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Der Hymenjäger
Der Hymenjäger
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eBook237 Seiten2 Stunden

Der Hymenjäger

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Über dieses E-Book

Heiligland, eine Nordseeinsel vor der Deutschen Küste, wird von einem Sturm und einem toten Mädchen heimgesucht. Isoliert vom Festland und nahezu vollständig evakuiert, muss die kleine Polizeistation den Spagat zwischen Inselschutz und Tätersuche vollbringen. Die Auswüche des stärksten Unwetters seit Jahrzehnten vermischen sich mit der Tatsache, dass die Genitalien des Mädchens verstümmelt wurden - inmitten des Sturms auf einer fast verlassenen Insel. Zurückgelassen mit dem harten Kern aus renitenten Insulanern beginnt die Jagd.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Nov. 2020
ISBN9783752921106
Der Hymenjäger
Autor

David Goliath

David Goliath ist ein ehemaliger Schlagzeuger und Songwriter aus Frankfurt am Main. www.ichbindavidgoliath.de

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    Buchvorschau

    Der Hymenjäger - David Goliath

    Haftungsausschluss

    Fiktiv.

    Teil 1

    „Green es deät Lun,

    Rooad sen deät Bru´n,

    Wit es deät Sun."

    Heiligländer Friesisch

    [Grün ist das Land,

    Rot ist die Kant,

    Weiß ist der Sand.]

    Wahlspruch und Wappenfarben der Nordseeinsel Heiligland. Bru´n, oder Kant, meint die markanten Feuersteinklippen.

    Sturm

    Sie hämmern gegen unsere Tür, wie wildgewordene Tiere oder blutrünstige Zombies. Es ist mitten in der Nacht. Erst dachte ich, dass es der Orkan sei, der uns seit Sonnenuntergang in Atem hält. Man gewöhnt sich so schnell an das stetige Klappern, Klopfen und Pfeifen, dass man sich neue Einschlafrituale suchen muss, wenn der Orkan irgendwann abflaut.

    Widerwillig drehe ich mich zum Nachttisch, wo mein Diensthandy liegt. Ich taste nach einer irgendeiner Taste und weiß, dass ich erfolgreich war, als ich geblendet werde, obwohl ich die Lider halb geschlossen halte. Die Geisterstunde ist längst vorüber. Mein verschwommener Blick kann die Zahlen nicht genau erfassen. Eine fette Null führt die unchristliche Uhrzeit an.

    Das Hämmern hört nicht auf. Es könnte der Orkan sein, aber dann müssten auch die Fensterladen hier oben im Schlafzimmer lauter klappern. Es erscheint zu lokal, zu fokussiert auf die Haustür.

    Enna, meine Frau, würde mich normalerweise wachrütteln, aber sie liegt nicht neben mir.

    Schlaftrunken widme ich mich dem Handy. Kein Anruf. Kann es dann so dringend sein, wenn ich keinen Anruf verpasst habe? Blinzelnd prüfe ich die Balken, die den Funkempfang darstellen. Der schwächste und kleinste Balken wechselt sich mit dem Piktogramm ab, das ein fehlendes Funknetz anzeigt. Offenbar beeinträchtigt der Orkan auch die Moderne, mit ihren schnelllebigen Informationen und Verbindungen.

    Das aufdringliche Klopfen wird eindringlicher. Zwischen den zischenden Windböen, die sich im Dach verfangen und es am liebsten am Stück forttragen würden, mache ich Laute aus – Rufe. Die Ruhestörer scheinen mich zu rufen.

    Stöhnend hieve ich mich aus dem Bett, denn es ist mein Job.

    Ich schlüpfe in meine Uniform, grabsche mein Diensthandy und eile nach unten, vorbei am Kinderzimmer, wo normalerweise Ivo, 7, und Fee, 5, gemeinsam schlummern, denn wir leben in bescheidenen Verhältnissen in kleinen Häusern aus den 50ern, schnell aufgebaut, nachdem die abziehenden Briten ein gesprengtes, vermintes Trümmerfeld hinterlassen hatten und es lange nicht so aussah, dass Heiligland jemals wieder zu Deutschland gehören würde oder überhaupt bewohnbar wäre. Normalerweise, denn auch meine beiden Kinder sind nicht da. Zusammen mit meiner Frau sind sie gestern Abend mit der letzten Fähre zum Festland geflüchtet, auf Geheiß des Bürgermeisters, der hier in Absprache mit dem Feuerwehrkommandanten den Inselschutz, oder Katastrophenschutz, übernimmt.

    Im Erdgeschoss ziehe ich meine wasserdichte Wetterjacke drüber, schnappe den Generalschlüsselbund und werfe noch einen Kaugummi ein.

    »Kommissoor!«, höre ich aufgeregte Stimmen von draußen, die gegen die Böen ankämpfen. Dazwischen poltern Fäuste und Fingerknöchel unablässig gegen die Haustür. Sie hätten auch einfach anrufen können, über das kabelgebundene Festnetztelefon zum Beispiel, aber das Inselvolk hat so manch eigensinnige Angewohnheiten.

    Als Festlandmensch muss man sich, daneben, auch erst einmal an die beharrliche Verwendung des Inseldialektes gewöhnen. Nach mittlerweile zehn Jahren im unermüdlichen Einsatz rutsche ich manchmal schon selbst ins Halunder ab – wie der Heiligländer Friesendialekt heißt.

    »Moin!«, grüße ich eine nervöse Menschenschar, die sich nachts vor meinem Haus versammelt hat – bi Skitwedder, bei Schlechtwetter - und die Kapuzen der Ponchos festhalten muss, die sich sonst wie Segel mit Wind aufpumpen und den Träger mitreißen würden.

    Sofort raubt mir der Sturm die Luft. Beschleunigte Regentropfen dellen mein Gesicht ein. Ich muss meine Augen zusammenkneifen – Wind und Wasser fordern nach einer Schutzbrille. Die Laternen wackeln unheilvoll. Man hofft, dass alles niet- und nagelfest verankert ist. Land unter, könnte man sagen, aber dann wäre von der Insel nicht mehr viel übrig.

    Die Menschenschar ist die Mehrheit der Sturköpfe, die auf der dem Orkan schutzlos ausgelieferten Aufschüttung verharrt. Eigentlich hätte man alles und jeden von Heiligland herunterholen müssen, aber die Angst vor Piraterie, Plünderung und Anarchie ist zu groß. Ich hatte keine Wahl – es ist mein Job.

    »Hallo!«, »Hallo!«, »Hallo!«, »Hallo!«, »Hallo!«, »Hallo!«, grüßt man mich nacheinander zurück. Jeder nickt mit dem Kopf, was auch auf den Einfluss der Windkapriolen zurückzuführen sein könnte. Hände schüttelt man generell nicht – wo würde das hinführen, wenn man sich an einem Tag ständig über den Weg läuft. Mein nordisches »Moin!« wird toleriert, auch wenn ich meine inselferne Herkunft dadurch betone. Meine Stellung, meine Arbeit und mein Durchhaltevermögen werden honoriert. Da überhört man den Lapsus gern.

    Ich kenne jeden persönlich, wie auch mich jeder persönlich kennt. Heiligland ist klein. Knapp 1500 Einwohner zählt das durch eine Sturmflut vor 300 Jahren zweigeteilte Eiland, rund 70 Kilometer vor der Deutschen Küste.

    Neben dem Bürgermeister, dem Leuchtturmwärter, dem Feuerwehrkommandanten und dem Chef-Ornithologen schauen mich noch die Pfarrerin und die Fremdenführerin an. Bis auf den Leuchtturmwärter alles Einheimische seit Geburt. Und der greise Leuchtturmwärter bediente schon das Leuchtfeuer, als meine Eltern noch nicht einmal daran dachten, überhaupt Nachwuchs in die Welt zu setzen. Abgesehen vom selbsternannten Inselschutz gehört dem Rest eine Backpfeife verpasst, denn weder ein Vogelkundler noch eine Gottesbotschafterin, noch eine Tourismuskauffrau sollten ihr Leben riskieren, um dem Orkan die kalte Schulter zu zeigen.

    »Kommissoor Jansen, wir haben ein Problem«, will mich der Bürgermeister mit gepresster Stimme einweihen und geht auf Tuchfühlung, da der Orkan die Unterhaltung sabotiert. Er kommt so nah wie möglich und lehnt sich dramatisch zu mir, begünstigt durch den Wind. Seine Brillengläser taugen nicht mehr zur Durchsicht, denn nasser Belag erneuert sich fortwährend. »Mord.«

    Erstaunt hebe ich die Augenbrauen, versuche zu ergründen, ob dies ein Scherz sei, doch niemand lacht. Im Gegenteil, fahle, erschrockene Grimassen fixieren mich. Angesichts der Uhrzeit, der unwirtlichen Witterung und der zusammengewürfelten Gruppe kann ich einen makabren Streich ausschließen. Den letzten Mord gab es vor 300 Jahren, kurz vor der Sturmflut, als weibliche Eifersucht einer Nebenbuhlerin das Leben kostete – mit der dreizackigen Forke durch die Gurgel, wie das dünne Strafregister dokumentiert hat. Die Delinquentin wurde hingerichtet. Als die Sturmflut folgte, betete man dafür, dass sie keine Hexe war, die einen Fluch ausgesprochen hatte. Dämme und Wälle brachen. Häuser wurden hinfort gerissen. Menschen verschwanden. Die schäumende See teilte die Insel. Aus Ehrfurcht ist die Erwähnung ihres Namens verboten.

    »Kum!«, winkt mich der Leuchtturmwärter lautstark auf die Straße. Er humpelt voran, gegen den Sturm gelehnt. Der Tross folgt ihm wackelig.

    Auf dem Weg reden wir nicht viel. Die Böen schlucken jedweden Ansatz; der Regen ertränkt unsere Worte. Sie müssen mir nicht sagen, wohin es geht. Ich folge ihnen blind. Wenn selbst der Bürgermeister aus dem Bett geklingelt wurde, muss es einen triftigen Grund geben.

    Vom industriell geprägten Hafenbecken in Deelerlun, dem Unterland im Süden, geht es durch Meddellun, dem beschaulichen, kargen Mittelland, aufwärts ins Bopperlun, dem plateauähnlichen Oberland und Tagestouristenmagnet, gleichzeitig Aushängeschild und Naturschutzgebiet. Nach den Treppen hinauf ins Bopperlun steuern wir den aufragenden Leuchtturm an, dessen Leuchtfeuer 30 Meter über uns unbeirrt seine Runden dreht, dabei die Dunkelheit im Turnus von fünf Sekunden im horizontalen Duktus durchschneidet, Seefahrer vor den Feuersteinklippen warnt und unser Lebenszeichen ist. Selbst in der schwärzesten Nacht und im heftigsten Sturm zeigt es der Deutschen Bucht, dass wir standhalten, weit draußen auf offener See.

    Ich bin weder überrascht vom Schritttempo noch davon, dass der buckelige Leuchtturmwärter voranmarschiert, ohne Ermüdungserscheinungen. Heiligland ist praktisch autofrei. Hier läuft man jeden Tag. In 30 Minuten ist man auf der Hauptinsel vom Südzipfel bis zur Nordspitze gelaufen, wo sich unser Postkartenfelsturm Nathurn gegen Verwitterung und Brandung aufbäumt, eines Tages aber verlieren wird und einstürzt, wie das Gestein um ihn herum bereits zuvor.

    Bis auf den durch die Membranjacke geschützten Oberkörper werde ich vom Niederschlag komplett eingeweicht. Würde ich eine Dienstwaffe tragen, würden die Kammern mit Wasser volllaufen und ihren Dienst versagen. So erspare ich mir die aufwendige Zerlegung und Trocknung. Heiligland ist nicht nur autofrei, sondern auch waffenfrei – normalerweise.

    Im Leuchtturm angekommen sind wir alle froh, aus dem nächtlichen Schauer zu sein. Die ersten Sekunden vergehen damit, dass sich jeder wie ein nasser Hund schüttelt, damit die Feuchtigkeit nicht auch noch in die letzte Ritze dringt.

    »Hiir lang«, führt uns der Leuchtturmwärter weiter ins Gebäude. Bis auf mich und den Bürgermeister bleibt der Rest im Eingangsbereich zurück. Das Schluchzen der Damen kommt nicht vom Wetter, sondern vom Schock. Anscheinend hat jeder der Anwesenden vor mir erfahren, was mir offenbar gleich gezeigt wird.

    Es geht in den Atomschutzbunker, der den Sockel des Leuchtturmes bildet. Hätten die Alliierten damals ganze Arbeit geleistet, wäre auch dieses Relikt im Bombenhagel zerstört worden. So erfreuen wir uns, neben den Touristenmassen, an dem einzigen Vorkriegsgebäude in Lun, wie wir Heiligland nennen. Die heiligen Hallen des Leuchtturms darf allerdings niemand betreten, da die alte Technik zu störanfällig ist. Führungen oder Besichtigungen bleiben dem inneren Zirkel der Insel vorbehalten – uns.

    Bevor der Leuchtturmwärter den Bunker öffnet, schaut er mich verschwörerisch an.

    »Sek en skreklig Soak hi wi do no aal miin Doag ni sen´n«, sagt er mit bebender Stimme. So eine schreckliche Sache habe er sein Lebtag noch nicht gesehen. Dann schüttelt er sein graubärtiges Haupt. »Muurt. Deät heart ni tu Lun.«

    Mord. Das gehört nicht zu Heiligland. Ich nicke. Ich habe verstanden und bin seiner Meinung.

    Er öffnet die schwere Stahltür und bittet uns hinein, bleibt aber selbst außerhalb. Der Bürgermeister geht vor, sich seine Brille an der offensichtlich hastig gebundenen Krawatte säubernd, die er durch eine Regenjacke vor dem Sturm schützte. Die Krawatte ist sein Markenzeichen, zusammen mit der ultraflachen, teuer wirkenden Brille. Ein Halunder, aber seinem Amt entsprechend weltmännisch gekleidet, oftmals verwechselt mit den hohen Herren der Windkraftindustrie, die sich hier öfter blicken lassen.

    Im Bunker erwartet uns trister Stahlbeton. Dicke Wände schotten uns mit einem Mal ab. Ein kleines Deckenlicht springt an. Die Stromversorgung ist durch unser inseleigenes Kraftwerk gesichert, gespeist durch die Offshore-Windparks, weit draußen vor den Steilklippen, oder den Notstromdiesel, der für die jetzige, deutlich geschrumpfte Einwohnerzahl für mindestens ein Jahr halten würde.

    Mir stockt der Atem.

    In der Mitte des Raumes liegt ein Mädchen, eine junge Frau, auf dem Rücken. Unter Kopf und Schultern hat sich eine Blutlache gebildet, schon halb vertrocknet. Sie trägt ein helles Kleid, das sich im oberen Brustbereich mit Blut vollgesogen hat.

    »Grausam«, flüstert der Bürgermeister neben mir, der sich abwendet, das Bild aber scheinbar heute nicht zum ersten Mal sieht.

    »Grausoam«, echot der Leuchtturmwärter vor der Tür.

    Ich mustere den Raum, suche nach Abweichungen. Die Tür, durch die wir kamen, ist der einzige Zugang. Doch Schleifspuren oder Blutspuren kann ich nicht entdecken. Lediglich dutzende Fußabdrücke, die sich in den dreckigen Staub auf dem grauen Steinboden gestanzt haben – mutmaßlich die Schuhsohlen der Gruppe, die mich geweckt hat.

    Auch Blutspritzer sehe ich nicht an den Wänden oder um das Opfer herum. Als hätte man sie friedlich abgelegt und über einen sanften Zugang am Hals leerlaufen lassen.

    Sie ist blass. An ihren nackten Waden haben sich an der unteren Seite bereits rot-violette Flecken gebildet – abgesacktes Blut. Sie ist tot. Der saubere Kehlschnitt bestätigt die erste Sichtung. Aus der offenen Halswunde sickert kein Blut mehr. Ich fühle mich plötzlich wie der junge Kieler Polizeischüler, der die Abschnitte bei der Kriminalpolizei mit Ausflügen in die Pathologie erlebt – und nicht mehr vergisst.

    »Ist Isak informiert?«, frage ich den Bürgermeister, der mit dem Rücken zu mir steht, durch die Tür in die Eingangshalle des Leuchtturmes starrt und schwer atmet.

    »Ja«, krächzt er. »Er müsste gleich da sein.«

    Draußen peitscht der Sturm die Wellen gegen die Klippen, auf denen wir uns befinden. Die Natur zeigt ihre rohe Seite. In solchen Moment wird man sich gewahr, wie hilflos man doch ist.

    Bevor ich die Leiche umkreise, mache ich Bilder mit meinem Diensthandy, oder Alleskönner. Ich weiß nicht, wie lange der Orkan noch wütet, aber wenn er es schon mehrere Stunden kann, dann kann er es auch mehrere Tage. Kriminalpolizei und Spurensicherung vom Festland können nicht herkommen, solange die Fähr- und Flugverbindungen naturbedingt gekappt sind. Demnach liegt es an mir, alles in die Wege zu leiten. Zwar steht ein Seenotkreuzer im Hafen von Lun, doch ich will niemandem den haarsträubenden Wellengang zumuten, selbst wenn die Seenotretter genau für solche Situationen ausgestattet und ausgebildet sind.

    Zeitgleich fertige ich mir erste Notizen an.

    Ich kenne das Mädchen. Viele kennen sie.

    Lotte Fisker. Die Tochter einer angestammten Fischerfamilie, die mittlerweile ein kleines Hotel betreibt. Ich weiß, dass sie gerade erst in den Familienbetrieb eingestiegen ist, nachdem sie die Schule beendet hatte.

    Vor über zehn Jahren hatte ich den letzten Kontakt zu einem Gewaltverbrechen dieses Ausmaßes – auf dem Festland. Seitdem schlage ich mich hier mit prügelnden Sauftouristen, Taschendieben, jugendlichen Klingelstreichen und Bombenentschärfungen herum. Die meiste Zeit kann man auf Heiligland die Ruhe genießen, wenn die Tagestouristen in der Sommersaison abends die Insel verlassen oder wie jetzt in der Wintersaison gar nicht erst auftauchen, und das milde Klima, das uns trotz der Stürme und des Nebels mit Hitze und Kälte verschont und im Mittel einige Sonnenstunden schenkt.

    Ich versuche mich zu erinnern, versuche den Katalog abzuarbeiten, den ich vor allem in der Ausbildung beigebracht bekam, als ich noch in der alten hanseatischen Heimat richtige Polizeiarbeit lernte und anwendete. Wichtig sind Fotos, Zeugen und Uhrzeiten – und menschliche Spuren, wenn man die Ausstattung, das Wissen und das Labor dafür hätte. Die nicht vorhandene Kameraüberwachung und die störanfälligen Funkmasten werden mir keine Hilfe sein, wenn ich Lun von einem Scheusal befreien soll.

    Mord.

    Der Bürgermeister hat wohl oder übel Recht. Es sieht nach einem grausamen Mord aus. Etwas, das die Idylle der Insel auf den Kopf stellen kann – mehr als dieser Orkan.

    Apathisch fotografiere ich das Mädchen aus allen Winkeln. Dabei taste ich sie vorsichtig ab. Ihr enges Kleid kann nichts verbergen. Außer ihrer Unterwäsche spüre ich keine Gegenstände an ihr. Für den stürmischen Herbst ist sie viel zu dünn gekleidet, aber ich vermute, dass sie eine Jacke trug. Portemonnaie und Handy dürften in dieser verschollenen Jacke stecken, oder in der ebenfalls verschollenen Handtasche, die sie möglicherweise bei sich hatte.

    »Jansen«, tönt es hinter mir abfällig.

    Die bekannte Stimme aus der Hölle. Ich verwehre mein Antlitz und verweigere den Gruß. Dr. Isak stürmt an mir vorbei, schnurstracks zum Opfer. Doktor. Pah!, Hochverrat an der Zunft, mit deren Titel er sich schmückt.

    »Tod durch Blutverlust nach Schnittverletzung am Hals«, lautet seine messerscharfe Diagnose nach kurzer Begutachtung. Er würdigt mich keines Blickes.

    »Ein Messer, würde ich sagen«, fügt er fachmännisch hinzu.

    Sein ekelhaftes Parfüm flutet den Raum, als wäre es eine Nachhut, die mich foltern will – aus Vergnügen. Isak schnauft. Anscheinend ist er durch den Regen gerannt. Bei seiner Wampe hat der Kreislauf ordentlich zu rackern.

    Der Chirurg, der in der Nordseeklinik im kargen Meddellun sonst nur leichtsinnige Touristen einrenkt und zusammennäht, mustert das hübsche, tote Mädchen, mit übergestreiften Einweghandschuhen. Er leuchtet in ihre glanzlosen, geschrumpften Stecknadelpupillen, um den Lichtreflex zu testen – mutmaßlich ausbleibend. Danach studiert er ihren ausgetrockneten Mundraum. Anschließend sucht er nach weiteren Verletzungen, angefangen beim Schädel, über den Torso, bis zu den Fußknöcheln, oberhalb der Schuhe. Es sieht professionell aus, doch ich kenne seine Qualitäten. Er ist nicht auf Heiligland, um seine ärztliche Reputation zu stärken. Er ist hier, weil er die kalte, klare, jod- und sauerstoffreiche Seeluft braucht, damit seine Lungen nicht kollabieren, zerstört vom jahrelangen, exzessiven Nikotinkonsum. Immerhin ist Heiligland ein zertifiziertes Seeheilbad. Medizinisch ist er kein Wellenbrecher, eher eine bauchige Boje ohne Verankerung, sprich Rückgrat. Mein Bestreben ist es, den Kontakt mit ihm zu minimieren. Als Polizeichef ist das nicht so einfach, aber ich habe meine Leute und kommuniziere

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