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Verlassene Orte: Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
Verlassene Orte: Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
Verlassene Orte: Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
eBook471 Seiten5 Stunden

Verlassene Orte: Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt

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Über dieses E-Book

Die mehrfach ausgezeichnete schottische Essayistin Cal Flyn erkundet in diesem außergewöhnlichen Buch Orte, an denen keine Menschen mehr leben – oder nur noch wenige ihr Dasein fristen. Es sind Sperrgebiete oder Geisterstädte, Festungsinseln und Niemandsländer, unwegsames Terrain, auf das sich Flyn wagt, als sie verwaiste und verwüstete Orte besuchte, um zu verstehen, was passiert, wenn man der Natur erlaubt, sich ihren Platz zurückzuerobern. Auf einer unbewohnten schottischen Insel begegnet sie einer Herde verwilderter Rinder, in Tschernobyl einer Handvoll Menschen, die nach der Nuklearkatastrophe in ihre kontaminierten Häuser zurückkehrten, und in Detroit, der einst viertgrößten Stadt der USA, trifft sie auf ganze Straßenzüge, die so verfallen sind, dass Tiere und Pflanzen sie übernommen haben. Egal wie trostlos, unheimlich, verwüstet und verseucht die Orte sind, die Flyn erkundet, überall erkennt sie allen Widrigkeiten zum Trotz Anzeichen von ökologischer Resilienz und Regeneration, kurzum: von Leben. Sie entdeckt Pflanzen, die auf kontaminierten Böden gedeihen, Fische, die gegen bestimmte Gifte unempfindlich geworden sind oder einen künstlichen See, der zur belebten Wüste versandet. Ihr Buch ist ein genau recherchiertes und mit literarischem wie psychologischem Einfühlungsvermögen geschriebenes Plädoyer für eine radikale Überprüfung dessen, was wir unter ›Natur‹ verstehen. Nicht zuletzt bietet es vielfältige, auch verstörende Antworten auf die dringliche Frage, wie der Schaden, den wir an der Natur verursacht haben, noch behoben werden kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Nov. 2023
ISBN9783751840101
Verlassene Orte: Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt
Autor

Cal Flyn

Cal Flyn, in den schottischen Highlands aufgewachsen, ist Essayistin, Kritikerin u. a. für Granta, The Guardian, The Wall Street Journal. Bereits ihr erstes Buch Thicker than Water erregte große Aufmerksamkeit, Islands of Abandonment wurde mit zahlreichen Auszeichnungen versehen. 2022 wurde sie als Young Writer of the Year geehrt.

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    Buchvorschau

    Verlassene Orte - Cal Flyn

    CAL FLYN

    Verlassene Orte

    Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt

    Aus dem Englischen von Milena Adam

    NATURKUNDEN

    Für Rich,

    der mich so unheimlich glücklich macht

    NATURKUNDEN N° 100

    herausgegeben von Judith Schalansky

    bei Matthes & Seitz Berlin

    INHALT

    Anrufung: Forth Islands – Schottlands

    Erster Teil

    IN ABSENTIA

    1Das öde Land: Five Sisters – West Lothian – Schottland

    2Niemandsland: Pufferzone – Zypern

    3Alte Felder: Harju – Estland

    4Nuklearer Winter: Tschernobyl – Ukraine

    Zweiter Teil

    DIE BLEIBENDEN

    5Stadtruinen: Detroit – Michigan – USA

    6Tage der Anarchie: Paterson – New Jersey – USA

    Dritter Teil

    DER LANGE SCHATTEN

    7Unnatürliche Selektion: Arthur Kill – Staten Island – USA

    8Der verbotene Wald: Zone Rouge – Verdun – Frankreich

    9Invasion der Aliens: Amani – Tansania

    10 Ausflug zum Rose Cottage: Swona – Schottland

    Vierter Teil

    ENDSPIEL

    11 Offenbarung: Plymouth – Montserrat

    12 Sintflut und Wüste: Saltonsee – Kalifornien – USA

    Anmerkungen und Quellennachweise

    Danksagung

    Abbildungsverzeichnis

    Register

    ANRUFUNG

    Forth Islands — Schottland

    In den Tunneln ist es kühl, nicht kalt wie draußen. Und dunkel, stockdunkel. Die Luft steht beinahe, aber nicht ganz – ein Hauch streift die Blätter, die in niedrigen Verwehungen am Rand liegen, wo Wände und Boden aufeinandertreffen. Vielleicht habe ich deshalb das nervenaufreibende Gefühl, nicht völlig allein zu sein.

    Um zum Allerheiligsten vorzudringen, muss ich im äußeren Gang über die Kadaver von Möwen und Kaninchen steigen, die sich verirrt oder zum Sterben hierher verkrochen haben. Meine Schritte sind vorsichtig und ich versuche, möglichst nicht hinzusehen. Irgendwann, nachdem mir das vom Stein zurückgeworfene Aufblitzen der Taschenlampe einen Schrecken eingejagt hat, schalte ich sie aus und warte, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Durch die angelehnte Metalltür dringt gerade genug Licht, dass ich die breiten Steinstufen erkennen und tiefer ins Innere der Festung vordringen kann.

    Die einst weiß verputzten Wände sind jetzt schmutzig marmoriert sowie hier und da von dunklem Schimmelgrün überzogen. Bald allerdings ist es zu düster, um etwas zu erkennen. Obwohl ich mich selbst zur Ruhe mahne, spüre ich, wie mein Puls sich beschleunigt. An jeder Ecke, wo das Unbekannte finster und bedrohlich lauert, muss ich mich zum Weitergehen zwingen – ich atme ein, strecke die Finger nach der Wand aus, betaste sie. Ich rieche nassen Stein, Erde, Moder – Gruftgeruch. Als nichts mehr hilft, schalte ich die Taschenlampe wieder an.

    Also doch: Ich bin nicht allein. Zumindest nicht ganz. Neben den grob behauenen Wänden erfasst der Lichtkegel zunächst einen dunklen Körper, dann noch einen. Ich finde drei, dicht gedrängt am Boden, die Flügel gefaltet wie Hände zum Gebet. Ich muss mich auf alle Viere in den Staub fallen lassen, um sie in allen Einzelheiten zu betrachten: die komplexe Musterung der Flügelunterseiten – eine Schnitzarbeit in Ebenholz und Tiefbraun, durchzogen von schwachem Kupferglanz. Ruhende Schmetterlinge. Bald werden sie wach.

    Das hier ist Inchkeith, eine Insel im Meeresarm Firth of Forth, gut sechs Kilometer vor Edinburgh. Seinerzeit war Inchkeith alles Mögliche: abgelegener Standort für eine »Prophetenschule«, später Quarantäneinsel für Syphiliskranke (die man dorthin verbannte, »bis Gott ihnen Gesundheit schenkte«), dann Pestkrankenhaus und sogar Gefängnisinsel, auf der das Wasser die Mauern ersetzte.

    So abgelegen war sie, und doch immer in Sichtweite der schottischen Hauptstadt – ein felsiges Trugbild am Horizont –, dass sie angeblich die Fantasie des schottischen Königs James IV beflügelte, der Inchkeith, so heißt es, für sein berüchtigtes Sprachentzugsexperiment auserkor. Als Universalgelehrter mit rastlosem Geist setzte er sich intensiv mit den Wissenschaften der Renaissance auseinander, praktizierte sowohl Aderlass als auch Zähneziehen und versenkte riesige Summen in die Erforschung von Alchemie, dem menschlichen Flugvermögen und laut einem Chronisten aus dem 16. Jahrhundert auch in das Unternehmen, zwei Neugeborene und eine taube Amme nach Inchkeith zu bringen, in der Hoffnung, dass die Kinder abseits der schädlichen gesellschaftlichen Einflüsse die »göttliche Sprache« aus der Zeit vor dem Sündenfall zu sprechen lernen würden.

    Aufgrund der extremen Isolation und unumkehrbaren sozialen Fehlprägung, denen die Kinder ausgesetzt waren, ging der Versuch als »das verbotene Experiment« in die Geschichte ein. Die Ergebnisse waren uneindeutig. »Manche sagen, sie sprachen gut Hebräisch«, berichtet der Chronist verschmitzt, »ich weiß ja nicht.« Andere erzählten von einem »viehischen Gestammel«. Die Auslegung hing wahrscheinlich davon ab, nach welchem Gott man Ausschau hielt.

    Mit der Zeit wurde aus Inchkeith eine Inselfestung, die zu Kriegszeiten sporadisch von den Engländern gehalten wurde, und schließlich – nach großem Blutvergießen – von den Franzosen. Im Zweiten Weltkrieg waren über tausend Soldaten auf der nicht einmal einen Kilometer langen Insel stationiert, und Geschützstellungen wachten angespannt über die Forth-Mündung. Nach dem Waffenstillstandsabkommen wurde Inchkeith, das zu klein, zu schwer beschädigt und zu unzugänglich war, um in Friedenszeiten Beachtung zu erfahren, erneut verlassen.

    Inchmickery, eine Insel im Meeresarm Firth of Forth (Schottland), ist ein wichtiger Brutplatz für Robben.

    Doch während die Insel in Vergessenheit geriet, stieg ihre ökologische Bedeutung. Bis in die Vierzigerjahre hinein war nur eine einzige dort nistende Seevogelart bekannt: die Eiderente. In den darauffolgenden Jahrzehnten jedoch ist die Insel zur Brutstätte von einem Dutzend weiterer Arten geworden, und noch mehr nutzen die Insel als Rastplatz. Im Frühsommer wimmelt die Felsküste nur so von Leben und ist vom Vogelkot kalkweiß, auf jedem Vorsprung drängen sich struppige Nester aus verrotteten Algen und gesprenkelte, direkt auf dem Fels abgelegte Eier, jede Spezies richtet sich im Relief des Lebens ein: Krähenscharben ruhen auf den gischtumtosten Felsen unten im Wasser, die glänzenden, schwarzweißen Lummen auf den unteren Stufen der Klippen, ein Stockwerk höher die gnomenhaften Tordalken mit ihren gebogenen Schnäbeln, im Penthouse residieren die in elegantes Grau gekleideten Dreizehenmöwen – und permanent beschweren sie alle sich lauthals kreischend über ihre Nachbarn.

    Wo einst das Weideland des Leuchtturmwärters war, nehmen dralle Papageientaucher mit ihren knallbunt gestreiften Schnäbeln leere Kaninchenbauten in Beschlag. Winterzaunkönige und Rauchschwalben haben die ehemaligen Militärbauwerke eingenommen, die zusammensacken und aufplatzen wie fauliges Obst. Holunderdickicht wuchert aus den dachlosen Gebäuden, dicht gedrängt, wie um den bitterkalten Windstößen von der Nordsee zu trotzen.

    Verfallene Offiziersunterkünfte auf der nahegelegenen Festungsinsel Inchkeith.

    Wenn das Wetter kühler wird, hieven sich Kegelrobben auf die algenüberwucherten Bootsrampen, um sich in der schwachen Sonne zu wärmen – Tausende von ihnen finden hier, mitten in der Fahrrinne, ausreichend Zuflucht, um Junge zu bekommen. Ihr rehäugiger Nachwuchs verbringt den Winter damit, im büscheligen Gras zu lümmeln, die Pfade entlang zu robben und die Ruinen zu erkunden. Ungefähr zur selben Zeit ziehen die Schmetterlinge und Motten, die wie Rauch über der Insel wabern, sich in die dunklen Tunnel zurück, die die Hänge durchziehen, um dort zu überwintern – blau schillernde Tagpfauenaugen, glänzende, wie gepanzert aussehende Zimteulen, oder Kleine Füchse, deren schartige Silhouetten an Muscheln erinnern. Einer zuckt mit dem Bein. Ich lasse sie in Frieden.

    Ich spüre einen Luftzug, einen Hauch, der mir den Weg nach oben weist. Weit über mir erkenne ich einen Schimmer von Tageslicht. Ein schwaches, alkalisches Aroma nach Guano hängt in der Luft. Ich finde eine Tür, die halb zugerostet ist, sich aber noch öffnen lässt, und dann bin ich draußen, stehe wie eine Galionsfigur allein am äußersten Bug der Insel, und vom kreisrunden Krater der Geschützstellung, Überrest eines letzten verzweifelten Abwehrversuchs in einem längst vergangenen Krieg, blicke ich aufs Meer hinaus.

    Der Wind fährt schnell durch leeren Raum: Mächtige Luftströme saugen mir den Atem aus den Lungen. Und in einer einzigen großen Woge, als wirbelnde Masse steigen die Vögel auf. Schreiend, kreischend, rasend auf der Suche nach mir, hier, auf dieser Insel, diesem verlassenen Ort.

    * * *

    In diesem Buch bereisen wir einige der unheimlichsten und menschenleersten Orte auf Erden. Ein Niemandsland zwischen NATO-Drahtzäunen, wo Passagiermaschinen nach vier Jahrzehnten der Verwahrlosung auf dem Rollfeld vor sich hin rosten. Eine arsenvergiftete Lichtung, auf der kein Baum mehr wachsen kann. Die um einen schwelenden Kernreaktor errichtete Sperrzone. Einen sterbenden Salzsee, an dessen verödeter Küste sich ein Strand aus den Skeletten von Fischen gebildet hat, die einst darin schwammen.

    Diesen ungleichen Orten ist gemein, dass der Mensch sie verlassen hat, sei es aufgrund von Krieg oder Katastrophen, Krankheit oder wirtschaftlichem Niedergang. Die Natur hatte freien Lauf – und beschert uns unschätzbare Erkenntnisse über Lebensumwelten im stetigen Wandel.

    Dies ist ein Buch über die Natur, jedoch keines, das vom Reiz des Ursprünglichen schwärmt. Das ist gewissermaßen der Not geschuldet. Weltweit können immer weniger Orte die Bezeichnung »unberührt« für sich beanspruchen. Jüngste Untersuchungen konnten Mikroplastik sowie gefährliche menschengemachte Chemikalien sogar im Eis der Antarktis oder auf dem Boden der Tiefsee nachweisen. Luftaufnahmen des Amazonasbeckens zeigen tief im Wald verborgene Erdwälle, die letzte Überreste ganzer Zivilisationen sind. Der menschengemachte Klimawandel droht, jedes Ökosystem, jede Landschaft auf diesem Planeten umzuformen, und langlebige künstliche Materialien haben der Geologie unauslöschlich unseren Stempel aufgedrückt.

    Es ist nicht zu bestreiten, dass manche Orte davon relativ gesehen sehr viel weniger betroffen sind als andere. Was mich interessiert, ist jedoch nicht der Nachglanz unberührter Natur, während sie hinter dem Horizont verschwindet, sondern der schmale Silberstreif am Himmel, der vielleicht von einem neuen Morgen kündet, einer neuen Wildnis, während weltweit immer mehr Land sich selbst überlassen wird.

    In Teilen ist dieses Buch auch ein Nachsinnen über sich verändernde Demografien, da die Geburtenraten in der entwickelten Welt sinken und es die Landbevölkerung immer mehr in die Städte zieht. In beinahe der Hälfte aller Länder liegen die Geburtenraten mittlerweile unter dem Reproduktionsniveau; in Japan – wo die Bevölkerung Voraussagen zufolge bis 2049 von 127 Millionen auf 100 Millionen oder weniger fallen wird – ist bereits jede achte Immobilie verlassen, bis zum Jahr 2033 soll ein Drittel des Wohnbestands leerstehen (in Japan spricht man von akiya, Geisterhäusern.)

    Das hängt teilweise auch mit der sich verändernden Landwirtschaft zusammen. Intensive Landwirtschaft ist – trotz zahlreicher ökologischer Nachteile – effizienter und erzielt auf weniger Fläche höhere Erträge. Riesige Mengen »randständiger« Anbauflächen, insbesondere in Europa, Asien und Nordamerika, dürfen zu einem wilderen Dasein zurückfinden. Heute gibt es etwa 2,9 Milliarden Hektar »Sekundärvegetation« (das heißt verlassene Anbauflächen und Nutzwälder), das ist mehr als doppelt so viel, als es aktuell genutzte Kulturflächen gibt. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte die Zahl auf 5,2 Milliarden Hektar ansteigen.

    Wir befinden uns mitten in einem selbstgesteuerten Experiment zur Rückverwilderung. Das Verlassen von Orten ist Rückverwilderung im reinsten Wortsinn, da der Mensch sich zurückzieht und die Natur sich holt, was einst ihr gehörte. Solche Vorgänge haben im großen Maßstab völlig unbeobachtet stattgefunden, finden immer noch statt. Ich halte das für eine überaus aufregende Perspektive. »Die riesigen und weiterwachsenden Ausmaße sich erholender Ökosysteme weltweit«, so heißt es in einer kürzlich erschienenen Studie, »bieten nie dagewesene Chancen für ökologische Renaturierungsbemühungen, um ein sechstes Massenaussterben abzuschwächen.«

    Während der Arbeit an diesem Buch wurden wir von einer globalen Pandemie überrollt. Während dieser Zeit machten im Internet weltweit Berichte über Wildtiere die Runde, die sich in die ausgestorbenen Siedlungen vorwagten, während die Menschen in ihren Häusern und Wohnungen festsaßen. Im walisischen Llanduno stürmten marodierende Banden von Wildziegen die Straßen, im japanischen Nara grasten Sikahirsche auf Verkehrsinseln, in Santiago schlichen Pumas durch die Gassen, und durch die leere Innenstadt von Adelaide hüpften Kängurus.

    Obwohl die Motive durchaus eindrucksvoll waren, zeigten viele der prominentesten Fotos Tierpopulationen, die ohnehin an den Rändern menschlicher Siedlungsgebiete leben (die Sikahirsche beispielsweise werden regelmäßig von Touristen gefüttert – und waren wahrscheinlich auf der Suche nach einem Leckerbissen). Sie bewiesen weniger, dass die Natur sich erholte, sondern vielmehr, dass sie sich aus ihrem Versteck herauswagte. Allerdings riefen sie uns ins Gedächtnis, wie sehr sich unsere eigene Einflusssphäre selbst heute mit der nichtmenschlichen Welt überlagert und überkreuzt – und wie rasch Orte demnach von der Tierwelt kolonisiert werden, sobald der Mensch sie tatsächlich verlässt.

    In den folgenden Kapiteln erzähle ich die Geschichten von zwölf Orten rund um die Welt, und jede beleuchtet einen anderen Aspekt der Rückeroberung vom Menschen verlassener Orte durch die Natur. Diese Orte, die sich hinsichtlich Klima, Kultur und Geschichte stark unterscheiden, strahlen auf ihre ganz eigene Art Melancholie und Hoffnung aus: Sie zeigen uns, dass die Natur überall, ganz gleich wie groß die Zerstörung ist, einen Weg findet, aber auch, dass der menschliche Einfluss auf Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte wie ein Schatten auf diesen nicht mehr genutzten Flächen liegen wird.

    Manche dieser Orte sind tatsächliche Inseln, manche sind es im übertragenen Sinne – Wildnisenklaven in einem Meer aus Stein und Asphalt oder monokulturellen Anbauflächen. Die enormen Abraumhügel im schottischen West Lothian, denen wir im ersten Kapitel begegnen, wurden von der Ökologin Barbra Harvie als »Inselrefugialräume« des Lebens beschrieben, und von genau dieser Betrachtungsweise ist das ganze Buch geprägt.

    Der erste Teil behandelt vier Orte, die versinnbildlichen, inwiefern die Abwesenheit von Menschen es Flora und Fauna erlaubt, sich zu erholen – in manchen Fällen deutlich schneller, als man erwarten könnte. Wir betrachten die grundlegenden Prozesse der ökologischen Sukzession, erwägen das gewaltige Potenzial verlassener Landstriche zur Kohlenstoffbindung und untersuchen, inwieweit humanitäre Krisen wie Krieg und atomare Katastrophen Sperrzonen hervorgebracht haben, die gewissermaßen als strikte Naturreservate dienen – erschreckenderweise wiegen die positiven Auswirkungen der Abwesenheit von Menschen schwerer als der durch Kontamination oder Verminung angerichtete Schaden.

    Definitionsgemäß hat verlassenes Land einmal irgendjemandem gehört. Meine Erwartung war, dass Menschen ausschließlich als Negativfaktor Eingang in die Geschichten dieser Orte finden würden, doch im Zuge meiner Reisen und Nachforschungen wurde mir zunehmend klar, dass an den allermeisten Orten doch noch Menschen leben – manche harren seit langer Zeit an einem Ort aus und weigern sich, ihn zu verlassen, andere sind erst später gekommen, haben das Land besetzt, weil sie den Beschränkungen der Gesellschaft entkommen wollten oder schlicht Wohnraum brauchten. Mir ging auf, dass dies ein Schlüsselelement der Geschichte ist: die sozialen und ökonomischen Kräfte, die dazu führen, dass Orte verlassen werden, und die psychologischen Kräfte, die auf jene wirken, die noch da sind – die standhaft blieben, als alle anderen gingen – oder neu dazukamen.

    Sie zu ignorieren wäre, wie Henry James es einmal über seine eigenen Ruinenerkundungen schrieb, ein »herzloser Zeitvertreib«. Menschen, die in zu Großteilen verlassenen Gegenden wohnen – insbesondere in Detroit –, empfinden die Ästhetisierung ihrer Lage, also die Darstellung ihrer fotogenen Motive ohne sozialen Kontext, als eine Form des Voyeurismus oder sogar als »Verfallsporno«. Diese menschliche Komponente behandle ich vorrangig im zweiten Teil.

    Der Neurowissenschaftler David Eagleman hat einmal davon gesprochen, dass wir drei Tode erleben würden: den ersten, sobald der Körper seine Funktion einstellt, den zweiten beim Begräbnis und den dritten in »dem Moment, irgendwann in der Zukunft, wenn der eigene Name zum letzten Mal ausgesprochen wird«. Der dritte Teil ist die Auseinandersetzung mit einer ganz ähnlichen Vorstellung: Der lange Schatten, den wir als Spezies auf die Erde werfen, als eine Art Nachleben. In diesem Abschnitt bereise ich Orte, an denen unser Vermächtnis lange nach unserem Verschwinden fortbesteht, Orte, die verdeutlichen, dass die Lage komplizierter ist, als es in der Floskel »wir gehen und die Natur kehrt zurück« zum Ausdruck kommt. Wir haben uns in die DNA dieses Planeten eingeschrieben, die Erde selbst mit der Menschheitsgeschichte durchzogen. Jeder Lebensraum enthält Rückstände seiner Vergangenheit. Jedes Waldgebiet ist ein Memoir aus Blättern und Mikroben, die sein »ökologisches Gedächtnis« bilden. Wir können lernen, es zu lesen und in der Welt, die uns umgibt, die Geschichte ihrer Entwicklung erkennen. In England beispielsweise entdeckt man so vielleicht die Geister uralter Wälder, die nicht mehr existieren, indem man nach schattenliebenden Spezies wie Hasenglöckchen, Salbei-Gamander, Geißblatt oder dem Weichen Honiggras Ausschau hält – einer Flora, die eigentlich auf schattengesprenkelten Lichtungen gedeiht und nun in Gärten und auf Grünstreifen gestrandet ist: Indikatorspezies, die auf die Vergangenheit verweisen. Ähnlich wie unsere eigenen Erinnerungen uns beeinflussen, haben sie Auswirkungen auf das Ökosystem der Gegenwart.

    All das führt uns zum vierten Teil, der von der Erkundung zweier verlassener Orte handelt, die mir – und vielleicht auch Ihnen – erscheinen, als würden sie über ihre Gegenwart hinausweisen und uns einen Blick auf eine Zukunft erhaschen lassen, in der die Erderwärmung und andere menschliche Vermächtnisse eine ganz andere Welt hervorgebracht haben werden.

    Zwei Jahre habe ich mit Reisen an Orte verbracht, an denen das Schlimmste schon passiert ist. Landschaften, die durch Kriege, Kernschmelze, Naturkatastrophen, Desertifikation, Vergiftung, Strahlung und wirtschaftlichen Zusammenbruch zerstört worden sind. Eigentlich hätte das hier ein düsteres Buch werden müssen, eine Litanei der schrecklichsten Orte auf Erden. Tatsächlich ist es eher eine Geschichte über Erlösung geworden, darüber, wie die am schlimmsten verschmutzten Orte des Planeten – zerbombt, erstickt unter Ölteppichen, kontaminiert von radioaktivem Niederschlag oder all ihrer natürlich Ressourcen beraubt – sich durch ökologische Prozesse wiederherstellen können, wie die kühnsten Ruderalpflanzen Wurzeln schlagen und Beton und Schutt genauso besiedeln wie Sanddünen, wie die Paletten ökologischer Sukzession sich verändern, wenn Moos zu Goldgras wird, zu bunt leuchtenden Mohnblumen und Lupinen, zu Sträuchern und schließlich zu Baumbedeckung. Eine Geschichte darüber, dass es an einem bis zur Unkenntlichkeit veränderten Ort, wo jede Hoffnung verloren scheint, vielleicht doch noch Potenzial für eine andere Form von Leben gibt.

    Erster Teil

    IN ABSENTIA

    1DAS ÖDE LAND

    Five Sisters — West Lothian — Schottland

    Five Sisters

    Fünfundzwanzig Kilometer südwestlich von Edinburgh ragt eine knöcherne Faust aus einer zartgrünen Landschaft: fünf Gipfel aus roségoldenem Schutt, durch Gras und Moos miteinander verbunden, stehen da wie ein Gebirge auf dem Mars, gigantische Erdwälle. Tatsächlich sind es Schlackenhalden.

    Die Gipfel erheben sich entlang eines scharfen Grats vom selben Ausgangspunkt, in geometrischer Schlichtheit aufgefächert. Über diese Grate verliefen früher Schienen, auf denen Wagen voll mit tonnenweise dampfenden Felssplittern fuhren: Abfälle aus den frühen Tagen der modernen Ölindustrie.

    Dank einer innovativen Destillationsmethode, bei der aus diesen Gesteinssplittern Flüssigbrennstoff gepresst wurde, war Schottland ab 1860 etwa sechzig Jahre lang weltweit führend in der Produktion von Schieferöl. Diese sonderbaren Hügel sind ein Denkmal jener Jahre, in denen hier 120 Anlagen dröhnten und röhrten und dem Boden in dieser bis dahin verschlafenen Ackerbauprovinz jährlich 600 000 Barrel Öl abrangen. Dieser Vorgang war allerdings kostspielig und mühsam. Zur Gewinnung des Öls musste der Schiefer zerbrochen und hoch erhitzt werden. Dies produzierte riesige Mengen Abfall: Auf zehn Barrel Öl kamen sechs Tonnen feste Rückstände. Insgesamt waren das 200 Millionen Tonnen Schlacke, und irgendwo musste man damit abbleiben. So entstanden diese gigantischen Haufen. Siebenundzwanzig waren es insgesamt, neunzehn stehen bis heute.

    Doch die Bezeichnung Schlackehaufen wird ihrer Größe, ihrer Statur, ihrer konstanten Präsenz in der Landschaft, unnatürlich in Gestalt und Ausmaß, nicht gerecht. Lokal werden sie als bings bezeichnet, vom Altnordischen bingr – Halde, Kippe, Eimer.

    Diese spezielle Formation, die fünfzackige Pyramide, ist als Five Sisters bekannt. Sanfte Schrägen führen jeweils zum höchsten Punkt dieser Schwestern und brechen dann abrupt ab. Sie erheben sich aus dem Flachland einer ansonsten ziemlich unauffälligen Landschaft – matschige Felder, Strommasten, Heuballen, Kühe – und wurden so zum Kennzeichen der Region: manche eher pyramidenförmig oder eckig, andere organisch und formlos, manche noch immer mit ungeschlachten Hängen und flacher Hochebene, rot wie der Uluru.

    Die zunächst noch kleinen Haufen türmten sich immer höher auf und veränderten ihre Gestalt wie Dünen. Mit der Zeit wurden sie zu richtigen kleinen Hügeln. Und schließlich zu Bergen aus kleinen Steinsplittern – jeder so groß wie ein Fingernagel oder eine Münze, brüchig wie Terrakottascherben. Die Berge wuchsen und breiteten sich aus, als ein Karren nach dem anderen ausgekippt wurde. Sie gingen auf wie Brotlaibe und verschlangen alles, mit dem sie in Berührung kamen: reetgedeckte Cottages, Gehöfte, Bäume. Unter dem nördlichsten Arm der Five Sisters liegt ein ganzer viktorianischer Landsitz begraben – ein steinerner Prachtbrau mit großen Erkerfenstern und Kuppelturm.

    Die hiesige Ölproduktion wurde in großem Maßstab betrieben, bis die gewaltigen Flüssigölvorkommen im Nahen Osten den Markt beherrschten. Die letzte schottische Schiefermine wurde 1962 geschlossen und brachte das Ende einer lokalen Kultur und Lebensweise mit sich. Der nun weggebrochene Bergbau hatte den Menschen in den umliegenden Dörfern den Lebensunterhalt gesichert, und nur die riesigen, ziegelroten Bings erinnern heute noch daran. Lange Zeit galten sie als Schandfleck: fruchtloses Ödland, das sich über den Horizont erhebt und höchstens dazu taugt, den Menschen der Region den Bankrott einer Industrie und die Plünderung der Umwelt vorzuhalten. Niemand will über seine Schutthalden definiert werden. Doch was tut man damit? Das war unklar.

    Einige wurden eingeebnet. Andere wurden später noch einmal abgebaut, da den roten Steinsplittern, fachsprachlich blaes genannt, ein zweites Leben als Baumaterial zukam. Eine Zeit lang sah man sie plötzlich überall: Sie wurden zu rosafarbenen Quadern verarbeitet oder zu Splittbelag auf Autobahnen und Sportplätzen, wie auch an meiner Highschool. Blaes steckten in aufgeschürften Knien, sammelten sich im Profil der Sportschuhe, hinterließen typischen Staub auf den Pullis, die als Tormarkierung auf dem Boden lagen – und bildeten somit den ziegelroten Hintergrund des Erwachsenwerdens in unserer Gegend. Im Großen und Ganzen aber waren die Bings verlassen und wurden nicht weiter beachtet. Mit der Zeit gewöhnten sich die Dorfgemeinschaften in ihrem Schatten an ihre stille Anwesenheit. Irgendwann hatte man sie geradezu liebgewonnen.

    Die Bings zu finden ist einfach. Sie sind aus Kilometern Entfernung sichtbar. Man fährt ihnen einfach entgegen, bis es nicht mehr weitergeht und klettert über den Zaun. Kein Trara. Nur Schlackehaufen, groß wie Kathedralen, Hangars oder Bürogebäude, die in künstlichen Formationen aus dem Feld ragen.

    * * *

    Meine Tante und mein Onkel leben in West Lothian, nicht weit von den Five Sisters, ganz in der Nähe ihres noch größeren Verwandten in Grandykes. Als wir letztes Mal zu Besuch waren, fuhren mein Lebensgefährte und ich einen Umweg, um auf den schlafenden Riesen zu steigen. Das Licht war trüb und silbrig, der Himmel grau und mit Wattewolken verhangen. Wir parkten auf einem halb verfallenen Industriegelände zwischen angerosteten Wellblechbaracken und verblassten Schildern und betraten eine Landschaft von beinahe unglaublicher Seltsamkeit, als wären wir Pioniere auf einem unbekannten Planeten. Da standen von Wind und Regen geformte Solitäre und Brocken aus einem Konglomerat komprimierter blaes, eine ganz eigene Gesteinsart, marsrot und dort, wo die äußere Schicht abgeplatzt war und den Blick auf frisches Gestein freigab, gräulich-lila, glatt, beinahe ölig glänzend wie zersprungener Feuerstein, mit olivgrünem Schimmer – noch nicht durch Oxidation verfärbt.

    Die als blaes bezeichneten Steinsplitter sind ein Abfallprodukt der Ölindustrie des 19. Jahrhunderts.

    Tiefe, flaschengrüne Teiche hatten sich unten an den Hängen gesammelt, am Fuß jeder Senke und jeder Mulde, die sich im faltigen Relief der Halde geformt hatte, ihre Umrisse zeichneten sich im Giftgrün des Laichkrauts und der haarfeinen Gräser ab, mit denen das seichte Wasser durchsetzt war. Seerosen lugten über die Wasseroberfläche, auf der winzige Insekten vorbeiglitten. Spindeldürre, seidig-glänzende Birken sprossen mit unwahrscheinlichem Elan aus ihrem Schotterbett und trugen Knospen winziger neuer Blätter. Wir drängelten uns zwischen den Birken hindurch und folgten einem schmalen Pfad, der uns zum Fuß des eigentlichen Bings führte. Seine ausladenden roten Flanken ragten vor uns auf, das von Rissen durchzogene Relief wurde von der Vegetation dramatisch hervorgehoben und war von Spuren gezeichnet.

    Wir begannen den Aufstieg, kamen jedoch nur schwer voran. Die Steine hatten sich zu festen Konglomeraten verhärtet, die teilweise Felswände, teilweise Geröllhalden bildeten. An anderen Stellen war die äußerste Schicht grasbewachsen, aber knittrig wie Wäsche, wo die Haut abgerutscht war, und wenn wir die Füße daraufsetzten, brachen wir ein wie in Firnschnee. Splitt sammelte sich in unseren Schuhen. Wir mussten anhalten und sie ausleeren, und ich empfand etwas wie einen Anflug von Nostalgie.

    Wir arbeiteten uns bis hinauf zum Gipfel. Von der windgepeitschten Hochebene hatten wir einen Rundumblick über leergefegte Felder bis nach Niddry Castle, einem Wehrturm aus dem 16. Jahrhundert, dem ein weiterer Bing im Nacken saß, eine steile Klippe aus Schieferschlacke, rotgesichtig mit grünen und grauen Schlieren. Und dahinter erhoben sich stolz noch weitere seiner Art.

    Dort oben wuchs eine eigenartige Mischung von Pflanzen, es war schwierig zu bestimmen, mit welcher Art von Klima man es hier zu tun hatte. Rostrote Weidenröschentriebe wuchsen hier wie an einer beliebigen Landstraße. Doch davon abgesehen machte die Vegetation einen kargen, subarktischen Eindruck: ein dichter Bestand pelziger Blätter und sternförmiger Blumen, kurzes, helles Gras. Doch es gab auch Wiesenklee, dessen nektargefüllte Köpfchen sich gerade öffneten, und Fingerknabenkraut. Die ersten Hummeln des Jahres schlingerten vorüber, die Motoren brummten auf Hochtouren. Das Land schwelgte in der Sonnenwärme, stand kurz vor der Blüte. Es war Ende April. Unmöglich, da nicht an T. S. Eliot zu denken:

    April ist der übelste Monat von allen, treibt

    Flieder aus der toten Erde, mischt

    Erinnerung mit Lust, schreckt

    Spröde Wurzeln auf mit Frühlingsregen.

    Im Jahr 2004 hatte die Ökologin Barbra Harvie die Flora und Fauna der Bings untersucht und zur allgemeinen Überraschung herausgefunden, dass sie sich unbemerkt zu einem Hotspot der Tier- und Pflanzenwelt entwickelt hatten. Sie prägte dafür den Begriff »Inselrefugialräume«: kleine verwilderte Inseln in einer von Landwirtschaft und Städtebau geprägten Umgebung. Hasen und Dachse, Moorschneehühner, Feldlerchen, Braune Waldvögel und Mittlere Weinfalter sowie Zehnpunkt-Marienkäfer hatten sich angesiedelt. Unter den Pflanzen fand sich eine große Bandbreite an Orchideenarten – etwa die überaus seltene Epipactis youngiana, eine zarte, vielköpfige Blume in Blassgrün und Rosa, die in Großbritannien nur an zehn Standorten vorkommt (allesamt ehemalige Industriegelände, zwei davon Bings); das zottige Männliche Knabenkraut in Violett, die Grünliche Waldhyazinthe mit ihren geflügelten Blütenblättern – und ein genetisch einzigartiger lichter Birkenwald, der sich auf natürliche Weise am Fuß des winzigen Bings bei Mid Breich angesiedelt hatte.

    Auf einer Schlackenhalde im schottischen West Lothian gedeiht leuchtend grüner Bewuchs inmitten von Schiefersplitt.

    Insgesamt fand Harvie über dreihundertfünfzig Pflanzenarten auf den Bings – mehr als am Ben Nevis –, darunter acht hierzulande seltene Arten von Moosen und Flechten wie das grazile Blattlose Koboldmoos, dessen feine Stämmchen kleine Schilde gen Himmel recken wie ein Miniaturheer. Über eine Zeitspanne von fünfzig Jahren war dieses ehemals kahle Ödland zuckend und zitternd zum Leben erwacht.

    Die Menschen in Eliots ödem Land – zumindest einige – entpuppen sich als seine Zeitgenossen: moderne Pendler, die im Morgengrauen über die London Bridge strömen, einsame Stenotypistinnen, die ihre Abende in Mietzimmern vertrödeln. In gewissem Sinne wohnen wir alle noch immer im öden Land – damals, als ich am Bug dieses großen Mahnmals der Umweltzerstörung stand, spürte ich das ganz deutlich.

    Was sind das für Wurzeln, die krallen, was für Äste wachsen

    Aus diesem steinernen Schutt?

    Eliots ödes Land geht auf den »finsteren Wald« der keltischen Mythologie zurück, ein »unbeschreiblich fruchtloses« Land, das ein Held durchqueren muss, um die Anderswelt zu finden, oder den Heiligen Gral. Auch die Bings bieten uns einen Vorgeschmack darauf, was uns womöglich auf der anderen Seite erwartet: Erholung und Rückeroberung. Ein Ökosystem, das stur neues Leben bildet und sich selbst mit aller Kraft aus dem Ruin holt. Das von vorne beginnt und etwas von Schönheit erschafft.

    * * *

    Die auf 500° C erhitzten Schiefersplitter wurden noch glühend heiß auf der Kippe abgeladen, sodass zunächst eine weitläufige, sterile Wüste entstand, auf der weder Samen noch Sporen überleben konnten. Der Bewuchs, den wir nun sehen, hat also bei Null begonnen, ohne Erde noch sonst irgendetwas, ein als »Primärsukzession« bekannter Vorgang.

    Zuerst kamen die Pionierpflanzen: Filigrane Laubflechten mit gekräuselten Rändern, die sich zu korallenriffartigen Verbänden zusammenfinden, sowie Stereocaulon, eine weiße Strauchflechte, die Krusten bildet. Grünes Moos legte sich wie eine Picknickdecke auf den Schutt, weich und einladend. Dann folgten die Ruderalpflanzen – vom Lateinischen rudera: zum Schutt gehörend –, Wildblumen und tiefwurzelnde Gräser, die die losen Geröllfelder besiedeln und sie zusammenhalten, wie Strandhafer Sanddünen zusammenhält: Wundklee, Leinkraut, Hasenglöckchen, Wegerich, Kleiner Klappertopf, Mastkraut, Ehrenpreis und Süßdolde. In den feuchten Rissen hielten Weißdorn, Hagebutte und Birke Einzug, schlugen Wurzeln.

    Sie alle erschienen wie von Zauberhand: Entweder trugen der Wind oder Vögel sie herbei, oder sie stammten aus Wildtierkot (in der Ökologie kennt man dafür den poetischen Begriff »Samenregen«). Sie sind die wenigen Überlebenden eines viel größeren Experiments, der harte Kern, der sich auf den Halden halten konnte. Je mehr von ihnen schon da sind, desto leichter wird es auch für andere, da sich organische Materie in Form von Laubkompost, Totholz und Algen ansammelt und der nächsten Generation als Nährboden dient. Zu Beginn waren die Bings also höchstwahrscheinlich speziesarm, an ihren Flanken wird es Fluktuationen von Arten gegeben haben, die einander abwechselten und neue Formen des Werdens ausprobierten. Gebirgsflora, gewöhnliche Gräser, ausgebüchste Zierpflanzen. Mit der Zeit beginnen manche Spezies, sich zu häufen, werden sesshaft. Und mittlerweile fungieren die Bings quasi als Archiv der Biodiversität in der Umgebung.

    Und obwohl die Bings ein erstaunliches Beispiel für Primärsukzession in Aktion sind, ist das kein Sonderfall. In der Natur kommen diese Prozesse allerdings nur selten vor – auf neugebildeten Dünen etwa, oder frisch von Unterwasservulkanen ausgespuckten Inseln. Doch Menschen haben die schlechte Angewohnheit, das Land allen Lebens zu berauben und alles auf Null zu setzen.

    Nach dem als blitz bezeichnete Luftangriff der Wehrmacht auf London beobachtete E.J. Salisbury, der Direktor der

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