Grenzenlos: Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere
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Buchvorschau
Grenzenlos - Francesca Buoninconti
Teil I
Ein Leben im Flug
Kapitel 1
Das Versprechen der Wiederkehr
Am Ende des Winters unternehmen Millionen von Zugvögeln eine lange und gefährliche Reise und brechen in großer Eile in Richtung Norden auf. Sie starten vom Süden der Erde, von Afrika, wo sie die kalte Jahreszeit verbrachten, um im Frühling nach Europa zu ziehen oder nach Russland, ja bis nach Sibirien: in die sogenannte paläarktische Region. Von Süd- oder Mittelamerika bis hinauf in die Gebiete der Vereinigten Staaten und Kanadas. Oder auch vom Südosten Asiens, um nach Zentralasien zu gelangen oder bis zum nördlichen Polarkreis vorzustoßen.
Viele von ihnen sind kleine Singvögel, die kaum mehr als zehn Gramm wiegen und mehr als 10.000 Kilometer im Flug zurücklegen. Andere haben ein beträchtliches Gewicht und eine stattliche Körpergröße: Gänse, Greifvögel, Kraniche, Störche und Seevögel. Alle aber haben das Ziel, ein Versprechen zu halten, das „Versprechen der Wiederkehr"⁶: jedes Jahr an denselben Ort zurückzukehren, an dem sie geboren wurden, um ihrerseits zu nisten. Am Ende der Brutsaison starten sie dann erneut nach Süden, diesmal etwas gemächlicher, um an die Orte zurückzukehren, an denen sie den Winter verbringen: ihre Winterquartiere.
Die Wanderung der Vögel ist wahrscheinlich eine der eindrucksvollsten und seit jeher am besten untersuchten. Gerade deshalb haften ihr noch immer anthropozentrische Vorurteile an. Seit Aristoteles wurde sie als jahreszeitliche Erscheinung betrachtet, die jeweils im Frühling und im Herbst auftritt. Doch gemeint sind die Jahreszeiten der nördlichen Erdhalbkugel, also März bis Juni und September bis November; sie treffen auf die westliche Welt zu, in der auch die moderne Wissenschaft entstanden ist. In Wirklichkeit gibt es Arten, die bereits im Februar in den Brutquartieren eintreffen oder im August wieder wegziehen. In unserer eurozentrischen Sicht bezeichnet man den nach Norden gerichteten Vogelzug vor der Paarung, den man im Frühling beobachten kann, auch gern als „Heimkehr oder „Rückwanderung
, da die Vögel zum Nisten nach Europa zurückkehren. Wenn die Vögel im Herbst nach der Paarung südwärts ziehen, sagt man dagegen, sie „zögen fort", eben weil sie Europa verlassen. Doch nur in unseren Breiten kann man dieses titanische Unternehmen zu diesen Zeiten beobachten: In Wahrheit sind die Zugvögel fast das ganze Jahr über unterwegs, praktisch ihr ganzes Leben lang.
Wie zum Beispiel der Sumpfrohrsänger (Acrocephalus palustris), ein kleiner Sperlingsvogel, der sich in Europa fortpflanzt, in Sumpfgebieten und dichtem Schilf, den Winter aber im Süden Afrikas verbringt, zwischen der südafrikanischen Provinz Ostkap und Sambia. Wie lange ist er zwischen den beiden Kontinenten unterwegs? Nicht weniger als neun von zwölf Monaten des Jahres. Dabei muss er beim Hin- und Rückflug 20.000–25.000 Kilometer zurücklegen; nicht schlecht für eine Handvoll Federn und Flaum, die etwa 13 Gramm wiegt. Doch damit nicht genug: Um nach Europa zu gelangen, braucht er drei Monate, während er für die Rückkehr ins südliche Afrika nach der Brutzeit genau doppelt so lange braucht, nämlich sechs Monate. Obwohl die Strecke mehr oder weniger dieselbe ist. Warum also dieser große Unterschied? Die Antwort ist einfach: Im Frühling, bei der Wanderung vor der Paarung, hat er es eilig. Er hat keine Zeit zu verlieren, muss schnell fliegen und nur wenn unbedingt nötig kurze Pausen machen. Mit den Ersten einzutreffen bedeutet, sich den besten Nistplatz zu sichern, der mehr Nahrung bietet oder strategisch besser gelegen ist. Und man hat größere Chancen, einen Partner zu erobern. Kurzum, es gibt gute Gründe, sich zu sputen. Aufgrund dieser Hektik kann die „Heimkehr" sogar nur ein Drittel der Zeit in Anspruch nehmen wie die Reise in die entgegengesetzte Richtung. Ist nämlich die Brutzeit vorbei, besteht keine Eile mehr, in die Winterquartiere zu gelangen. Daher kann man bei den Wanderungen nach der Paarung längere Pausen machen und es (verhältnismäßig) gemütlich angehen lassen: Wir sprechen hier immerhin von einer der längsten, unvorhersehbarsten und gefährlichsten Reisen, die Lebewesen in Angriff nehmen.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Männchen es bei der Wanderung in die Brutgebiete noch eiliger haben als die Weibchen. Männchen und Weibchen – oder auch junge und erwachsene Tiere – der gleichen Art wandern also nicht unbedingt gemeinsam und halten auch nicht dieselben Zeitpläne ein. Wir haben es mit einer differenziellen Migration zu tun. Im Frühjahr wollen die Männchen so früh wie möglich ankommen, um ein Territorium zu erobern und es zu verteidigen. Die Weibchen treffen etwas später ein. Am Ende der Brutzeit sind es dagegen die Weibchen, die als Erste starten, während die Männchen noch einige Tage im Brutareal bleiben und ihr Territorium so lange wie möglich beschützen. Der Unterschied in den Ankunfts- und Abflugzeiten ist so auffallend, dass der Buchfink schon seit den Zeiten Linnés mit dem Namen Fringilla coelebs bedacht wurde: coelebs steht für „ledig", weil die Weibchen am Ende des Sommers zuerst starten und die Männchen allein lassen.
Die Protogynie, die vorgezogene Wanderung der Weibchen am Ende der Brutzeit, ist aber weniger häufig als die Protandrie, die frühzeitige Ankunft der Männchen im Frühling. Doch wie gelingt es den Männchen, die Brutquartiere vor den Weibchen zu erreichen? Sie fliegen nicht schneller und benutzen auch keine Abkürzungen. Ganz einfach: Sie „schummeln", indem sie eine kürzere Strecke reisen. Ihre Winterquartiere liegen nämlich näher an jenen für die Fortpflanzung, während die Weibchen weiter entfernt überwintern. In der Praxis verteilen sich die Vögel, die eine differenzielle Migration durchführen, in den Winterquartieren auf drei Zonen, und zwar nach Alter und Geschlecht. Die erwachsenen Männchen besetzen den nördlichsten Streifen, der dem Brutareal am nächsten liegt; sodann folgen die erwachsenen Weibchen und die jungen Männchen, die einen dazwischenliegenden Streifen besetzen; das südlichste und am weitesten entfernte Areal schließlich wird von den Jungweibchen besetzt. Die erwachsenen Männchen sind also diejenigen, die insgesamt am wenigsten weit reisen, und so schaffen sie es, zuerst anzukommen und später abzufliegen. Kurz und gut, sie haben ihre Tricks.
In der Einleitung haben wir erklärt, dass die Migration eine jahreszeitliche, periodische und sich wiederholende Bewegung zwischen zwei verschiedenen Gebieten ist, in denen unterschiedliche Lebensfunktionen ablaufen. Und dass sie nicht anhand der zurückgelegten Entfernung definiert wird. Doch jede Regel hat ihre Ausnahme. Die Zugvögel kann man nämlich gerade im Hinblick auf die zurückgelegten Kilometer in zwei große Gruppen einteilen. Und zwar deshalb, weil das „Wandervolk" aus Tausenden von Arten besteht und man deshalb in den verschiedenen Untersuchungen versucht hat, jene mit ähnlichen ökologischen Merkmalen zusammenzulegen. Man unterscheidet daher in Langstrecken- und Kurzstreckenzieher. Langstreckenzieher sind Vögel, die zwischen 5.000 und 15.000 Kilometer pro Wanderung zurücklegen und dabei 100–200 Kilometer am Tag fliegen können. Zu dieser Gruppe von Ausnahmeathleten gehören jene Arten, die unterhalb der Sahara überwintern: die sogenannten Transsaharazieher wie die bereits erwähnten Schwalben und der Sumpfrohrsänger. Doch die Spitzenkönner dieser Kategorie sind die Seevögel, die bis zu 300 Kilometer am Tag herunterspulen, und ein kleiner europäischer Sperlingsvogel, der Gleiches zu leisten imstande ist: der Steinschmätzer (Oenanthe oenanthe). Der Name mag zwar komisch klingen, doch dieser Vogel mit schwarz-weiß gefärbtem Schwanz und einem Gewicht von gerade einmal 25 Gramm unternimmt eine schier unglaubliche Reise. Von Subsahara-Afrika, wo er den Winter verbringt, zieht ein Teil der Vögel nach Nordosten, um in Sibirien und Alaska zu nisten; dabei überqueren sie den gesamten asiatischen Kontinent. Der andere Teil fliegt nach Europa und teilt sich dann erneut in zwei Gruppen. Die eine bleibt in Europa, um dort zu nisten, die andere zieht nach Nordwesten 3.500 Kilometer über den Atlantik bis nach Grönland und in den Nordosten Kanadas⁷. Der Steinschmätzer nimmt keine Abkürzungen und bewältigt im Flug hin und zurück bis zu 30.000 Kilometer.
Das Leben der Kurzstreckenzieher ist etwas leichter: Sie legen „nur" eine Strecke von 3.000–5.000 Kilometern zurück, pro Tag um die 50. Einen Sonderfall stellen jene dar, die in der Paläarktis nisten und zwischen Südeuropa und Nordafrika überwintern, ohne die Sahara zu überqueren. Wie der Hausrotschwanz (Phoenicurus ochruros), das Schwarzkehlchen (Saxicola torquatus) und das berühmte Rotkehlchen (Erithacus rubecula).
Vielleicht haben Sie bemerkt, dass sich im Winter in italienischen Gärten und öffentlichen Parks viele Rotkehlchen tummeln, während sie im Sommer dort kaum zu sehen sind?
Das Rotkehlchen nistet vorwiegend in Nordwesteuropa und überwintert im Mittelmeerbecken, einschließlich Italien. Darum ist es dort im Winter so zahlreich anzutreffen. Am Ende der kalten Jahreszeit geschieht dann das Unglaubliche: Der größte Teil der Rotkehlchen, der den Winter in Italien verbracht hat, bricht zum Nisten wieder nach Norden auf. Viele andere bleiben, genießen weiterhin den italienischen Sommer und nisten geradewegs im Belpaese. Wieso? Sie sind nicht nur Kurzstreckenzieher, sondern auch Teilzieher und gehören damit zu einer Kategorie von Vögeln, bei der ein Teil der Population Zugvögel und der andere Standvögel sind. Und damit nicht genug: Die Teilzieher können in wenigen Generationen entweder zu obligatorischen Zugvögeln oder zu totalen Standvögeln werden. So können sie, wenn sich die Umweltbedingungen ändern, von Mal zu Mal die passende Strategie wählen: bleiben oder ziehen. Dasselbe gilt für die Amsel (Turdus merula), die in unseren Breiten weitgehend zu einem Standvogel wurde. Ihr Wandertrieb ist aber weiter im Erbgut verankert. So sind über 60 Prozent der europäischen Amseln Teilzieher, und wenn sie es nicht sind, tragen sie mit großer Wahrscheinlichkeit in ihrem Genotyp die Merkmale, um zu solchen zu werden.
Bei ihren Reisen in alle Himmelsrichtungen sind die Vögel erstaunlich pünktlich. Einige halten Abflugzeiten oder Zieleinlauf so präzise ein, dass man sie zu Recht mit dem Beinamen „Kalendervögel" bedacht hat. Ein Beispiel ist der Dunkle Wasserläufer (Tringa erythropus), ein hochbeiniger Wasservogel mit langem Schnabel, der zwischen Afrika und dem südlichen Asien überwintert und im hohen Norden Europas und Asiens brütet⁸: In 24 aufeinanderfolgenden Jahren tauchte er immer zwischen dem 1. und 8. Mai im finnischen Helsinki auf. Oder die Gartengrasmücke (Sylvia borin), ein kleiner Sperlingsvogel, der im tropischen Afrika überwintert, in Europa nistet und 38 Jahre in Folge um den 1. Mai in Mitteleuropa eintraf⁹. Fast auf den Tag genau.
Trotz dieser enormen Präzision gibt es kein Signal, das allein den Startschuss zur Wanderung gibt. Es sind vielmehr eine Reihe von umweltbedingten und hormonellen, häufig voneinander abhängigen Faktoren, die die Zugunruhe auslösen, ein Begriff, der sogar in der amerikanischen Fernsehserie Heroes zitiert wurde.¹⁰ Die Zugunruhe ist ein unruhiges Verhalten, das gut zu beobachten ist, wenn man einen Vogel am Wandern hindert: Hält man einen Zugvogel im Käfig, wenn er eigentlich auf Reisen sein sollte, schlägt er die ganze Nacht mit den Flügeln und versucht sogar zu fliegen und dabei den richtigen Kurs zu
