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Requiem für West-Berlin
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eBook319 Seiten4 Stunden

Requiem für West-Berlin

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Über dieses E-Book

Berlin 1963. In der geteilten Stadt erwarten die Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen den Besuch des amerikanischen Präsidenten. Unter ihnen befinden sich sowohl Captain John Trend, den das United States European Command von Frankfurt nach Berlin versetzt hat, als auch Karl Urban, genannt Sputnik, ein notorischer Kleinkrimineller, Horst Szymanek, ein streitbarer Kommunist und "Miss Unfehlbar" Susan Fisher, die gute Seele von Major de Lisles Spezialgroup.
Während J.F.K. in Berlin-Tegel landet, startet der geheimnisvolle Mischa eine perfide Operation und Kriminalassistent Hans-Jürgen Kowalski jagt einen zweifachen Mörder.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Juli 2020
ISBN9783752910483
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    Buchvorschau

    Requiem für West-Berlin - Reginald Rosenfeldt

    1.

    In der Mitte des 18. Jahrhunderts bescherte der Preußenkönig Friedrich II. dem Dörfchen Kienitz durch die Trockenlegung des sumpfigen Oderbruchs einen bescheidenen Wohlstand. Vielleicht gehörte die Erinnerung an den erfreulichen Aufschwung mit zu den Gründen, warum der Berliner Magistrat 200 Jahre später im Zuge der allgemeinen Neuordnung die Neuköllner Steinmetzstraße in Kienitzer Straße umbenannte.

    Von einer der Hauptverkehrsadern des Bezirks ausgehend, führte die Kienitzer Straße steil aufwärts zum Flughafen Tempelhof. Verwitterte, vom letzten Weltkrieg geschwärzte Fassaden säumten ihre zersprungenen Bürgersteige, und ein eiskalter Ostwind hatte die Anwohner in ihre überheizten Wohnungen vertrieben. Auf den Dächern der teilweise noch aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Gebäude blinkten rote Signallichter, die bereits den Rosinenbombern den Weg gewiesen hatten, und über dem Häusermeer hing der graue Berliner Himmel wie eine bleierne Decke. Seine melancholische Ausstrahlung verwandelte die ohnehin schon öde Straße in eine verlassene Schlucht, durch die allen Unbill zum Trotz, ein Mann stapfte.

    Frischer Schnee fiel auf seine ungepflegten blonden Haare und rieselte in den Ausschnitt des bis zur Brust geöffneten Hemdes. Einige der Flocken blieben auf Karl Urbans nackter Haut kleben, doch er spürte sie genauso wenig wie die grausame Kälte, die unerbittlich in seinen Körper biss.

    Nein, weder der Berliner Winter, noch die Tristesse des Januars peinigten Urban, denn ihn wärmte das trügerische Feuer eines billigen Schnapses. Neun Gläser Korn hielten seinen verschlissenen Motor am Laufen, und befeuerten zudem jenen unbeherrschten Zorn, der ihm ständig suggerierte, dass die gesamte Stadt ihn gnadenlos hasste. Für seine beschissenen Mitbürger war er der größte Versager von allen, der ewige Pechvogel, die Niete der Nation.

    Fast lustvoll suhlte sich Urban in einem Minderwertigkeitsgefühl, für das auf Grund seiner beeindruckenden physischen Erscheinung überhaupt kein Anlass bestand. Auf den unbefangenen Beobachter wirkte er nämlich wie ein gutmütiger Bär, den selbst der immer heftiger werdende Sturm nicht umwehen konnte. Aber der fast zwei Meter große Koloss, war schon lange ein Schatten seiner selbst, eine lächerliche Schießbudenfigur, die nun ihren torkelnden Schritt verlangsamte, um sich fahrig mit der blaugefrorenen Hand über das Kinn zu streichen.

    Die Geste erfolgte rein mechanisch, denn anstatt die Eiskristalle zwischen den Bartstoppeln zu fühlen, drehten sich Urbans Gedanken einzig und allein um Bruno Hartmann. Der elende Kerl trug die Hauptschuld an dem ganzen Schlamassel, und deshalb verdiente er auch eine tüchtige Abreibung.

    Bei dem Gedanken an die knochenbrechende Wucht seiner Hiebe begann Urbans malträtiertes Herz schneller zu schlagen, und er lächelte böse. Ach ja, wenn er es dem Herrn Verkehrsmeister erst einmal so richtig besorgt hatte, würde ihn nicht einmal die eigene Mutter mehr wiedererkennen.

    „Die Sau bettelt doch regelrecht um eine Tracht Prügel", rechtfertigte Urban trotzig seine gewalttätigen Fantasien, und kämpfte sich weiter dem Ende der Straße entgegen, während sein umnebelter Kopf gnadenlos die leidige, alte Schallplatte abspielte. Ohne Pause dudelte er die verlogene Moritat von dem großen Missverständnis, dem ungerechten Pech, dem er letztendlich seine Kündigung verdankte.

    Urban schloss sekundenlang die Augen und quälte sich zum hundertsten Mal mit der Frage, warum die miesen Klugscheißer der Berliner Verkehrsgesellschaft ausgerechnet ihn herausgepickt hatten. Er war weiß Gott nicht der einzige, der trotz Abmahnung angetrunken zum Dienst erschienen war, oder das Wechselgeld nicht ganz korrekt abgerechnet hatte. Das waren lächerliche Lappalien, Kindereien, wegen denen man ihn doch nicht einfach an die frische Luft setzen durfte!

    „Schweine, verdammte dreckige Schweine!" Urbans niedrige Hemmschwelle verhinderte wie so oft, dass er die traurige Wahrheit wenigstens einen Augenblick lang akzeptierte. Jene Realität, in der er als Autobusschaffner fast ein Viertel des eingenommenen Fahrgeldes in die eigene Tasche gestopft hatte. Am Anfang stahl er nur einzelne Fünf- und Zehnpfennigmünzen, aber dann summierte sich der Betrag, und als er ein strenges Verhör durchleiden musste, rechtfertigte er sich damit, dass er leider mehrere Fahrscheinblöcke verloren hatte.

    „Was wollt Ihr denn von mir? Verbummelt Ihr Schlipsträger denn nie etwas? Na also, ist doch klar wie Kloßbrühe, ohne Billets kann ich nun mal kein Geld einnehmen!" So schlicht und ergreifend hatte Hartmann das aber nicht gesehen, und so trottete Urban nun arbeitslos die Kienitzer Straße entlang.

    „Scheiße, Scheiße, Scheiße! Unbeherrscht fluchend knöpfte der gedemütigte Mann die dünne Wolljacke noch weiter auf, und atmete tief durch. Luft, er brauchte dringend frischen Sauerstoff, eine kräftige Brise, die solange sein Gehirn durchpustete, bis er endlich wieder den Zauber seiner längst verloren geglaubten Träume spüren konnte. In ihnen war er, genau wie die Helden seiner Kindheit, stets der Herr seines eigenen Schicksals gewesen; ein kosmischer Abenteurer, den die BVG-Knechte den Arsch kreuzweise lecken durften! Verächtlich spuckte Urban auf den verkrusteten Schnee und brüllte: „Hey, ihr lahmen Stubenhocker! Wagt euch doch heraus zu mir, hier draußen tobt das echte, harte Leben!

    Die vom eisigen Wind verschluckten Worte beinhaltete durchaus eine gewisse Wahrheit, denn der zornige Riese marschierte geradewegs seinem persönlichen Shangri-La entgegen. Der magische Ort befand sich am Ende der Kienitzer, und Urban musste nur noch über eine spiegelglatte Fahrbahn schlittern, bevor er endlich am Zaun des Flughafens Tempelhof stand. Das jenseits des rautenförmigen Maschendrahts beginnende Areal versteckte sich, wie in den letzten Tagen, hinter einer Mauer wirbelnden Schnees, und der geisterhafte Anblick entführte Urbans kindliches Gemüt übergangslos aus der profanen Wirklichkeit.

    Gebannt starrte er in die weiße Unendlichkeit, die ihn so sehr an die Abenteuer in seinen geliebten Comics erinnerte. Die schmalen Streifenhefte halfen ihm den elenden Alltag zu überleben, und letztendlich verdankte er ihnen sogar seinen Spitznamen. Sputnik, nannten ihn seine wenigen Freunde, Kalle Sputnik, oder auch Kalle der Weltraumfahrer, da sich die Anrede auf ein Cover seiner Lieblingsserie bezog.

    „Nick der Weltraumfahrer! Ha, die fantasielosen Kerle wollten einfach nicht verstehen, warum ein erwachsener Mann überhaupt Bilderheftchen schmökerte. Für sie war er einfach ein impulsiver, wenn auch gutmütiger Spinner, der schon viel zu lange in einer entrückten Traumwelt lebte. „Wenn das wirklich ihre Meinung war, bitte sehr!

    Trotzig umklammerte Urban den Zaun und kehrte für einen Moment wieder in jene fantastische Region zurück, die den muffigen Berliner Alltag überhaupt erst erträglich machte. Nur in den imaginären, Lichtjahre weit entfernten Weiten des Alls fühlte sich seine Seele wirklich frei, und er hätte sonst etwas dafür gegeben, sie genau wie „Captain Zukunft" mutig durchstreifen zu dürfen.

    „Eine Reise durch das unendliche Universum!" Was für eine großartige Illusion, aber im wahren Leben kamen kosmische Abenteuer leider nur in den utopischen Groschenheften vor, und abgesehen davon, war es Kalle bisher nicht ein einziges Mal gelungen, wenigstens die geteilte Stadt zu verlassen. Versucht hatte er es natürlich schon oft, aber der Alkohol, und schlimmer noch, der aus ihm geborene Jähzorn, verbrannten die halbherzigen Versuche jedes Mal zu kalter Asche.

    Hauptsächlich lag das natürlich an seiner ewig klammen Börse, und genau dieses Loch würde er heute Abend endlich stopfen! Ja, in ungefähr drei Stunden begann die große Abzocke, die ihn mindestens für die nächsten zwei Monate sauber sanieren musste.

    „Das wird ein richtiges Schlachtfest! Kalle grinste heimtückisch, und nahm sich vor die ahnungslosen Gimpel diesmal richtig auszunehmen. Die braven Opferlämmer hockten bestimmt schon im „Schwarzen Kater und deshalb war es vielleicht nicht ganz falsch, wenn er sich ein bisschen auf sie vorbereitete.

    Der Vernunft widerwillig gehorchend, trat der einsame Mann den Heimweg an, während hinter seinem Rücken Flugzeugdüsen aufheulten. Das vom Schneesturm gedämpfte Geräusch wirkte so unwirklich, dass sich Kalle für einen Moment einbildete, den Atommotor eines startenden Raumschiffs zu hören. Das Brüllen der Triebwerke verstärkte sich, und als dann auch noch ein Schemen über die Häuserdächer jagte, konnte das nur Captain Futures Comet sein, und nicht die tägliche Maschine aus Frankfurt. Der Lärm ihrer Turbojets erfüllte die steinerne Schlucht minutenlang mit dem üblichen, alles übertönenden Dröhnen, dann erstarb es allmählich in der Ferne, und Kalle Sputnik umhüllte wieder die Tristesse eines eisigen Wintertags.

    2.

    Ein scharfer Ostwind, der direkt aus den „Weiten Russlands zu kommen schien, fegte gnadenlos die dünne Schneedecke von der Rollbahn des Flughafens Tempelhof. Wie bleiche Staubfahnen wirbelte er die Flocken empor und peitschte sie gegen den Rumpf des soeben gelandeten Pan Am-Clipper „Charlottenburg.

    Die vierstrahlige Boeing 707 parkte im Haupthangar des Airports, der normalerweise genügend Schutz vor dem Berliner Schmuddel-Wetter bot. Doch an diesem Nachmittag jagten die im Neonlicht glitzernden Eiskristalle sogar in die bereits geöffnete Vordertür des Clippers, so dass die dort wartende Stewardess unwillig das Gesicht verzog. Ihr hellblaues Kostüm mit dem knielangen Rock bot bei der unfreundlichen Witterung einfach nicht genügend Schutz, und der Wind riss ihr fast die Kappe mit dem kleinen Emblem von der perfekt gestylten Frisur.

    Die rechte Hand auf die runde Kopfbedeckung gepresst, überspielte die zierliche Brünette ihr Missvergnügen mit einem antrainierten Lächeln, und wandte sich wieder den zum Auschecken bereiten Passagieren zu. Den wenigen Touristen stand noch der Schock der unruhigen Reise ins Gesicht geschrieben, während die graue Armee der Geschäftsleute völlig unbeeindruckt die Gurte öffnete. Ihre gelangweilten Mienen überraschte die Stewardess nicht sonderlich, denn einige der Herren hatten mit ihr schon weitaus heftigere Berlin-Flüge durchgestanden.

    Nur einer der Männer, ein korpulenter Mittvierziger mit dem Habitus des typischen Vertreters, bewegte sich unruhig in dem für ihn viel zu engen Sitz. Mit einem gequälten Grinsen blickte er seinen geduldig abwartenden Nachbarn an. „Na, das war ja wieder mal eine elende Schaukelei! Ich verstehe einfach nicht, warum die Amis keinen stärkeren Druck auf die Russkis ausüben, damit wir die SBZ endlich in einer größeren Höhe überfliegen können."

    „Ja, heute war es wirklich etwas unruhig über der DDR. Der von dem Staubsauger-Vertreter aus Köln-Nippes angesprochene Mann besaß peinlicherweise einen amerikanischen Akzent. In aller Ruhe erhob er sich, und rückte mit dem Zeigefinger seine schwarze Hornbrille zurecht. Dann öffnete er das über dem Kopf befindliche Gepäckfach, zog einen Aktenkoffer heraus, und deutete auf den Gang. „Gehen Sie ruhig vor, ich werde abgeholt, da kommt es nicht auf die Minute an.

    „Ei, wirklich! Aber ansonsten, es ist schon eine Schande, dass die Luft-Hansa von der Berlin Route ausgeschlossen ist! Ungeniert nahm der Dicke die höfliche Geste zum Anlass, um weiter zu lamentieren, und als die Tirade einfach nicht enden wollte, unterbrach ihn der Amerikaner genervt: „Seien Sie froh, dass es wenigstens drei Fluggesellschaften erlaubt ist, West-Berlin durch die zugegebenermaßen ungünstigen Luftkorridore anzufliegen.

    Der Kölner wollte zu einer Entgegnung ansetzen, doch sein unfreiwilliger Gesprächspartner beendete in einem scharfen, keinen Widerspruch duldenden Tonfall das Gezeter: „Am besten, Sie reisen das nächste Mal mit der Bahn oder dem Bus nach Berlin; das wird ihnen gefallen, glauben Sie mir! Die Gepäckkontrollen der Vopos sind immer wieder ein Erlebnis!"

    Das stichhaltige Argument ließ den Herrn der Staubsauger endgültig verstummen. Mit einem verächtlichen Schulterzucken quetschte er sich an zwei Frauen vorbei und verließ missmutig die Maschine. Weit hinter ihm rückte der Amerikaner erneut seine Brille zurecht, und schob sich gelassen dem Ausstieg entgegen. Als er ihn erreicht hatte, bedachte er die dort postierte Stewardess mit einem kleinen Lächeln. „Vielen Dank für den trotz allem sicheren Flug!"

    „Das ist unser Anliegen, Pan Am wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt." Mit einem unmerklichen Seufzer blickte die junge Frau dem Fremden hinterher, der genau jenem Typ entsprach der sie schon immer angesprochen hatte. Wie ihre Ex-Lover besaß er eine schlanke, sportliche Figur, und seine Größe schätze sie auf ungefähr 1,90. Die vollen, dunklen Haare bändigte ein akkurater Linksscheitel und trotz seines jugendlichen Aussehens hatte er bestimmt schon den vierzigsten Geburtstag gefeiert.

    Der derart taxierte Mann schlug inzwischen den Kragen seines dunkelblauen Wollmantels hoch und stieg vorsichtig die glatten Metallstufen der Gangway hinab. An ihrem Fuß knotete er den locker gebundenen Schal etwas fester, und folgte den vorangegangenen Passagieren durch den Hangar. Die Halle galt zusammen mit dem restlichen Flughafenkomplex für einige Zeit als das größte Gebäude der Welt, und an ihrer Längswand führte eine Steintreppe zur Passkontrolle empor, an der sich aber nur die Transitreisenden ausweisen mussten.

    Der Amerikaner reihte sich hinter die vier Herren ein, die genau wie er in Frankfurt umgestiegen waren, und legte schon nach wenigen Minuten seine Papiere auf den niedrigen Tresen.

    „Herr Trend? Der Zollbeamte blickte mit einem unverbindlichen Lächeln hoch. „Sie sind Vertreter für Landwirtschaftliche Maschinen?

    „Für Traktoren, verbesserte Trend den Uniformierten. „Ich stelle den neuen Fordson Super Dexta ab Freitag am Funkturm vor.

    „Ach ja, die „Grüne Woche, unsere große alljährliche Landwirtschafts-Messe. Der Beamte klappte den Pass zu und musterte fragend Trends Aktenkoffer. „Na, mit dem werden Sie ja wohl keinen Trecker nach Berlin schmuggeln wollen?"

    „Der rollt mit der Reichsbahn durch die Zone. Trend grinste anzüglich. „Hoffentlich kopieren ihn nicht gleich die Kollegen von der anderen Seite.

    „Die benutzen nur Fabrikate von ihrem großen sozialistischen Brudervolk." Der Zöllner reichte die Papiere zurück und Trend schritt nun durch ein Labyrinth schmuckloser Gänge zur Haupthalle des Flughafens. Die Kassettendecke des gewaltigen Raumes hatten die Alliierten nach dem Krieg tiefer setzen lassen, um den einschüchternden Eindruck der Naziarchitektur etwas abzumildern, und an der Stirnwand hing statt der Swastika ein Symbol des deutschen Wirtschaftswunders.

    Trend ignorierte die Stahlwerbung und stellte sich an die Gepäckausgabe. Das Fließband durchschnitt die Mitte der Halle, und sein Koffer erschien erfreulicherweise als einer der Ersten. Erfreut hob Trend das schwere Stück vom Band und begab sich zum Ausgang.

    Doch bereits nach wenigen Metern trat ein Zivilist an ihn heran, der bisher gelangweilt die Auslagen des Reiseartikelshops betrachtet hatte. Der Mann in dem grünen Cord-Blouson schien sich das ihm ausgehändigte Foto gut eingeprägt zu haben, und auch ansonsten sein Metier zu beherrschen, denn er fragte leise: „Herr Trend?"

    Kein Mister, oder schlimmer noch, Captain Trend, sondern einfach nur ein unauffälliges „Herr"! Very good, das Headquarter hatte einen gewieften deutschen Fahrer geschickt, und Trend folgte ihm zum Parkplatz, wo sie ein dunkelgrauer Mercedes-Benz 300 S erwartete.

    Der schlaksige junge Mann verstaute das Gepäck im Kofferraum und verkündete dann nach einem langen Seitenblick auf die wenigen Passanten: „Ick könnte jetzt, wenn Sie och so weit sind?"

    Trend nickte nur, und nachdem sie eingestiegen waren, zückte der Deutsche seinen Spezialausweis. Das Dokument schien korrekt zu sein, und Trend reichte es mit einem feinen Lächeln zurück. „Danke, Herr Krause. Sie glauben gar nicht wie erfrischend es ist, sich endlich wieder mit einem echten Berliner zu unterhalten. Euer trockener Humor hat mir in Ramstein oft gefehlt."

    „Dett globe ick gerne! Die Air Base liegt ja im tiefsten Wessi-Land und denen kannste selbst im loofen die Schuhe besohlen. Krause grinste frech. „Und bitte, wenn et Ihnen nicht jeniert, für Sie bin ick einfach nur Ulli.

    „So wollen wir es halten, Ulli." Trend machte eine auffordernde Handbewegung und Ulli Krause startete den Motor. Routiniert fädelte er sich in den spärlichen Verkehr ein, während Trend neugierig das Halbrund des Flughafengebäudes musterte. Flüchtig betrachtet, hatte sich seit seinem letzten Besuch im Mai 1946 nicht viel verändert, wenn er einmal davon absah, dass der steinerne Reichsadler jetzt von einer futuristischen Radarantenne ersetzt wurde. Die weiße Kugel auf dem Hallendach war ein wichtiger Bestandteil des amerikanischen Flugüberwachungssystems und für Trend vertrat sie genauso die Präsenz seiner Heimat wie die überall geparkten Straßenkreuzer. Die größtenteils zum Verkauf angebotenen Chevys und Cadillacs warteten geduldig auf neustationierte Soldiers und zwischen den Wagen hockten die eigenwilligen Umrisse der allgegenwärtigen Käfer.

    „German cars", dachte Trend und blickte unwillkürlich auf den Stern am Kühler des Dienstwagens. Der Mercedes Benz unterschied sich doch erheblich von dem treuen Willys MB, mit dem er vor siebzehn Jahren den Flugplatz verlassen hatte. Damals chauffierte er den Jeep mit widerstrebenden Gefühlen um die leere Fläche, auf der sich heutzutage das Luftbrückendenkmal erhob. Die riesige Betonkralle bestand im Wesentlichen aus drei nach Westen gerichteten, abgerundeten Pfeilern, die unübersehbar die drei Luftkorridore symbolisierten.

    „Ditt is dett Denkmal für eure Rosinenbomberpiloten! Krause wandte nicht den Blick von dem vor ihm fahrenden Opel Kadett. „Wissen se wie wir Berliner ditt Ding nennen? Trend schüttelte verneinend den Kopf und Ulli verkündet stolz: „Die Hungerharke!"

    „Fantastisch! Ihr verliert selbst in diesen schwierigen Zeiten nicht den Humor!"

    „Wat bleibt uns och anderes übrig!" Trend nickte anerkennend und zog eine Packung US-Camel aus der Manteltasche. Ohne zu fragen, klopfte er zwei filterlose Zigaretten aus dem Zellophan, zündete sie an, und reichte eine Krause. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete schweigend die vorbeigleitende Stadt. Fast in jeder Straße sah er die Resultate hektischer Bautätigkeit. Die von den Flammen des Krieges graugeschwärzten Fassaden waren größtenteils schon frisch verputzt und auf den letzten Ruinengrundstücken wuchsen schmucklose Neubauten dem Himmel entgegen.

    Aber trotz der enormen Aufbruchsstimmung, die Trend fast körperlich zu spüren vermeinte, bemerkte er in den Gesichtern der vorbeihastenden Menschen auch eine unbestimmbare Traurigkeit. Jene überspielte, trotzige Melancholie, der er bisher nur in belagerten Städten begegnet war, und die ihn gegen seinen Willen flüstern lies: „Frontstadt-Blues."

    „Doch nich bei uns, Chef! Der Insulaner verliert die Ruhe nich! Krause grinste schief. „Schließlich hat niemand vor eine Mauer zu bauen! Ulbrichts traurige Lüge imitierte er im besten sächsisch und ballte die linke Faust zum kommunistischen Gruß. „Ditt is nach der Blockade jetzt dett zweitemal, dass die uns rankriegen wollen, wird Zeit dett euer J.F.K. endlich zu uns steht!"

    „Der Präsident hat West-Berlin nicht vergessen!"

    „Na, wollen war`s hoffen! Immerhin sind wir die Speerspitze im jroßen Agentenpoker!" Trend deutete mit einer unmerklichen Kopfbewegung erneut seine Zustimmung an, da Krauses Bemerkung durchaus den Tatsachen entsprach. In West-Berlin operierten tatsächlich alle im Ausland agierenden US-Dienste, denn die ummauerte Stadt war die einzige freie Insel in einem tiefroten Meer. Ein exklusiver Horchposten, der dank der Abhöranlage auf dem Teufelsberg, illegalen Spionageflügen, und einem Heer von informellen Mitarbeitern den kommunistischen Sattelitenstaaten pausenlos auf die Finger sah.

    Den größten Teil der ziemlich unverschleierten Aktivitäten koordinierte das amerikanische Hauptquartier, das neben den jeweiligen Dienststellen auch die teuerste Telefonabhörzentrale Berlins, schalldichte Verhörräume und mit dem „Out Post" sogar ein eigenes Kino besaß. Trend kannte das in Dahlem liegende Gelände allerdings nur vom Hörensagen, und so beobachtete er weiter aufmerksam die vorbeigleitende Stadt

    Krause, der seinen Blick allerdings missverstand, versuchte ihn zu beruhigen: „Ein bisschen dauert`s noch, die versprochene Stadtautobahn is nur auf dem Papier fertig, und durch die normalen Straßen… na, Sie sehen`s ja selber!"

    „Schon gut, Ulli. Die warten nicht unbedingt auf mich." Trend hatte es wirklich nicht besonders eilig nach Dahlem zu kommen. Der Bezirk befand sich im Süden der Stadt, und zählte zu den sogenannten vornehmeren Gegenden. Das für die Weddinger Arbeiter und die Kreuzberger Intelektuellen eher negativ belegte Image, verdankte Dahlem seinen größtenteils von Villen und Privatgrundstücken geprägten Straßenzügen.

    Zu dem gutbürgerlichen Stadtbild gesellte sich auch der Campus der Freien Universität und natürlich das Headquarter der Berlin Brigade an der Clayallee. Der nach dem Helden der Blockade benannte Damm war aber nicht das Ziel des 300 S, denn Trends neuer Wirkungsbereich versteckte sich in einer der weitaus weniger exponierten Seitenstraßen.

    Dort residierte eine extra für die drei Westsektoren gegründete Spezialgroup, die sich ausschließlich mit den illegalen Einsätzen kommunistischer Gruppierungen befasste. Die Werber und Provokateure des Staatssicherheitsdienstes der DDR betrieben schon seit den 1950er Jahren ihre schädliche Wühlarbeit im Westteil der Stadt, und da sich ihre kriminellen Aktivitäten in den letzten Monaten fast verdreifacht hatten, beschloss das in Frankfurt stationierte United States European Command die nur schwach besetzte Abteilung personell zu unterstützen.

    Als direkte Folge dieser Entscheidung rumpelte der Mercedes nun über ein grobes Kopfsteinpflaster, das Captain John Trend derart durchschüttelte, dass er mehr als froh war, als der Wagen endlich vor einer zweigeschossigen Villa hielt. Das in die Jahre gekommene Gebäude verbarg sich hinter mächtigen immergrünen Kiefern und neben seinem schmiedeeisernen Tor hingen vier polierte Messingschilder.

    Beim Anblick der bestimmt Trends Neugierde weckenden Tafeln grinste Ulli Krause impertinent, während er den Benz einparkte. „Eene Sprachschule, und zwe karitative Vereine aus Texas und Minnesota, die angeblich viel Gutes für die armen Berliner Kinda tun. Schulspeisungen und sportliche Ertüchtigung, und… en Bibelkreis von eener eurer seltsamen Sekten."

    „Ich nehme an, die Gegenseite kennt das Haus?"

    „Wat denken Sie denn? Krause lehnte sich zurück. „Lassen Sie den Koffer im Wagen. Dett dadrin dauert nich lange und dann fahr ick Sie zu ihrer möblierten Wohnung. Wird Ihnen jefallen, Chef.

    „Da bin ich mir sicher." Trend stieg aus dem Mercedes und schritt durch den verschneiten Garten zu dem düsteren Haus. Ohne zu überlegen tippte er auf den einzigen, nicht beschrifteten Klingelknopf und sofort erklang das Summen eines elektrischen Türöffners. Trend drückte die Klinke nieder und betrat einen schwach beleuchteten Gang. In ihm lagen die Räume der schon auf der Straße avisierten Sozialdienste und am Ende des Korridors führte eine Treppe in die oberen Etagen. Im ersten Stock passierte Trend die Sprachschule und das Ordinariat einer Episkopalkirche und noch eine Treppe höher, erwartete ihn eine Doppeltür ohne Namensschild.

    Die beiden verglasten Flügel waren nicht verschlossen und hinter ihnen stand inmitten eines fast quadratischen Korridors ein moderner Bürotisch. An ihm arbeitete ein muskulöser Mann, der in aller Ruhe den Füllfederhalter beiseitelegte und fragend aufblickte.

    Trend überreichte ihm seine Identitätskarte, und nachdem die Ordonanz sie routiniert überprüft hatte, schaltete sie die Gegensprechanlage ein. „Der Captain ist jetzt im Haus… Sehr wohl, Sir! Der zivil bekleidete Jüngling bedachte Trend mit einem neutralen Blick, während er die rechte Zimmertür öffnete. „Der Captain, Sir!

    John Trend nickte dankend und begab sich in das Office seines zukünftigen Vorgesetzten. Major de Lisle hatte gerade eine Shagpfeife ausgeklopft und erhob sich nun hinter seinem Schreibtisch. Auf das massive Möbelstück deutend, erklärte er freundlich: „Deutsche Eiche."

    Ein gewinnendes Lächeln überzog De Lisles glattgebügelte Gesichtszüge. „Sehr rustikal und unverwüstlich, wie so vieles in diesem schönen Land."

    „Old habits die hard! Trend erwiderte den festen, trockenen Händedruck und musterte unauffällig

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