falls du verstehst, was ich meine.« Er blinzelte Glawen lüstern zu. »Es basiert auf weiblicher Psychologie und wirkt wie Magie, jedes Mal!«

    »Erstaunlich! Und wie funktioniert es?«

    »Die Einzelheiten sind geheim. In der Praxis muss man nur die Signale erkennen, die der Instinkt den kleinen Schätzen aufzwingt, und dann die in meinem Handbuch empfohlene Reaktion zeigen und so weiter.«

    »Ist das Handbuch allgemein verfügbar?«

    »Definitiv nicht! Es ist absolut geheim, nur für den Gebrauch der Mutigen Löwen.« Die Mutigen Löwen waren sechs der verwegendsten Tunichtgute von Araminta-Station. »Falls den Mädchen ein Exemplar in die Hände fiele, wüssten sie genau, was vorgeht.«

    »Sie wissen bereits, was vorgeht; sie brauchen dein Buch gar nicht.«

    Arles blies die Wangen auf. »Das ist oft so, in nämlichen Fall das Handbuch überraschende Strategien empfiehlt.«

    Glawen erhob sich. »Ich schätze, ich muss mir meine eigenen Methoden erarbeiten – obwohl ich bezweifle, dass ich sie bei der Tischgemeinschaft brauchen werde. Vor allem, weil gar keine Mädchen dabei sein werden.«

    »Du machst Scherze. Was ist mit Fram und Pally?«

    »Sie sind zu alt für mich.«

    »Aber für mich nicht! Ich nehme sie wie sie kommen, jung oder alt! Du solltest dich den Mimen anschließen! Dieses Jahr sind einige echte Granaten bei der Truppe: Sessily Veder zum Beispiel.«

    »Ich habe keinerlei Talente in dieser Hinsicht.«

    »Das ist doch keine Kunst! Meister Floreste holt das Beste aus dir heraus; Kirdy Wook hat keine Spur von Talent; tatsächlich ist er so etwas wie ein Trottel. Ein Musterknabe, sozusagen. In Evolution der Götter spielen er und ich Urgeschöpfe. In Vor-Feuer bin ich ein Wesen aus Lehm und Wasser und werde vom Blitz getroffen. Ich wechsle wieder das Kostüm, und Kirdy und ich spielen erneut haarige Bestien, die nach Erleuchtung ächzen. Doch die Flamme wird von Ling Diffin gestohlen, der ›Prometheus‹ ist. Sessily Veder spielt den ›Vogel der Inspiration‹, und mich hat sie inspiriert, mein Handbuch zu schreiben. Selbst dieser Langweiler Kirdy lechzt danach, sie anzusehen.«

    Glawen wandte sich wieder dem Geländer zu. Sessily Veder, die er entfernt kannte, war ein Mädchen von Charme und Lebendigkeit. »Hast du das Handbuch an Sessily ausprobiert?«

    »Dazu hat sie mir bisher keine Gelegenheit gegeben. Das ist die einzige Schwachstelle in meinem System.«

    »Schade … Tja, ich muss jetzt mit dem Schmirgeln weitermachen.«

    Arles ließ sich auf einer Bank nieder, um ihm zuzusehen. Nach einem Augenblick befand er: »Ich schätze, du findest das eine gute Art und Weise, um deine Nerven zu beruhigen.«

    »Weshalb sollte ich nervös sein? Irgendwo muss ich ja essen.«

    Arles grinste. »Du machst die Angelegenheit nicht besser, indem du dich versteckst und hier im Bootshaus Trübsal bläst. Der SI ist bereits errechnet, und es gibt nichts, was du daran ändern kannst.«

    Glawen lachte nur. »Falls es etwas gäbe, würde ich es tun.«

    Arles’ Grinsen verblasste. Gab es denn nichts, was scharf genug war, um die unerschütterliche Ruhe Glawens zu durchdringen? Selbst seine Mutter Spanchetta hatte Glawen als das abscheulichste Kind ihrer Erfahrung bezeichnet.

    Arles sprach in wichtigem Ton: »Vielleicht bist du weise! Erfreu dich an deinem inneren Frieden, solange du kannst, denn von heute an wirst du ein Vorläufiger sein mit den Fünf-Jahres-Sorgen im Nacken.«

    Der Angesprochene warf Arles einen der sardonischen Seitenblicke zu, welche dieser so ärgerlich fand. »Und diese Sorgen beunruhigen dich?«

    »Nicht mich! Ich habe 16. Ich kann es mir leisten, mich zu entspannen.«

    »Genau wie deine Tante Smonny. Wie sind deine Noten am Lyceum?«

    Arles blickte finster drein. »Lassen wir mich aus der Unterhaltung heraus, ja? Sobald meine Noten der Aufmerksamkeit bedürfen, kann ich mich leicht darum kümmern.«

    »Wenn du es sagst.«

    »Das sage ich in der Tat. Zu der Sache, über die wir gesprochen haben – und ich meine nicht meine Noten –, ich weiß erheblich mehr, als du möglicherweise erwarten magst.« Arles blickte hinauf zu der blauen und grünen Glaskuppel. »Tatsächlich – ich sollte es dir eigentlich nicht sagen – bin ich privat über deinen SI in Kenntnis gesetzt worden. Es tut mir leid zu sagen, dass er nicht ermutigend ist. Ich sage es dir nur, damit du beim Essen nicht davon überrascht wirst.«

    Glawen warf Arles einen weiteren schnellen Seitenblick zu. »Niemand kennt den SI, außer Fratano, und er würde es dir nicht sagen.«

    Arles lachte wissend. »Merk dir meine Worte! Deine Zahl ist dicht an den 30ern. Ich werde sie dir nicht genau nennen, aber soll ich dir gegenüber andeuten, dass sie irgendwo zwischen 29 und 31 liegen wird?«

    Endlich war Glawens Gemütsruhe durchbrochen. »Das glaube ich nicht!« Er sprang auf den Steg. »Wo hast du einen solchen Unsinn her? Von deiner Mutter?«

    Arles wurde sich unvermittelt bewusst, dass er zu freimütig gesprochen hatte. Er versuchte es mit Gepolter: »Deutest du damit an, dass meine Mutter Unsinn redet?«

    »Weder du noch deine Mutter dürften etwas über meinen SI wissen.«

    »Wieso denn nicht? Wir können zählen, und die Genealogie ist eine Sache der Aufzeichnung – oder, besser gesagt, keine Sache der Aufzeichnungen.«

    Eine seltsame Bemerkung, dachte Glawen. »Was meinst du damit?«

    Arles erkannte, dass er einmal mehr unbesonnen gesprochen hatte. »Nicht viel. Eigentlich nichts, ganz und gar nichts.«

    »Du bist so eigenartig voller Informationen.«

    »Die Mutigen Löwen wissen alles, was des Wissens wert ist. Mir sind Skandale bekannt, die du dir nicht einmal vorstellen kannst! Zum Beispiel: Welche alte Dame hat vorige Woche mit purer Gewalt versucht, Vogel Laverty ins Bett zu ziehen?«

    »Ich habe keine Ahnung. Wie weit hat er sich ziehen lassen?«

    »Überhaupt nicht! Er ist ja noch nicht einmal in meinem Alter! Eine weitere Situation: Ich könnte dir auf der Stelle eine Person nennen, die in Kürze ein Baby bekommt, dessen Vater sehr zweifelhaft ist.«

    Glawen wandte sich ab. »Ich hatte nichts damit zu tun, falls es das ist, was du herausfinden wolltest.«

    Arles stieß ein johlendes Gelächter aus. »Das ist ein guter Scherz! Die witzigste Bemerkung, die du heute von dir gegeben hast.« Er stand auf. »Die Zeit verrinnt. Statt das Boot zu lackieren, solltest du in deine Gemächer gehen, dir die Fingernägel sauber machen und dein Betragen proben.«

    Glawen blickte auf Arles’ rundliche weiße Hände. »Meine Fingernägel sind sauberer als deine es gerade sind.«

    Arles blickte finster und stieß die Hände in die Taschen. »Die Bedingungen sind unterschiedlich; behalte das im Hinterkopf. Sollte ich mit dir sprechen, dann antworte: ›Ja, mein Herr‹ oder ›Nein, mein Herr‹. Das ist angemessenes Verhalten. Falls du Zweifel wegen deiner Tischmanieren hast, beobachte einfach mich.«

    »Vielen Dank, aber ich werde wohl in der Lage sein, mich durch das Essen durchzuwursteln!«

    »Wie du willst.« Arles machte auf den Fersen kehrt und stapfte über den Steg davon.

    Glawen blieb, innerlich vor Wut kochend, stehen und sah ihm nach. Arles ging zwischen den beiden Heldenstatuen hindurch, die den Eingang zum Barockgarten der Clattucs flankierten, und verschwand außer Sicht. Glawen überlegte. Zwischen 29 und 31? Nach fünf Jahren als Vorläufiger mochte sein SI auf 25 gesunken sein. Das bedeutete den »Kollateral«-Status und Auszug aus dem Clattuc-Haus: fort von seinem Vater, fort von allen Feinheiten des Lebens, fort vom Prestige und den Vergünstigungen des vollen Amts!

    Er blickte über das Wasser. Genau ein solches grimmiges Ereignis hatte das Leben Tausender vor ihm verändert, doch die ganze Tragik der Situation hatte ihn zuvor nie berührt.

    Und was war mit den Mädchen, deren gute Meinung er schätzte? Da war Erlin Offaw, die bereits eingeschlagen hatte, was eine lange Karriere des Herzensbrechens zu werden versprach, und Ticia Wook, blond, zierlich, wohlriechend und so anmutig wie eine Gartennelke, doch, wie alle Wooks, unnahbar und stolz.* Dann gab es noch Sessily Veder, welche die letzten Male, als sie sich begegnet waren, auffallend liebenswürdig gewesen war. Falls er mit einem SI von 30 eingestuft werden würde, wäre seine Zukunft dahin, und keine von ihnen würde ihn ein zweites Mal ansehen.

    * Würde jedes Haus die anderen fünf in der Reihenfolge des wahrgenommenen Prestiges einschätzen, ergäben die sechs Ergebnisse kombiniert einvernehmlich, dass die Wooks und die Offaws die oberen Ränge der Liste einnehmen würden, knapp gefolgt von den Veders und den Clattucs, danach die Diffins und die Lavertys, doch auch bei der unfreundlichsten Einschätzung wäre der Unterschied zwischen oben und unten nicht groß.

    Glawen verließ das Bootshaus und folgte Arles die Anhöhe hinauf zum Clattuc-Haus: eine magere traurige dunkelhaarige Gestalt, im Rahmen der Landschaft ohne Bedeutung, doch für sich selbst und den Vater Scharde von hoher Wichtigkeit.

    Nachdem er das Haus betreten hatte, begab er sich über die Galerie nach oben in seine Zimmer im Ostflügel des ersten Geschosses. Zu seiner Erleichterung war Scharde zu Hause.

    Sein Vater spürte sofort seinen Unmut. »Du bekommst das große Zittern aber schon früh.«

    Glawen erwiderte: »Arles hat mir gesagt, dass er meinen SI bereits wisse, dass er zwischen 29 und 31 liege.«

    Scharde hob die Brauen. »31? Oder auch 29? Wie ist das möglich? Du würdest mit den Kollateralen ausscheiden, noch bevor du überhaupt angefangen hast!«

    »Ich weiß.«

    »Ich würde nichts auf Arles geben. Er hat nur gehofft, dich in Aufruhr zu versetzen, und es scheint, als wäre es ihm gelungen.«

    »Er sagt, er habe es von Spanchetta gehört! Und er hat etwas über eine nicht vorhandene Abstammung gesagt!«

    »Oh?« Sein Vater dachte nach. »Hat er das? Was hat er damit gemeint?«

    »Ich weiß es nicht. Ich habe ihm gesagt, dass er meinen SI schlechterdings nicht wissen könne, und er hat geantwortet: Wieso nicht; dass meine Genealogie eine Sache der Aufzeichnungen sei, oder, besser gesagt, keine Sache der Aufzeichnungen.«

    »Ha!«, murmelte Scharde. »Jetzt fange ich an zu verstehen. Ich frage mich nur …« Seine Stimme schwand. Er ging zum Fenster und starrte hinaus. »Dieser Angelegenheit haftet tatsächlich etwas von Spanchetta an.«

    »Könnte sie meine Zahl verändern?«

    »Das ist eine interessante Frage. Sie arbeitet in Amt A und hat Zugang zum Computer. Dennoch, sie würde es nie wagen, sich an der Maschine zu schaffen zu machen; es wäre ein Kapitalverbrechen. Was immer sie getan haben mag, sofern überhaupt etwas, muss legal sein.«

    Glawen schüttelte verwirrt den Kopf. »Weshalb sollte sie so etwas tun wollen? Welchen Unterschied bedeutet ihr meine Zahl?«

    »Noch wissen wir nicht, ob überhaupt etwas getan wurde. Falls doch, mag Spanchetta dafür verantwortlich sein oder nicht. Sofern auch das der Fall wäre, wäre die Reaktion einfach. Sie vergisst und vergibt nichts. Ich erzähle dir eine Geschichte, die du wahrscheinlich noch nicht gehört hast. Vor langer Zeit hat sie beschlossen, mich zu heiraten und sogar zusammen mit der Vorsteherin und Dame Lilian, der Kastellanin, Pläne geschmiedet, sodass alle anfingen, die Partie ernst zu nehmen, ohne mich auch nur zurate zu ziehen. Eines Abends spielten wir Epaing. Spanchetta war auch auf dem Feld, schrie, fluchte, gab großspurig Zeichen und reklamierte Faulspiel, wo gar keines war, und sagte graue Bälle an, wenn es rosa Bälle waren, und brüllte empört, sobald jemand einen Lupfer gelandet hatte. Wilmor Veder rief mir zu: ›Na dann, Scharde, sieht so aus, als würde deine Ehe ein ziemliches Abenteuer werden‹. Ich erwiderte: ›Ich heirate doch gar nicht; wo hast du das gehört‹. – ›Jeder weiß es! Alle sprechen darüber.‹ – ›Ich wünschte, jemand würde mich in das Geheimnis einweihen. Wer ist denn die Glückliche?‹ – ›Spanchetta, natürlich! Ich habe es von Carlotte gehört.‹ – ›Carlotte redet wirr. Ich heirate Spanchetta nicht! Nicht heute, nicht morgen, nicht voriges Jahr, nicht bei der Wiederkunft von Pulius Feistersnap. Kurz: nie, und nicht einmal dann nicht! Ist die Sache damit erledigt?‹ – ›Für mich klingt das endgültig. Jetzt musst du nur noch Spanchetta davon überzeugen, die genau hinter dir steht.‹ Ich blickte mich um, und dort stand sie, Gift und Galle speiend. Alle lachten, und Spanchetta versuchte, mich mit dem Epaingschläger umzubringen, worüber alle nur noch mehr lachten. Also hat sie aus purem Trotz den armen Millis geheiratet und gleichzeitig etwas mit Namour angefangen. Aber sie hat mir nie vergeben. Etwa ein Jahr später heiratete ich deine Mutter in Sarsenopolis auf Alphecca Neun. Nachdem wir nach Araminta-Station zurückgekehrt waren, gab es etliche unangenehme Zwischenfälle, viele. Marya ignorierte sie; genau wie ich. Dann wurdest du geboren, und Spanchetta verabscheut dich dreifach: meinet- und deiner Mutter wegen, und weil du alles bist, was Arles nicht ist. Und nun könnte es sein, dass sie eine Gelegenheit gefunden hat, aktiv zu werden.«

    »Es ist kaum zu glauben.«

    »Spanchetta ist eine sonderbare Frau. Du wartest hier; ich werde einige Erkundigungen einziehen.«

    2

    Scharde ging unmittelbar zu den Büros von Amt A in der neuen Verwaltung, wo er, in seiner Eigenschaft als Polizeikommandant, in der Lage war, ungehindert Nachforschungen anzustellen.

    Die Zeit war knapp; in zwei Stunden würde die Tischgemeinschaft beginnen, so unaufhaltsam in der Gesetzmäßigkeit wie die Bewegung von Lorca um Sing. Scharde kehrte zum Clattuc-Haus zurück und begab sich zu der schönen Wohnung mit den hohen Zimmern, die von Hausvorsteher Fratano genutzt wurde.

    Als er die Empfangshalle betrat, begegnete er Spanchetta, die gerade aus dem inneren Salon kam. Beide blieben abrupt stehen; jeder dachte, dass dies die Person war, die sie als Letztes sehen wollte. Sie sagte scharf: »Was tust du hier?«

    »Ich könnte dich das Gleiche fragen«, versetzte Scharde. »Doch wie die Dinge liegen, habe ich Amtsangelegenheiten mit Fratano zu besprechen.«

    »Es ist schon spät. Fratano kleidet sich an.« Spanchetta sah Scharde von oben bis unten an. »Kommst du in dieser Kleidung zum Essen? Aber wieso frage ich eigentlich? Du bist ja notorisch lax, wenn es um Anstand geht.«

    Er stieß ein betrübtes Lachen aus. »Ich gebe es weder zu noch leugne ich es, aber keine Angst! Ich werde da sein, sobald die Suppe serviert wird! Jetzt habe ich Angelegenheiten mit Fratano zu regeln; bitte entschuldige mich.«

    Spanchetta wich widerwillig beiseite. »Fratano ist mit Umziehen beschäftigt und wünscht, nicht gestört zu werden. Ich überbringe ihm deine Nachricht, wenn es dir recht ist.«

    »Ich muss ihm diese Sache selbst vorlegen.« Scharde trat dicht vor sie und hielt ob des warmen und schweren Geruchs, den sie verströmte, halb Parfüm, halb weibliche Sexualität, den Atem an. Er ging in Fratanos Privatsalon und schloss sorgfältig die Tür, genau vor Spanchettas Gesicht.

    Fratano, der eine weite Salonrobe trug, saß auf einem Lehnstuhl und stützte einen bleichen Fuß gegen einen Polsterhocker, während ihm ein Yip-Dienstmädchen die Unterschenkel massierte. Er blickte mit einem fragenden Stirnrunzeln auf. »Bitte sehr, Scharde, was ist denn jetzt los? Kannst du nicht zu einem gelegeneren Zeitpunkt kommen?«

    »Der Zeitpunkt kann nicht gelegener sein, wie du gleich erfahren wirst. Schick das Mädchen fort; unsere Unterhaltung muss privat bleiben.«

    Der Hausvorsteher schnalzte verdrossen mit der Zunge. »Ist es wirklich so wesentlich? Paz interessiert sich nicht für unser Gespräch.«

    »Möglicherweise nicht, aber mir ist aufgefallen, dass Namour alles über jeden weiß. Muss ich noch mehr sagen? Mädchen, entferne dich aus dem Zimmer und schließe die Tür, wenn du gehst.«

    Nach einem Blick zu Fratano erhob sich die Hausangestellte. Sie nahm das Gefäß mit Balsam und verließ den Raum, wobei sie Scharde ein kühles Halblächeln zuwarf.

    »Nun denn!«, brummte Fratano. »Was ist von solcher Wichtigkeit, dass du meine Massage störst?«

    »Heute ist Glawens sechzehnter Geburtstag, und er wird zu einem Vorläufigen.«

    Der Vorsteher blinzelte, unvermittelt nachdenklich. »Und?«

    »Bist du über seinen offiziellen SI in Kenntnis gesetzt worden?«

    »Ja, das bin ich.« Fratano hustete und räusperte sich. »Noch einmal – und?«

    »Spanchetta hat ihn dir gegeben?«

    »Das ist nicht von Bedeutung, so oder so. Irgendwie muss er von Amt A kommen. Gewöhnlich überbringt ihn Dame Leuta. Heute war es Spanchetta. Der SI ist derselbe.«

    »Hat Spanchetta ihn jemals zuvor ausgehändigt?«

    »Nein. Nun sag mir endlich, ein für alle Mal, worauf du hinauswillst.«

    »Ich glaube, das weißt du. Du hast dir die Zahl angesehen?«

    »Selbstverständlich! Warum nicht?«

    »Und wie lautet die Zahl?«

    Fratano versuchte, sich selbst hochzuziehen. »Das kann ich dir nicht sagen! Der SI ist vertraulich!«

    »Nicht, sofern Amt B beschließt sich einzuschalten.«

    Der Vorsteher richtete sich im Sessel auf. »Warum sollte sich Amt B in Hausangelegenheiten einmischen? Ich bestehe darauf zu erfahren, worauf du hinauswillst!«

    »Ich stelle Nachforschungen über etwas an, was sich als eine kriminelle Verschwörung entpuppen könnte.«

    »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

    »Wenn Spanchetta behauptet, Glawens SI zu kennen, und es Arles sagt, der sich mit seinem Wissen gegenüber Glawen brüstet, ist das bereits eine Rechtsverletzung. Falls auch noch der Hausvorsteher darin verwickelt ist, stellt sich die Frage nach einer kriminellen Verschwörung.«

    Fratano stieß einen schneidenden Schrei aus. »Was sagst du da! Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen!«

    »Wo ist der SI?«

    Der Hausvorsteher deutete auf ein Stück gelben Papiers auf einem Beistelltisch. »Die Zahl steht dort. Es ist der offizielle Computerausdruck.«

    Scharde warf einen Blick darauf. »30? Hast du diese Zahl gesehen?«

    »Ja, natürlich.«

    »Und du hast vor, sie während der Tischgemeinschaft vorzulesen?«

    Fratanos bereits mit Hängewangen versehenes Gesicht wurde noch länger. »Tatsächlich halte ich die Zahl für ziemlich hoch.«

    Scharde stieß ein verächtliches Lachen aus. »›Hoch‹ sagst du? Was, würdest du schätzen, sollte Glawens SI sein?«

    »Nun, ich wäre von etwa 24 ausgegangen. Dennoch …«, Fra­tano zeigte auf das gelbe Papier. »Es ist nicht an mir, den Computer infrage zu stellen.«

    Scharde grinste: eine schiefe, finstere Grimasse, die einen Augenblick die Spitzen seiner Zähne zeigte. »Fratano, ich komme gerade von Amt A. Der Computer funktioniert mit seiner üblichen Genauigkeit. Aber er ist auf die Informationen angewiesen, mit denen er gefüttert wird. Stimmst du mir darin zu?«

    »Dem ist so, ja.«

    »Heute Morgen habe ich, wie es mein Recht ist, die Computereingaben geprüft: die Informationen, aufgrund derer er ein Urteil fällt, und weißt du, dass jemand die Aufzeichnungen geändert hat? In einer Art, dass Glawen als illegitim erklärt wurde – als ein uneheliches Kind.«

    Erneut räusperte sich Fratano. »Um die Wahrheit zu sagen, Gerüchte diesbezüglich zirkulieren bereits seit einiger Zeit.«

    »Mir sind sie nicht zu Ohren gekommen.«

    »Es wird gesagt, dass deine Heirat mit Marya illegal und nichtig sei, mit der Folge, dass auch alle Nachkommen illegitim sind.«

    »Wie könnte meine Heirat illegal sein? Ich kann dir jederzeit die Heiratsurkunde zeigen. Auf der Stelle, falls du es willst.«

    »Die Heirat ist nichtig, weil Marya bereits verheiratet war und es versäumt hat, sich eine legale Scheidung bescheinigen zu lassen. Natürlich würde ich einem solch trügerischen Geschwätz keine Beachtung schenken. Dennoch, falls es unglücklicherweise stimmen sollte …«

    »Spanchetta hat dir das alles gesagt? Sie ist die Quelle dieses sogenannten Gerüchtes?«

    »Das Thema ist bei unserem Gespräch in der Tat aufgekommen.«

    »Und du hast ihre Behauptung einfach hingenommen, ohne dich mit mir in Verbindung zu setzen?«

    »Die Fakten sprechen für sich!«, blökte Fratano. »Auf dem Touristenschein hat sie selbst angegeben ›Madame‹ Marya Chia­salvo.«

    Scharde nickte. »Amt B kann gegen dich einen klaren Fall von entweder ›krimineller Verschwörung‹ oder ›verbrecherischer Vernachlässigung der Pflichten‹ einleiten.«

    Fratanos Wangen bebten, und seine Augen wurden groß und feucht. »Mein lieber Scharde! Du solltest mich doch besser kennen!«

    »Weshalb hast du dann einen solch ungeheuerlichen Ausdruck von Spanchetta angenommen, ohne zu protestieren? Ich gebe zu, ich empfinde pure Entrüstung! Du kennst doch Spanchetta und ihre Tücken! Du hast dich zu ihrem Instrument gemacht! Also musst du auch die Konsequenzen tragen!«

    Fratano entgegnete kläglich: »Spanchetta kann mitunter sehr überzeugend sein.«

    »Es handelt sich um Fakten, die du von mir über das Telefon hättest in Erfahrung bringen können. Maryas Familie hat sich einer populären Religion auf Alphecca Neun verschrieben, die als Vierlig-Offenbarung bekannt ist. Kinder treten im Alter von zehn Jahren ein, indem sie sich einer Schein-Heirat mit ihrem Schutzheiligen weihen lassen. Maryas Schutzheiliger war Chiasalvo, der Schatz des Gütigen Wesens. Die Heirat ist eine religiöse Formalität, von der der Schutzheilige als Teil der Heiratszeremonie abschwört. So ist es auf der Heiratsurkunde bescheinigt, die du jederzeit hättest einsehen können, sobald die Frage aufgekommen wäre. Unsere Heirat ist, trotz Spanchettas bösartigen Versicherungen, so legal wie deine eigene. Wie sie es hat wagen können, diese Verfälschung in die genealogischen Aufzeichnungen einzubringen, übersteigt mein Verständnis.«

    »Bah!«, murmelte Fratano in gedämpftem Ton. »Spanchetta und ihre Intrigen bringen mich eines Tages noch um den Verstand! Glücklicherweise hast du den Irrtum noch rechtzeitig entdeckt.«

    »Verwende nicht das Wort ›Irrtum‹. Hier ist Vorsatz am Werk!«

    »Ah gut, Spanchetta ist eine empfindliche Frau. Einst hatte sie Grund zur Annahme … Doch einerlei. Es ist ein übler Schlamassel. Was sollen wir tun?«

    »Du kannst zählen, und ich kann zählen. Hier haben wir die Clattuc-Stammrolle. Glawen sollte eindeutig hinter Dexter und vor Trine liegen. Das entspricht einem SI von 24. Ich schlage vor, du lässt diese Zahl durch amtlichen Erlass formalisieren, wie es dein Vorrecht und, in diesem Fall, deine Pflicht ist.«

    Der Hausvorsteher studierte die Stammrolle. Er zählte an seinen langen weißen Fingern ab. »Es ist nur möglich, dass Trine, dank des Hochstandes der Tante seiner Mutter bei den Veders, einen oder zwei Punkte gewinnen könnte.«

    »Das Gleiche trifft auf Glawen zu. Elsabetta, die ältere Schwester seiner Großmutter, ist eine hohe Wook, und außerdem kann er Dame Waltrop von Diffin als Eingabe anführen. Und vergiss nicht: Trine ist acht Jahre jünger als Glawen! Er braucht in seinem Alter keine 24.«

    »Das stimmt.« Fratano warf seinem Gegenüber einen verhaltenen Seitenblick zu. »Und es wird kein weiteres Gerede von krimineller Verschwörung geben – was selbstverständlich von Anfang an nur ein schlechter Scherz gewesen ist?«

    Scharde lächelte grimmig. »So sei es.«

    »Nun gut. Der gesunde Menschenverstand sagt ›24‹, und wir gehen davon aus, dass der Computer uns eine ›24‹ geben wollte.« Der Hausvorsteher nahm das gelbe Blatt, strich mit einem Schreiber »30« durch und schrieb stattdessen »24«. »Jetzt ist alles gut, und ich muss mich anziehen.«

    An der Tür drehte sich Scharde um und sagte über die Schulter hinweg: »Ich schlage vor, du schließt die Außentür hinter mir ab. Ansonsten könntest du es noch einmal mit Spanchetta zu tun bekommen.«

    Fratano nickte säuerlich. »Ich kann die Angelegenheiten in meiner eigenen Wohnung noch regeln. Gunter? Gunter! Wo zum Teufel steckst du?« Ein Bediensteter betrat den Raum. »Mein Herr?«

    »Verriegele die Tür doppelt, sobald Herr Scharde gegangen ist. Lass niemanden herein, und überbringe mir keine Nachrichten; ist das klar?«

    »Ja, allerdings, mein Herr.«

    3

    Als sie bereit waren, ihre Gemächer zu verlassen, unterzog Scharde Glawen einer letzten Inspektion. Sein kurzes Nicken barg weitaus mehr Stolz als er in Worte fassen wollte. »Gewiss wird niemand Anstoß an deiner Erscheinung nehmen; diesbezüglich kannst du beruhigt sein.«

    »Hmpf. Arles wird zumindest meine Schuhe missbilligen.«

    Sein Vater gluckste. »Nur Arles. Kein anderer wird zweimal in deine Richtung blicken – es sei denn, du begehst etwas schrecklich Vulgäres.«

    Glawen entgegnete mit Würde: »Ich habe keinesfalls etwas Vulgäres vor. Das ist nicht meine Vorstellung von einer Geburtstagsfeier.«

    »Vernünftig! Ich schlage außerdem vor, dass du nichts sagst, sofern du nicht direkt angesprochen wirst, und dann auch nur mit einem Gemeinplatz antwortest. In kurzer Zeit wird dich jeder für einen brillanten Gesprächspartner halten.«

    »Wahrscheinlicher werden sie denken, ich sei ein mürrischer Rohling«, knurrte er. »Dennoch, ich werde meine Zunge im Zaum halten.«

    Wieder zeigte Scharde sein schiefes Halblächeln. »Komm; es ist an der Zeit, nach unten zu gehen.«

    Die beiden gingen die Treppe hinab ins Erdgeschoss und durch die Empfangshalle in den Hauptkorridor: zwei aufrechte Gestalten mit ähnlich ernsten Gesichtszügen und Eigenheiten, die ureigenen Anstand und Stärke unter bedachter Kontrolle andeuteten. Scharde war einen halben Kopf größer; sein Haar war zu einem drahtigen unbestimmbaren Grau geworden; Wind und Wetter hatten seiner Haut die Farbe von alter Eiche verliehen. Glawen war etwas heller; seine Brust und Schultern waren kompakter. Schardes Mund war straff und ironisch; Glawens Mund hing an den Winkeln grüblerisch herab, wenn er entspannt oder schlecht gelaunt war, als stecke sein Kopf in den Wolken. Sahen Mädchen Glawen an, was sie es oft taten, erlebten sie, dass dieser Zug mit der Andeutung reizender Anflüge von Versonnenheit dazu angetan war, ihren Herzen seltsame Streiche zu spielen.

    Die beiden gingen weiter zum Speisesaal. Am Eingang blieben sie stehen und verschafften sich einen Überblick über jene, die bereits ihre Plätze eingenommen hatten. Die meisten Clattuc-Hausmitglieder waren bereits eingetroffen, hatten es sich auf den Stühlen mit den steifen Lehnen bequem gemacht und schwatzten, lachten und tranken spritzigen Bagnold vom Weingut der Lavertys oder, wie häufig, den schwereren und süßeren Rosé Schamlos, nach der Komposition der Wook-Önologen. An Positionen entlang der Wände standen die Yip-Bediensteten, prächtig in den grauen und orangefarbenen Clattuc-Livreen, mit weiß gepuderten Gesichtern und unter Perücken aus gekämmten silbernen Seidenfasern verborgenen Haaren.

    Scharde deutete auf die andere Seite des Tisches. »Dein Platz ist dort drüben, neben deiner Großtante Clotilde. Ich sitze auf deiner anderen Seite. Geh voran.«

    Glawen richtete sein Jackett, straffte die Schultern und betrat den Speisesaal. Die anwesende Gesellschaft wurde still; flapsige Bemerkungen verhallten; Glucksen und Gekicher schwanden; alle drehten die Köpfe, um die Neuankömmlinge anzustarren.

    Weder nach links noch nach rechts sehend, marschierte Gla­wen um den Tisch herum, gefolgt von Scharde. Es gab Gemurmel und Geflüster; offenbar waren Gerüchte hinsichtlich Glawens SI und seines bevorstehenden Schocks bereits am Tisch umgegangen. Solche Neuigkeiten, mit allen Begleiterscheinungen und der Bandbreite für tragische Dramen, waren zu erlesen, um sie für sich zu behalten. Alle erwarteten gespannt den Augenblick, in dem Fratanos Verlautbarung Glawens Leben zerstören würde, und alle musterten verstohlen das vermeintliche Opfer.

    Dieses erreichte, mit seinem Vater dicht hinter sich, seinen Platz. Zwei Bedienstete zogen die Stühle zurück und ließen sie nach vorn gleiten, nachdem sie sich gesetzt hatten. Die Gesellschaft nahm die zuvor unterbrochenen Aktivitäten wieder auf; alles war wie immer, und Glawen wurde ignoriert: seiner Ansicht nach herrschte eine nahezu beleidigende Gleichgültigkeit. Letzten Endes war das Abendessen die Feier seines persönlichen Geburtstages. Er sah sich stolz am Tisch um, aber niemand bemerkte es. Vielleicht wäre doch eine groteske und

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