Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Agonist
Der Agonist
Der Agonist
eBook459 Seiten5 Stunden

Der Agonist

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Agonist – altgriechisch: "der Handelnde"

In der Pharmakologie eine Substanz, die die Signalübermittlung in einer Zelle durch Okkupierung des zugehörigen Rezeptors aktiviert. Fremde Wirkstoffe können die Transmitter überlisten, indem sie die Wirkung körpereigener Substanzen imitieren, sie mitunter ersetzen.

In der Anatomie ein Muskel, der im Zusammenspiel mit dem muskulären Gegenspieler eine Balance schafft, durch die eine kontrollierte Bewegung möglich ist. Erst die Hemmung vermeidet eine Überregung. Versagt diese Regulation im zentralen Nervensystem, kann es zu einer Epilepsie kommen.

Neu-Berlin, 1930.

Maximus "Max" Mayerz rutscht als kleinkrimineller Polizist zwischen die Fronten, als das Verbot von Limonade die zuckersüchtige Metropole Neu-Berlin spaltet. Durch die Entführung von Frau und Kind verwässert sein moralischer Kompass, beeinflusst von einem erweckten, zweiten Ich, das ihn mit verschleierndem Halstuch und Maschinengewehr zu einem Dorn für das Auge des Gesetzes und zur Marionette der Unterwelt macht. Auf der Suche nach seiner Frau erschüttert er die brüchige Waffenruhe der komatösen, korrumpierten Stadt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Dez. 2020
ISBN9783752927016
Der Agonist
Autor

David Goliath

David Goliath ist ein ehemaliger Schlagzeuger und Songwriter aus Frankfurt am Main. www.ichbindavidgoliath.de

Mehr von David Goliath lesen

Ähnlich wie Der Agonist

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Der Agonist

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Agonist - David Goliath

    Haftung

    Fiktiv.

    Herkunft

    Agonist – altgriechisch „der Handelnde"

    In der Pharmakologie eine Substanz, die die Signalübermittlung in einer Zelle durch Okkupierung des zugehörigen Rezeptors aktiviert. Fremde Wirkstoffe können die Transmitter überlisten, indem sie die Wirkung körpereigener Substanzen imitieren, sie mitunter ersetzen.

    In der Anatomie ein Muskel, der im Zusammenspiel mit dem muskulären Gegenspieler eine Balance schafft, durch die eine kontrollierte Bewegung möglich ist. Erst die Hemmung vermeidet eine Überregung. Versagt diese Regulation im zentralen Nervensystem, kann es zu einer Epilepsie kommen.

    Habitat

    Neu-Berlin.

    1930

    Hähne

    Limonadenlimitierung.

    Polizeidirektor Gordon Godot starrte auf die reißerische Schlagzeile der Tageszeitung. An seiner Brust funkelte eine silberne Polizeimarke, die einzig von den goldenen Knöpfen auf seinen Schultern überthront wurde. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Da schien etwas in Gang geraten zu sein, was ihn nicht erfreute. Zum einen der Mehraufwand an Polizeiarbeit, den ein jedes Verbot mit sich brachte. Zum anderen eine Illegalisierung seiner liebgewonnenen Gewohnheit. Zum jetzigen Zeitpunkt wusste er noch nicht, mit welcher neuen Sucht er die zukünftig fehlende Befriedigung seiner Leidenschaft für Zuckerwasser kompensieren konnte. Hahnenweitwurf vielleicht.

    Und obwohl er den Neu-Berlin Herold schätzte, würde er das einzige Druckerzeugnis der Stadt am liebsten in der Luft zerreißen wollen. Allein die Tatsache, dass Bürgermeister Bruno Blutmond mit seinen Fingern auf der Zeitung verweilte, hinderte den Polizeidirektor daran.

    »Ein herber Schlag«, murmelte der Bürgermeister zerknirscht. Angesichts der steigenden Kriminalität und dem zunehmenden Verfall wurde das Sekret des Satans per Dekret zur Sünde erklärt. Der Erlass überstieg seine Gehaltsstufe und kam von ganz oben vom Reichspräsidenten.

    Neu-Berlin war mittlerweile zu einem fettleibigen Abszess von hyperaggressiven Suchtkranken verkommen, deren Exzess des flüssigen Goldes monochrome Tristesse einkehren ließ. Die Karotten verrotteten in den Auslagen der sterbenden Gemüsehändler und lockten weiteres Ungeziefer an, während den Ansässigen die Zähne ausfielen und Durchfall die Kanäle verstopfte.

    »Ein bitterer Verlust«, stimmte Gordon Godot nun auch verbal in den traurigen Tenor ein.

    Ein halbleeres Glas stand auf dem Schreibtisch. Das grelle Gelb der Flüssigkeit stach in die Augen, lockte aber gleichzeitig die Schwachen an. Das stetige Blubbern der spritzenden Kohlensäurebläschen klang wie ein Kinderlied. Es animierte und ließ Herzen höher schlagen. Ein süßlicher Geruch überlagerte den Gestank alter Männer und die abgestandene Luft im Raum. Die beiden Statthalter schauten wehmütig und doch lüstern auf das Glas. Speichel sammelte sich in den Mündern. Blutmond, sitzend und mit kürzerem Abstand zum Glas, griff zu und trank die Limonade auf ex. Godot, vorm Schreibtisch stehend mit einer Hand daran abgestützt wie ein debiler Schoßhund, konnte nur neidisch zuschauen. Sein Glas hatte er schon vor einer ganzen Weile geleert. Jetzt bereute er seine ungebremsten Gelüste. Hätte er sich doch noch einen Schluck aufgehoben, wie es der Bürgermeister getan hatte. Weitsichtigkeit unterschied die beiden Veteranen. Deshalb war Gordon Godot auch nur die Nummer zwei von Neu-Berlin.

    »Andererseits stehen uns erträgliche Zeiten bevor«, sprach Blutmond nun lauter und selbstsicher. »Steuern werden dokumentiert und zu einem Großteil zur Deckung öffentlicher Interessen verwendet. Schmiergeld fließt direkt an uns. Wir müssen dies weder irgendwo verzeichnen noch für Straßenbau oder die Bibliothek aus dem Fenster werfen. Stattdessen kann ich mir mein Privatdomizil zu einem Schloss umbauen lassen. So wie es einem Fürst gebührt.«

    Blutmond kippelte entspannt mit dem vierbeinigen Stuhl. Seine Hände waren über seiner Wampe ineinander gefaltet.

    Godot wischte sich Sabber vom Mundwinkel. »Klingt gut. Aber Schmiergeld müssen wir teilen. Jeder meiner Männer hat viele Münder zu stopfen. Viel wird da für Ihr Schloss und meine Wettschulden nicht übrig bleiben.«

    Blutmond hörte auf zu kippeln und lehnte sich mit Kalkül über den Tisch. »Niemand muss davon wissen. Durch die Prohibition werden wir an Transport und Verkauf verdienen. Dafür müssen wir nur Patrouillen und Razzien zu unseren Gunsten umleiten«, er machte eine abwehrende Handbewegung und schmatzte. »Wir begründen das mit anderen Gefahrenschwerpunkten oder Personalmangel. Ihnen, mein lieber Gordon, wird da schon etwas einfallen.«

    Hinterhalt

    Max manövrierte den Sieben-Tonnen-Fronthauber routiniert durch die engen Asphaltkapillaren der dunklen Stadt Neu-Berlin, die sich vermeintlich friedlich im Nirgendwo bettete. Vereinzelte Straßenlaternen beleuchteten die Straßen, ansonsten illuminierte der hochstehende Vollmond den Rest. Dadurch konnte Max die vereinbarte Route ohne Scheinwerfer fahren. Abgesehen vom dumpfen Stottern des Motors und des Klapperns der Achsen war er so recht unsichtbar unterwegs. Man hörte ihn zwar aus einem Kilometer Entfernung, aber was da auf einen zukam, konnte man erst sehen, wenn es schon zu spät und man zwischen Kühlergrill und Radaufhängung zu einem Klumpen zusammengestaucht wäre.

    Max wusste weder was unter der Zeltplane festgeschnürt war noch welche Verbindung zwischen Versender und Empfänger bestand. Und es war ihm auch egal, solange er mit dem Geld sich und seiner schwangeren Frau Lena ein Dach über dem Kopf bieten konnte.

    Neu-Berlin war seine Wiege. Er kannte jeden Schlupfwinkel, jeden Grabstein, jeden Zentimeter des Notdurftentsorgungslabyrinthes vier Meter unter den Pflastersteinen, neben der bleihaltigen Trinkwasserleitung.

    Er war im Waisenhaus des rußbedeckten Arbeiterviertels aufgewachsen, wo Schornsteine wie Schachfiguren gen Himmel ragten, verlor seinen Brutkasten bereits bei seiner Entbindung und seinen Erzeuger an einen Hinterwandinfarkt im Hinterzimmer einer Hure. Auf der Suche nach einer Vaterfigur bandelte er dann immer wieder an. Die schiefe Bahn war ihm vorbestimmt. Bis ein unüberlegtes Abenteuer mit einer befruchteten Eizelle endete und er geläutert versuchte, Gesetzestreue in sein kleinkriminelles Leben zu bringen. Leider konnte man in Neu-Berlin mit Gesetzestreue kein geregeltes Leben für eine junge, vorbestrafte Familie aus dem Nichts stampfen. Deshalb der kleine Umweg mit dem unbeleuchteten Fronthauber durch die Niederungen von Neu-Berlin.

    Er fuhr allein. Kein Begleitschutz. Kein Kompagnon, der ihn während der Fahrt mit Belanglosigkeiten unterhielt. Nur er und seine Stadt, und das Rattern und Rütteln der sieben Tonnen unter Arsch und Sohle, gebändigt durch mühevolles Einlenken der Handgelenke, im Einklang mit gefühlvollem Treten der Pedale. Sieben Tonnen plus minus was auch immer auf der Ladefläche.

    Einen allzu großen Umweg zur Gesetzestreue stellte dieser Auftrag allerdings auch nicht dar. Schließlich fuhr er nur einen Lastkraftwagen von A nach B – mit leicht überhöhter Geschwindigkeit, des Nachts, ohne Beleuchtung, ohne Fahrgenehmigung, mit dubioser Fracht.

    Sein Ziel war Teufels Stube. Eine Kneipe im Rotlichtmilieu. Mancher nannte es das beste Restaurant der Stadt, in einem Viertel, das noch etwas Zeit bräuchte.

    Obwohl er sich geschworen hatte, keinen Gedanken an die Fracht zu verlieren, schweifte er allmählich ab, da sich die Strecke ellenlang quer durch seine Heimat zog. Die leeren Straßen forderten aber auch kaum Aufmerksamkeit von ihm, weshalb er seinen Geist irgendwie auf Trab halten musste.

    Er ertappte sich, wie er rätselte, was hinter ihm auf der Ladefläche formschlüssig verzurrt worden war. Diese investigativen Gedanken hielten ihn wach. Der tägliche Kampf ums Überleben mit einer schwangeren Frau im Schlepptau hatte ihn sichtlich mitgenommen. Nach zehn Stunden im Straßenbau den Tag über, ist es womöglich nicht sehr ratsam, nachts noch einen vollbeladenen Lkw im Eiltempo vom einen Ende zum anderen Ende der Stadt zu gondeln. Vor der Fahrt hatte er sich zum Glück noch eine Flasche Limonade gegönnt. Ohne den Zucker im Blut wäre er schon längst Brei an einem Stahlbetonbrückenpfeiler gewesen.

    Limonade. Den Gedanken vertiefte er. Er hatte vom Verbot des Süßgetränkes gelesen. Es war erst seit kurzem in Kraft getreten und pfiffige Gauner könnten sich damit eindecken, um bald gepfefferte Preise auf dem Schwarzmarkt zu verlangen. Eine einzige Lkw-Ladung wäre allerdings etwas dürftig. Es könnte aber auch eine neue Mischung mit verbesserter Rezeptur sein, mutmaßte er weiter.

    Max schaute reflexartig in den kalkbefleckten Außenspiegel. Keine Verfolger. Diese Prozedur wiederholte er an den nächsten zwei Kreuzungen, bevor er sich wieder seinen Fantasien hingab. Hätte diese neue Mischung einen hohen Wert, hätte man ihn keineswegs allein fahren lassen.

    Ihm quollen Schweißperlen aus dem Rückenmark. Wird die Fracht womöglich bewacht und fahre ich ein Himmelfahrtskommando durch die Gegend, fragte er sich. Hätte er sich dazu verleiten lassen, die Bordwand zu öffnen, wäre er jetzt bestimmt nur noch ein Häufchen Elend auf einem namenlosen Stück Land irgendwo vor der Stadt. Gut, dass er seiner latenten Neugier nicht nachgegeben hatte.

    Affektiert griff er in die Brusttasche seines Hemdes. Leer. Verdammt, dachte er nervös. Die beruhigenden Zuckerdrops bröselten in irgendeinem Straßenkanal vor sich hin. Eine baldige Niederkunft veränderte einiges, auch den ungesunden Habitus, der in solchen Situationen von beträchtlichem Vorteil gewesen wäre. Seine Nerven lagen blank.

    Statt der Drops musste er mit seinen Fingernägeln vorlieb nehmen. Eine Angewohnheit, die ihm im Waisenhaus mit Prügel exorziert wurde und sich schleichend zurück in sein Leben drängte. Das Schützenkommando brachte ihn auf eine weitere Idee, während die Kombination aus unebener Asphaltdecke und durchgerosteter Wagenfederung Pobacken und Wirbel auf eine harte Probe stellte.

    Waffen.

    Ein erneuter Blick in den Rückspiegel zeigte ihm jedoch, dass sich niemand dafür interessierte. Er war nach wie vor allein.

    Demnach müsse es sich um eine Waffengattung handeln, kombinierte Max, die dem Besitzer einen Vorteil verschaffe, und keinen Nachteil, käme die Gegenseite in Besitz. Verdammt, er verlor sich im größten anzunehmenden Unfug, eine mögliche Detonation der Fracht hatte er bisher noch gar nicht in Betracht gezogen.

    Sein Fahrstil wurde vorsichtiger. Schlaglöchern versuchte er mittels Fahrmanövern auszuweichen. Erreichbarer Fingernagelhorn verhielt sich umgekehrt proportional zu seiner Nervosität, die die noch zu fahrenden Meter als Sprungschanze nutzte.

    Er überlegte, ob er bereit wäre, sich für die Ladung zu opfern. Möglicherweise um zu verhindern, dass ein noch fieserer Gauner als sein Auftraggeber das Ding in die Hände bekäme. Instinktiv presste er sich in den Sitz, um seinen Korpus im finsteren Innenraum hinter die B-Säule zu bugsieren. Plötzlich fühlte er sich wie eine fahrende Zielscheibe aller Verbrecherbanden der Stadt. Einem seitlichen Angriff, hoffte er, könne er so vielleicht entgehen. Frontal, musste er sich eingestehen, würde komplizierter werden. Das dreistrahlige Lenkrad, hinter das er sich duckte, entlockte eine verlockend rasche Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen. Für alles andere hatte er seinen Revolver dabei.

    Als Max die Kiste in einer Seitenstraße neben Teufels Stube abgestellt hatte, wollte er sich zügig verdünnisieren. Alles was jetzt noch passieren würde, überstieg die Klauseln seines fernmündlichen Vertrages. Er hatte seine Pflicht erfüllt. Die nächste Woche wäre finanziell gesichert. Trotzdem fehlte ihm die Zuversicht ähnliche Renditen Woche für Woche zu erwirtschaften.

    Mit dem Aroma der Unzucht in der Nase - Limonade, Urin, Schweiß, schweres Parfüm - steckte Max seine abgeknabberten Fingernägel in die Hosentaschen und machte sich zu Fuß auf den Heimweg.

    »Du bist zu spät«, polterte es kratzig aus dem Schatten.

    »Es war keine Uhrzeit vereinbart«, erwiderte Max trocken.

    Ein Knurren verdeutlichte ihm, dass dies die falsche Antwort gewesen war, was ihm auch der harte Schlag eintrichterte, den sein Hinterkopf empfangen durfte. Bewusstseinsverändert sank er auf Knöchelhöhe hinab. Die fremde Person kniete sich neben ihn und zählte eine Hand voll Münzen ab, indem jede einzelne Münze auf Max geschnipst wurde.

    »Dein Anteil hat sich soeben verringert, Bastard«, lachte die Stimme, als die Hälfte der abgemachten Summe klirrend im Mantel des Schattenmannes verschwand.

    Ein paar Münzen lagen in einer kleinen Blutpfütze, die sich aus Max’ Kopfplatzwunde speiste. Als er wieder beisammen war, war der komische Kerl bereits verschwunden. Er hatte ihn zwar nicht sehen können, aber diesen markanten Parfümduft und dieses süffisante Lachen würde er immer wieder erkennen. Der Lastwagen war ebenfalls nicht mehr da. Unter Schmerzen schwankte und wankte er heim.

    Herberge

    »Bitte, Max«, bettelte Lena besorgt, während sie seine Wunde am Kopf mit einem Tuch und etwas Wasser reinigte. Der kugelrunde Bauch der Schwangerschaft machte die Sache nicht gerade komfortabler. Ihr Nachthemd war schon mit Max’ Blut besudelt. Müdigkeit sprach aus ihren Augen.

    Es war mitten in der Nacht. Ein paar Kerzen spendeten Licht. Vielmehr besaßen sie nicht. Ein alter Tisch, zwei Stühle, eine Spüle, ein kleiner Schrank. In der Ecke eine kleine Kochnische mit Feuerstelle. Die Küche war der größte Raum in dem kleinen Haus und gleichzeitig Mittelpunkt für alles. Mehr als diese verfallene Ruine konnten sie sich nicht leisten. Es genügte, denn so waren sie zumindest vor Wind und Wasser geschützt. Kälte drang trotz allem durch jede Ritze.

    »So kann es doch nicht weitergehen. Was, wenn du nicht mehr nach Hause kommst?« Sie musste innehalten. Obwohl sie sich oft mit dieser Frage befasste, hatte sie es bisher noch nie ausgesprochen. Die Hormone hatten sie fest im Griff.

    Max bemerkte ihr Zurückweichen und fasste ihre von seinem Blut rotgefärbte Hand. Dabei drehte er sich zu ihr.

    »Ich könnte zurück in die Fabrik«, überlegte Lena.

    »Und unterm Webstuhl entbinden?«, warf Max zynisch ein. »Da würde der Zwerg wenigstens weich landen.«

    Lena tupfte die Platzwunde trocken. Sie wich dem eindringlichen Blick ihres Mannes aus.

    »Fäden durch Ösen ziehen ist nicht deine Bestimmung, Lena«, sagte Max.

    »Sondern einsam und verarmt sterben, bevor unser Kind zur Welt kommt?«

    »Einsam?«

    »Weil du vor mir stirbst. Bei irgendeiner krummen Sache.« Lena atmete schwer aus.

    Das Wasser im Bottich war bereits blutrot. Ein behelfsmäßiger Verband mit einem Tuch musste genügen, bis die Wunde von selbst zuwuchs. Bis dahin musste man hoffen, dass es sich nicht infizierte.

    Lena nahm Max’ Hand und legte diese auf ihren kugelrunden Bauch. »Wir brauchen dich!«

    »Ich lass mir etwas einfallen. Ich will nicht, dass du diese krude Textilfabrik noch einmal von innen sehen musst«, antwortete Max nach längerer Stille.

    Er wusste, was zu tun war. Als ungelernter Verbrecher, der Ordnung in sein Leben bringen möchte, der dunklen Seite den Rücken kehren wollte, sich für nichts zu schade war und dem ein geregelter Lohn mehr bedeutete als abgekartete Geschäfte unter der Ladentheke, gab es nur eine Anlaufstelle: die Polizeidirektion.

    Heimtücke

    Entgegen der ausdrücklichen Eindringlichkeit ihres Ehemannes stattete Lena der feuerroten Backsteinstätte am nächsten Werktag einen unangekündigten Besuch ab. Es war eine eher kleine Textilfabrik im Vergleich zu den Kolossen, die gerade im neueren Industrieviertel gebaut wurden. Die Scheiben waren teils verkleistert und Unkraut eroberte das Gebäude ganz langsam vom Sockel her. Ein einzelner Schornstein blies pechschwarzen Rauch in die Luft. Der daran angeschlossene Generator versorgte die gesamte Fabrik. Er war schon von weitem zu hören und versetzte zusammen mit den laufenden Webmaschinen das nähere Umfeld in leichte Vibration.

    Unterleibschmerzen bremsten Lenas Gang. Anscheinend hatte nicht nur Max Einwände gegen ihr Vorhaben. Ihr Gewissen verbündete sich gerade mit der umsichtretenden Frucht in ihrem Leib.

    Trotz der warnenden Fassade, an der der Firmenname Teufels Zwirn genagelt war, trotzte sie der Vorahnung, die sie unablässig quälte. Sie wollte es sich und vor allem Max beweisen, der die Rolle des Beschützers manchmal zu verbissen vertrat.

    Ich bin stark, hämmerte sie sich pausenlos ein. Ihre festen Schritte täuschten kaum über die Unsicherheit hinweg. Zum einen krankte sie am eingeschränkten Bewegungsradius, zum anderen wusste sie, dass Max Recht hatte und des Teufels Spinnerei nicht der richtige Platz für sie war. Doch sie brauchten das Geld.

    Am Gebäude musste sie sich erst einmal anlehnen. Sie hatte ihrem Körper einfach zu viel zugemutet. Sie würde keine volle Stunde am Webstuhl aushalten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

    Lena schaute verdrossen zum Nebengebäude. Dieser mickrige Verschlag diente dem Oberaufseher Ludwig Lustig als Büro. Gleichzeitig beherbergte diese unscheinbare Hütte die Geschäftsbücher, den Tresor und gerüchteweise ein 200 Meter langes Goldgarn, das dieser Ludwig von seiner Reise ans andere Ende der Welt mitgebracht hatte. Man munkelte, dass er dieses faustgroß aufgewickelte Goldgarnpaket einem wohlhabenden Kaiser entwendet haben soll. Lena wusste nicht, ob das der Wahrheit entsprach. Was sie aber wusste, war, dass jeder Meter dieses Goldgarns für eine kleine Familie für ein Jahr reichen würde. Ein Jahr Miete. Ein Jahr Essen. Ein Jahr gut leben.

    Wem würde schon auffallen, wenn statt der 200 nur noch 199 Meter Goldgarn übrig blieben? Sie schmunzelte. Oder sagen wir 195 Meter. Immerhin müsse sie ihrem Kind einen angenehmen Start ins Leben ermöglichen. Sollte Max kein Geld mehr auftreiben können, würde ihnen etwas mehr Spielraum helfen.

    Auch wenn sie nur gesponnen hatte, der Gedanke ließ sie auf einmal nicht mehr los. Sie hatte von den anderen Frauen in der Fabrik gehört, dass der Oberaufseher Lustig zu viel Angst habe, auch nur einen Zentimeter des Garns irgendwo feilzubieten. Und um es dem Fabrikeigentümer Theodor Teufel zu verheimlichen, lagere Lustig das goldene Garn auch nicht im Tresor, sondern unter einer Holzbohle. Die Geschichte ging sogar soweit, dass eine der Frauen behauptete, die vermeintliche Bohle knarze beim Darübergehen.

    Die Tür stand offen. Erst in diesem Moment bemerkte Lena, dass die Tür offen stand. Die Tür hatte nie offen gestanden, als sie noch hier gearbeitet hatte. Sie lehnte nun auch schon einige Minuten an der Mauer, ohne jemanden gesehen zu haben. Vielleicht wollte Ludwig Lustig ein wenig frische Luft in sein Büro bringen. Oder er war kurz austreten. Sie spielte weiter mit dem Gedanken, etwas von dem Garn zu nutzen, bevor dieser verschwenderisch verstaubte und niemandem etwas nützte.

    Der Raum war stickig. Lena erschrak. Wie kam sie hierher? Hatten sich ihre Beine von selbst bewegt? Fahles Licht durchschnitt den Raum – das Büro des Oberaufsehers. Staubiger Nebel waberte von den Holzbohlen aufwärts. Außer ihr befand sich niemand in dieser Einraumhütte. Der Schreibtischstuhl war verwaist und auf dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch mit lauter Zahlen in Tabellen. Sie blickte auf den großen Tresor mit dem Drehschloss. Ansonsten war der Raum trostlos und trist. So wie das Gemüt des Oberaufsehers, nur, dass dieser Frauen gegenüber noch dazu unnachgiebig und streng sein konnte. Im stillen Kämmerlein solle er sogar körperliche Züchtigung ausüben, tuschelte man durch die Blume hinter vorgehaltener Hand.

    Lena stand in der Mitte des Raumes. Sie schaute nach unten auf den Holzboden. Eine dieser Bohlen versteckte ein paar sorgenfreie Jahre für sie, ihren Mann und das ungeborene Kind. Schon mit dem unbefugten Zutritt hatte sie sich strafbar gemacht. Nicht auszumalen, was geschehen würde, wenn man sie dabei erwischen würde, wie sie eine knarzende Holzbohle nach oben hebelte, einen Goldgarn hervorholte, diesen um fünf Meter kürzte, zurücklegte, die Bohle vorsichtig wieder in den Freiraum klemmte und sich das kleine Stück Garn unter das Kleid schob.

    Ihr Puls trommelte durch die Halsschlagader und gegen die Schläfe. Ihre Sicht verschwamm und sie zitterte. Ihr Herz pochte so stark gegen ihren Brustkorb, dass sie kaum atmen konnte. Allein die Vorstellung dieser Straftat lähmte sie.

    »Frau Mayerz!«

    Lena zuckte zusammen und drehte sich zur Tür. Dort stand Oberaufseher Ludwig Lustig und grinste schelmisch. Ein kleiner, untersetzter Mann mit einem Rohrstock am Gürtel und schwieligen Händen.

    »Was machen Sie in meinem Büro?« Seine Stimme wurde innerhalb eines Wimpernschlags schneidend. Er kippte seinen Kopf zur Seite und musterte sie. Halb zornig, halb erregt.

    Lena bekam keinen Ton heraus. Sie war wie versteinert.

    »Haben Sie mich vermisst? Wollten Sie mir einen Besuch abstatten? Oder brauch Ihr Gatte noch einen Auftrag? Der letzte lief ja nicht so gut für ihn. Hab von dem Zwischenfall gehört.« Lustig grinste ihren Bauch an. Es war ein diabolisches Grinsen. »Nicht von mir, oder?«

    Es stimmte also. Lena hatte Gerüchte vernommen. Ludwig Lustig verging sich an den Frauen. Offenbar hatte er schon öfter einen Treffer gelandet. Aus der Fassung brachte ihn der Schwangerenbauch nicht. Im Gegenteil, er wirkte vorbereitet. Seine Körpersprache verriet, dass er Übung mit solchen Situationen hatte.

    Lustig schaute zum Brieföffner auf dem Schreibtisch. Ein langer, spitzer Metallstab, der an der oberen Seite eine scharfe Schneide besaß. Metaphorisches Blut klebte an diesem Brieföffner. Getratscht wurde über viel Blut. Uterus- und Fötusblut, meinten die Frauen einhellig.

    Gemächlich schritt er auf seinen Schreibtisch zu. Die Blicke des ungebetenen Gastes verfolgten ihn. Er strich mit der Hand über den Tisch und am Brieföffner vorbei. Dann setzte er sich mit einem Stöhnen, als habe er stundenlang harte Arbeit verrichtet.

    Lustig fühlte sich so überlegen, dass er Lena den Weg aus der Tür freigab. Sie hätte einfach hinaus und weglaufen können. Er hätte sich nicht aufgerappelt, um ihr hinterher zu laufen. Sie war ihm einerlei.

    »Sind Sie verstummt?«, fragte Ludwig in lautem Tonfall.

    Lena schüttelte schnell den Kopf. Das Geräusch, das sie dabei mit dem Gaumen und etwas Ausatemluft stoßweise fabrizierte, erinnerte an ein unausgesprochenes Nein. Der Lichteinfall von der offenen Tür erleuchtete eine Gesichtshälfte von ihr. Die andere blieb im Halbschatten.

    Als Ludwig Lustig wieder ihren Bauch anstarrte, fiel sein Blick kurz auf die Stelle, wo er das Goldgarn versteckt hielt. Lena befand sich lediglich einen halben Schritt davon entfernt. Er wurde stutzig. Seine Hand legte sich unweigerlich auf den Griff des Rohrstocks, der noch an seinem Gürtel baumelte.

    »Wenn Sie noch weiter meine Zeit stehlen und nicht unverzüglich mit der Sprache rausrücken, warum Sie hier sind, muss ich grob werden, befürchte ich, Frau Mayerz.«

    Erneut fiel sein Blick auf die geheimnisvolle Holzbohle. Sie schien unverändert zu schlummern.

    Kurz bevor Lena etwas sagen wollte, vernahm sie einen stechenden Geruch, der den Raum plötzlich füllte. Herbes Moschusparfüm. Wie ein wildes Tier aus dem Wald, das hier sein Revier markierte. Auf ihrer vormals beleuchteten Gesichtshälfte war nur noch Dunkelheit. Jemand stand in der Tür. Aber sie traute sich nicht, zu der Silhouette zu blinzeln. Stattdessen fixierte sie Lustig mit ängstlich geöffneten Augen.

    »Wer ist das?«

    Lena hörte eine merkwürdige, kratzige Stimme. Und die Tür wurde verschlossen. Zu allem Überfluss spürte sie die Anwesenheit eines dritten Mannes, der zusammen mit dem anderen in der Dunkelheit des Raumes verweilte. Sie bekam Panik. Ihre Knie schlotterten und sie konnte sich nur schwer auf den Beinen halten. Sie war offenbar zu tief in des Teufels Spinnerei vorgedrungen.

    »Nur eine kleine Hure, die mich erpressen will«, war sich Lustig sicher. Er konnte sich zwar nicht daran erinnern Magdalena Mayerz benutzt und beschmutzt zu haben, aber Bestandteil seiner Fantasien war sie des Öfteren gewesen. Er zuckte mit den Schultern. Bei der Vielzahl an Huren war es nur eine Frage der Zeit, bis er eine unbeabsichtigt unterschlagen würde.

    »Sollen wir uns darum kümmern?«, fragte einer der Männer aus der Schwärze der Kammer.

    Lena schmeckte Eisen. Blut. Ihr Blut. Sie hatte sich vor lauter Körperspannung in die Unterlippe gebissen.

    »Entschuldigen Sie die Störung«, presste Lena apathisch und monoton hervor. »Ich komme später wieder.«

    Als sie sich umdrehte und zur Tür torkelte, stellte sich ihr einer der Schattenmänner entgegen und versperrte ihr den Weg.

    »Moment«, tönte Lustig argwöhnisch. Er schaute auf die Holzbohle, die seinen gestohlenen Reichtum bedeckte. Als Lena darüber gelaufen war, hatte es kein Knarzen gegeben. Jemand musste sich daran zu schaffen gemacht haben. Er erhob sich flink und stellte sich hinter die schweißgebadete Schwangere. Auch sein Gewicht brachte die Bohle nicht mehr zum Knarzen. Etwas stimmte nicht und das hatte mit dieser Frau zu tun, war er überzeugt.

    Lena war umstellt. Ihre stockende Stoßatmung kam ihrem angeschlagenen Kreislauf nicht zugute. Sie fühlte wie sich eine Ohnmacht anbahnte. Und sie konnte es nicht verhindern. Was mit ihr und vor allem mit ihrem ungeborenen Kind geschehen würde, lag nicht mehr in ihrer Macht.

    Hommage

    Max begrüßte den Häuptling der Polizeidirektion, Gordon Godot, dermaßen herzlich, wie es sich für einen Bittsteller gehörte, ohne anmaßend zu klingen oder gar unverfroren. Obwohl Impertinenz genau die Form der Begrüßung gewesen wäre, die er diesem Heuchler gerne an den Kopf geworfen hätte. In einer Spiegelwelt, einem Paralleluniversum, hätte er das ohne zu zögern getan.

    »Max Mayerz. Schön, dass Sie ihrem Vater folgen. Er war ein großartiger Polizist«, eröffnete Godot gönnerhaft.

    Max’ Vater war zwar Ordnungshüter gewesen, aber bei seinem eigenen Sohn hatte sein Helfergen versagt. Er hatte Max die Schuld am Tod der Mutter gegeben und war nie darüber hinweggekommen, dass sie ihr Leben geben musste, um einem Bengel das Leben zu schenken. Diabetes und Dirnen waren daraufhin die Begleiter auf seinen letzten Metern bis zum Hinterwandinfarkt.

    Den stümperhaften Kopfverband von Max und etwaige verletzungsbedingte Einschränkungen überging Godot, denn er kämpfte um jeden Mann. Gesetzeshüter waren schlecht bezahlt, schlecht ausgebildet und schlecht ausgerüstet. Letztlich bildeten sie nur die Zielscheibe für besser bezahlte, besser ausgebildete und besser ausgerüstete Verbrechersyndikate. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum überhaupt noch jemand den Beruf machen wollte, war aber froh, verzweifelte Trottel wie Mayerz zu finden, die bereitwillig als Kanonenfutter herhielten.

    Weil er glaubte, Max wie eine Spinne im Netz einwickeln zu müssen, ihn zu umgarnen, es ihm schmackhaft zu machen, damit dieser nicht das Weite suchte, verstrickte sich Godot immer weiter in den alten Geschichten, die Max’ Vater noch erleben durfte, wo Revolverhelden mit dem Stern auf der Brust auf staubigen Straßen im Duell schneller ziehen mussten oder romantische Verfolgungsjagden auf dem Pferd ausgefochten wurden. Nebenbei holte er aus, um Dienstmarke und Pistole von einem kürzlich ausgeschiedenen Anwärter aus seiner Schublade vor Max’ malmenden Kiefer zu knallen, bevor sich die Hexe Hocapontas bei der Nadelprobe in den Inquisitor verknallte.

    Max interessierte das herzlich wenig. Er hörte zwar nur mit halbem Ohr hin, die Erkenntnis kam aber trotzdem: manchmal hilft auch keine Limonade.

    »Melden Sie sich morgen bei Wachtmeister Walter Wolfram zum Dienst«, beendete Godot seine Ausführungen.

    Hülle

    Das blutige Laken mit der undefinierbaren Masse entsorgte Max im Metallkübel vorm Haus. Der zyanotische Hautschwamm, das schleimige Fruchtgewebe und das viele Blut brannten sich in seinen Schädel. Soetwas hatte er noch nie gesehen. Soetwas wollte er nie wieder sehen.

    Als er nach Hause gekommen war, lag Lena in der Küche. Sie weinte, hielt sich den Bauch und blutete stark, nicht imstande einen klaren Satz zu formulieren.

    Über 35 Wochen hatte Lena ihr Kind in sich getragen und nun ist es ihr geraubt worden. Was Max zu Gesicht bekommen hatte, war lediglich die Nachgeburt. Doch konnte ein Mann ohne medizinischen Hintergrund im Schockzustand keinen Unterschied zwischen einer Nach- und einer Fehlgeburt erkennen. Zudem war es ohnehin irrelevant. Seiner Frau wurde Leid angetan. Etwas war passiert mit seinem Kind. Etwas Grausames.

    Schwerer Regen prasselte auf das Dach, während Blitze die Nacht für einen Bruchteil erhellten, bevor Donner das Geschirr im Schrank zum Klappern brachte und den Boden zum Beben. Alle paar Minuten zuckte die nächste Entladung durch die stürmische Schwärze zwischen Sonnenuntergang und -aufgang, gefolgt vom tosenden Schwingen der Luftmassen.

    Eine gefühlte Ewigkeit lagen Max und Lena inzwischen auf dem kalten Fußboden in der Küche. Er presste sie fest an sich. Obwohl sie mehr als nur Blut und Tränen verloren hatte, schlief sie völlig erschöpft. Ihr Brustkorb hob sich kaum. Sie atmete sehr flach. Max starrte ab und an krampfhaft auf ihren Oberkörper, um festzustellen, ob sie noch am Leben sei. Manchmal hielt er einen Finger unter ihre Nase, damit er den kurzen Lufthauch ihrer Ausatmung spüren konnte. Ein fremder Duft haftete an ihr. Dieser war aber so schwach, dass Max ihn kaum wahrnahm. Aus dem Bauch heraus würde er diesen als Moschus definieren. Ganz sicher war er sich nicht.

    Eine Kerze brannte noch. Die übrigen waren längst verloschen. Selbst der letzte flammende Docht flatterte nervös. Das ausdampfende Wachs ging langsam zur Neige. Außerhalb dieses kleinen Lichtschimmers herrschte unangenehme Dunkelheit, auch weil der Niederschlag von außen gegen die Fenster schlug. In dem kleinen Umkreis aus versiegendem Licht harrten die beiden aus, in einer vertrockneten Blutlache.

    Max starrte in die Dunkelheit. Seine Gedanken kreisten, während er sich sein Hirn zermarterte. Was war geschehen? Wie konnte die Situation derart eskalieren? Wieso hörte seine Frau nicht auf ihn? Und wer wagte es, Hand an sie zu legen? Er wusste zwar nicht, was geschehen war, aber ihre reumütigen Blicke, als er sie gefunden hatte, sagten ihm, dass sie in seiner Abwesenheit etwas getan hatte, was ihm missfiel. An ihren schlammigen Stiefeln hatte er erkannt, dass sie auf einem Fabrikgelände unterwegs gewesen sein musste. Eins und zwei konnte er zusammenzählen.

    Jeder neue Gedanke zerfurchte seine Stirn aufs Neue, weil er seine Augenbrauen wütend gen Boden zog. Er bemerkte erst sehr spät, dass er in Rage Lena ungeheuer kraftvoll an sich drückte. Umgehend lockerte er seinen Griff und sah entschuldigend auf sie herab. Lena rührte sich nicht, bis auf das stetige Heben und Senken ihres Brustkorbes.

    Seine Wut überflügelte den Tadel, den sie verdient hatte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendeine Aktion Gewalt gegen eine Frau, eine schwangere Frau, provozieren könnte. Sei der Mensch auch noch so barbarisch, ethische und moralische Grenzen kennt selbst das verlogenste Scheusal. Er bekam Zweifel. Seine Bekanntschaften im Untergrund waren Abschaum, doch selbst der fieseste Widerling befolgte den ungeschriebenen Kodex, Frauen und Kinder mit Respekt zu behandeln, egal wie schlimm das Vergehen auch war. Max streichelte über den geschwollenen Bauch seiner Frau. Diese Tat musste vom dreckigsten aller Bastarde begangen worden sein. Ein so abgekochtes Schlitzohr, das fehlende verbale und non-verbale Schlagfertigkeit mit eiskalter Skrupellosigkeit wettmachen musste. Diesen Wichser würde Max schnell finden. Doch jetzt musste er sich erst einmal um Lena kümmern.

    Nach einer weiteren Weile des Grübelns und mit dem Erlöschen der letzten Kerze trug er sie ins Bett. Das viele Blut an ihr und an seinen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1