Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Hautmalerei
Hautmalerei
Hautmalerei
eBook461 Seiten5 Stunden

Hautmalerei

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Teufel wird zum Racheengel, denn das personifizierte Böse übernimmt Selbstjustiz – Nazis sterben. Die Mordkommission Frankfurt sieht sich einem mutmaßlich hünenhaften Tätowierer gegenüber, der seine Opfer genüsslich stigmatisiert. Unterm Radar moderner Ermittlungsarbeit bewegt sich das Phantom im toten Winkel von Kameras, Funkmasten und Bürgern.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Nov. 2020
ISBN9783752921861
Hautmalerei
Autor

David Goliath

David Goliath ist ein ehemaliger Schlagzeuger und Songwriter aus Frankfurt am Main. www.ichbindavidgoliath.de

Mehr von David Goliath lesen

Ähnlich wie Hautmalerei

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Hautmalerei

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Hautmalerei - David Goliath

    Haftungsausschluss

    Fiktiv.

    Schwarz

    „Schwarz wird der Teufel stets gemalt."

    Finnisches Sprichwort

    Verortung

    Gegenwart.

    In der Nähe von Frankfurt am Main.

    Nacht & Nebel

    M wie Manie. Macht. Martyrium.

    M wie Melancholie und Monotonie.

    M wie Metamorphose und Mutation.

    M wie Maskerade und Massaker, Mortalität und Meisterwerk.

    M wie Maler. Misanthrop. Monstrum. Mephisto.

    M wie Mörder.

    M wie Meinereiner.

    Ich blicke in den dreckigen, gesprungenen Spiegel. Eine flackernde Glühbirne über mir kämpft gegen die Schatten, vor allem gegen den Schatten, der in meinem Gesicht liegt, geschützt von der Kapuze des Pullovers. Der Rest der heruntergekommenen Einzimmerwohnung im Souterrain ist dunkel. Fenster fehlen. Mehr als die Nacht wäre ohnehin nicht hereingekommen. Ein Keller mit einem abgewetzten Schlafsofa und einem schmierigen Waschbecken, daneben ein Eimer für die Notdurft.

    Da sind wir wieder.

    Ich ziehe einen Mundwinkel nach oben, ein schiefes, bösartiges, einseitiges Grinsen. Kaum zu erkennende Schemen.

    Es hat mir gefallen.

    Ich wasche meine Hände. Das Wasser spült fremdes Blut, schwarze Tinte und Camouflage-Make-up von meiner Haut, die selbst mit schwarzer Tinte gefüllt ist. Ein verformtes Stück Seife hilft bei hartnäckigen Stellen. Das Becken färbt sich schwarz, rot, gelb. Immer wieder protestiert der Wasserhahn. Immer wieder folgen braune Ablagerungen einem Stakkato an Strahlunterbrechungen. Trotzdem reibe ich meine eingeseiften Hände unter dem Schmutzwasser in einem konditionierten Muster – als hätte ich es jahrelang trainiert, verinnerlicht, automatisiert. Innen. Außen. Fingerknöchel, Fingerknochen, Fingerspitzen. Nägel, Nagelbetten. Handgelenke. Unterarme. Nach dem minutenlangen Ritual und mehreren Nachschlägen bei der Seife drehe ich den Hahn zu. Zuletzt hatte sich das Wasser durchweg braun verfärbt. Das löchrige Handtuch wischt die Nässe trocken, saugt sie auf, verschmiert sie. Ich hänge es zurück an den krummen Haken, der sich langsam aus dem Fliesenspiegel löst. Er wackelt, als ich das Handtuch an seinen angestammten Platz bringe, hält aber wacker die Stellung. Danach fixiere ich mein unbehelligtes Antlitz in den verästelten Bruchfragmenten des Spiegels.

    Endlich. Ich habe es vermisst.

    Ich fasse mit der linken Hand nach der flackernden Glühbirne über mir und ziehe sie zu mir. Meine gewaschene Hand ist durchzogen von Tinte: ein feixender Totenkopf auf dem Handrücken, umgeben von Blutrinnsalen, die weiter den Arm hochkraxeln, und lateinische Phrasen der Länge nach auf jedem Finger.

    Malum in se – „Übel in sich". Auf dem Daumen. Er zeigt auf die Person, die das Böse in sich trägt. Er zeigt auf mich. Meinereiner.

    Das Licht fällt auf den Spiegel, der die Strahlen reflektiert und mein Gesicht beleuchtet, soweit es die Kapuze zulässt. Die Augen bleiben im Verborgenen. Ein glattrasierter Kiefer. Fremde Blutspritzer haften darauf. Ein unscheinbarer Mund. Speichel, Schweiß und Sekret haben das Cover-Make-up partiell abgetragen, was die darunter versteckte Schwärze hervorblitzen lässt. Doch im Ganzen kann man die Zierde noch nicht sehen.

    Recte faciendo neminem timeas – „Tue Recht und scheue niemand". Auf dem Zeigefinger. Erhoben zur Warnung, erhoben zur Anklage. Zeigt auf denjenigen, der die Strafe verdient.

    Ich bin müde. Es war eine lange Nacht. Meine Gelenke schmerzen. Mir fehlt die Kraft der Jugend. Ich muss mir meine Energie einteilen, bin nicht mehr so agil wie vor ein paar Jahren. Trotzdem ist der Durst wieder geweckt – und gestillt, fürs Erste.

    Demon est deus inversus – „Der Teufel ist die Kehrseite Gottes". Auf dem Mittelfinger. Den kann ich in die Höhe recken und zeigen, was ich von Gott und der Welt, vom Mensch und seinem Irrweg halte.

    Ich streife die Kapuze nach hinten, mit der rechten Hand. Auch dort, Tätowierungen. Allerdings ein weinender Totenkopf auf dem Handrücken, im schaurigen Kontrast zu seinem Genossen links, und skelettierte Finger. Der Ärmel des Pullovers verbirgt weitere Details, aber im Ansatz erkennt man brennende Erde.

    Rigor mortis – „Totenstarre". Auf dem Ringfinger der linken Hand, die die Glühbirne umfasst. Der unbeweglichste aller Finger als Sinnbild für den nach dem Tod erstarrten Leib, den ich für meine Kunst benutze. Manchmal auch noch nicht erstarrt – je nachdem, wo ich bin und wie viel Zeit mir bleibt, mein Kunstwerk zu vollenden.

    Im Schein des hinter einer Glasphiole glühenden Drahtes offenbart sich mein Konterfeit, das unergründlich in den Spiegel starrt. Blutspritzer zieren Kinn, Wangen und Nase. Bis auf Augenbrauen und Wimpern fehlen meinem Kopf weitere Haare - Schädel und Bart sind glattrasiert. Meine Haut wirkt blass, porös, künstlich. Eingetrocknete Schweißperlen waren beim Versuch das Geheimnis zu lüften gescheitert. Sie konnten lediglich ein paar Ansätze offenlegen, die wie Dreckpartikel aussehen.

    Mortua manus – „tote Hand". Der kleine Finger bildet den Abschluss, das Ende. Die in die Haut gravierten Zeilen stigmatisieren mich bis in den Tod und darüber hinaus. Erst der unrühmliche Verfall wird die Schrift mit der Haut zersetzen. Auf meinen Knochen werden dann nur noch die Spuren der Nadelstiche zu finden sein, die zu tief eingedrungen sind.

    Ich löse den Griff von der Glühbirne. Das Stromkabel von der Decke holt sich ihr Eigentum zurück und bremst den flackernden Auswuchs pendelnd, während das warme Birnenglas Striemen auf der Innenfläche meiner linken Hand hinterlassen hat. Dann drehe ich den Wasserhahn wieder auf, forme meine Hände wie ein Gefäß, sammele Nässe, beuge mich über das Waschbecken und schwappe sie in mein Gesicht. Mehrmals. Fremdes Blut und Make-up lösen sich. Schließlich tauche ich wieder vor dem Spiegel auf. Wasserperlen laufen mir von der Fratze, die das Nass offenbart hat. Nase und Ohren sind vollkommen schwarz tätowiert. Flüchtig könnte man meinen, sie existieren nicht. Auf den Lippen prangen eingespritzte Zahnreihen, breiter als die ursprüngliche Anatomie. Ein farbloser Skelettmund. Das Rot der Sinnesorgane abhandengekommen, ausgelöscht. Meine Augen ähneln schwarzen Höhlen – ein Oval zwischen Braue, Jochbein und Nasenbein. Wäre die weiße Sklera nicht zwischen Tintenklecks und Pupille, könnte man sich in den Tiefen der Finsternis verlieren. Ich fasse hinein, nehme etwas zwischen Daumen und Zeigefinger in die Schraubzwinge und hole es aus meinem Auge. Die Kontaktlinse verhält sich wie Wackelpudding auf meinen Fingern, als würde sie darum betteln wieder zurück in die feuchte Höhle zu dürfen. Dabei ist es keine Wohltat. Es fühlt sich an wie ein Sandkorn und reibt in mir, während es mich in den Wahnsinn treibt. Zudem schränkt es mein Sichtfeld ein, was für Pirsch und Jagd nicht unbedingt zuträglich ist, aber notwendig, um meine Identität zu schützen. Als ich das andere Sehorgan von der artifiziellen Applikation befreit habe, blicke ich mit gänzlich schwarzen Augen in den Spiegel. Die weiße Sklera wurde bereits vor sehr langer Zeit mit schwarzer Tinte geschwängert. Die Nadeln fliegen in jährlichem Zyklus über mich hinweg, damit die verbleichende Schwärze neue Intensität erlangt.

    Ich lösche das Licht. Meine spärlichen Habseligkeiten liegen nicht im Weg herum. Ich finde mein Nachtlager blind, streife die Klamotten ab und lege mich nackt in mein durchgesessenes Schlafgemach. Mit geschlossenen Lidern und vor der Brust ineinander abgelegten Händen liege ich auf dem Rücken. Die vollkommene Dunkelheit umschließt mich. Es fühlt sich wohlig, geborgen und sicher an. Ein Maulwurf in seinem Tunnel. Ein Straußenkopf im Sand.

    Diesem Bastard habe ich die Abreibung verpasst, die er verdient hat. Zwar nicht mein bestes Werk, aber für meine Auferstehung, meine Renaissance, nicht schlecht. Eine Fingerübung zum Warmwerden. Dieser Kick war einfach unglaublich. Wie sie mich angeschaut haben, diese fremdelnden, unschlüssigen Menschen. Wie sie an mir vorbeigeschlichen sind, unsicher, ob sie ihrem Drang nach Voyeurismus nachgeben sollten. Unsicher, ob sie die Polizei rufen sollten. Unsicher, ob sie mutig nachfragen sollten, wie es dem Mann, der bäuchlings auf der Brüstung der Brücke lag, ging, und was ich denn hier mache. Sie sahen nicht, dass dem Mann unablässig Wasser aus dem Mund tropfte. Wasser, das außen an der Brüstung hinunter in den Fluss tropfte. Sie sahen nicht, dass der Mann längst erlöst war.

    Doch sie alle schlichen vorbei. Keiner machte ein Foto. Keiner traute sich, das Mobiltelefon mit der hochauflösenden Kamera zu zücken. Sie alle waren erschrocken über die Offenherzigkeit, die ich an den Tag legte – oder vielmehr in die Nacht. Die dezent ausgeleuchtete Alte Brücke verschaffte mir Schatten, in denen ich mich austoben konnte. Historisch romantische Beleuchtung nennen die Stadtplaner die wenigen Laternen, die an die graue Vorzeit erinnern sollen. Schummeriges Licht mit altem Stein im Kontrast zu den Glasfassaden und Flutlichtern der Hochhäuser des Bankenviertels in Sichtweite. Spaziergänger – Touristen und einheimische Nachtschwärmer – sollen auf dem Pflaster der Vergangenheit für gut 200 Meter die Hektik der Moderne vergessen, verdrängen oder ausblenden, selbst wenn sie sich die Passage mit vier Fahrspuren teilen müssen, zwischen pulsierenden Stadtvierteln voller Vergnügen, Laster und Sünde.

    Und dann sahen sie mich, wie ich einem Mann die Haut auf dem entblößten Rücken mit 6000 Nadelstichen pro Minute verschönerte. Das kunstvolle Muster entging ihnen natürlich, wegen der seltsamen Wahl von Ort und Zeit. Ich hatte mich für einen abstrakten Reichsadler entschieden, dessen Kopf, Klauen und je ein Flügel gekreuzt abgewinkelt in alle vier Richtungen deuteten – eine Swastika sozusagen, oder Hakenkreuz. Neben diversen völkischen und antisemitischen Motiven auf dem Körper des Mannes fühlte sich der Vogel recht wohl. Meine versierte Vorgehensweise im Halbdunkel und das Selbstverständnis, das ich versprühte, verblüfften die Menschen so sehr, dass sie mein Handeln nicht in Frage stellten. Sie gingen einfach weiter, wunderten sich über diesen merkwürdigen Straßenkünstler und den bereitwilligen Mann, der das hell erleuchtete Panorama der Großstadt genoss, während man seinen Rücken malträtierte. Die glanzlosen Augen des Rassisten konnten die blitzlichtaffinen Schlitzaugen nicht sehen, da lediglich der Hinterkopf grüßte.

    Manchmal lächelte ich einen dieser Menschen an, aus Spaß. Ich wollte die Reaktion testen. Die meisten erschraken, senkten den Kopf und huschten schnell an mir vorbei. Einer lächelte zurück. Ich sah seine glasigen Pupillen, die mich nicht fixieren konnten, stattdessen um mich herumschwirrten wie Fliegen um einen Freiluftabort. Torkelnd und lallend passierte er mich, ohne mich zu belästigen. Vielleicht hatte er die ratternde, akkubetriebene Tätowiermaschine in meiner Hand zucken sehen und vibrieren hören oder war irritiert von den Blutspritzern, die mein Gesicht besprenkelten, oder den schwarzen Tintenbächen, die von Werkzeug und Latexhandschuhen herunter platschten. Oder er war schlicht von Sinnen, fokussiert auf den Gehweg, ständig am Lächeln.

    Vorbeifahrende Autos hielten nicht an. Die Insassen beachteten mich nicht. Zu dieser späten Sunde staute sich der Verkehr auch nicht mehr an beiden Ufern. Es gab also keinen Grund den Bürgersteig fernab von Übergängen unter die Lupe zu nehmen. Selbst Polizeistreifen ließen mich achtlos liegen. Straßenkunst kennt in dieser Stadt so viele komische Formen, dass man es vermeidet, sich mit allen Abartigkeiten zu belasten. Einmal winkte ich dem Einsatzfahrzeug sogar, ohne Resonanz zu erhalten. Die Nacht schützte mich sehr gut.

    Als ich fertig war, stellte ich mich lässig an die Brüstung, um mein Umfeld zu beobachten. Ich hatte keine Lust die Beine in die Hand zu nehmen, weshalb ich einen günstigen Moment abpasste, in dem mich bauliche Wölbung der Alten Brücke, Uneinsehbarkeit durch Vegetation und abebbendes Nachtgewimmel für einen Moment zur einsamsten Person auf der Flussüberquerung machten. Dann warf ich einen letzten Blick auf das Tattoo – so wie er es wollte, dachte ich – und den Bastard in den Main. Neben dem Ruderverein plumpste er ins kalte Wasser und verschwand in der Tiefe. Ich wartete noch ein paar Minuten, lauschte dem Verkehr, dem entfernten Rauschen aus Nachtleben, Glockenspiel und Sirenen, das der seichte Wind zu mir trug. Niemand hatte den Sturz gesehen. Niemand hatte den Aufschlag vernommen. Also packte ich meine Sachen zusammen, klappte den Rollstuhl auseinander, mit dem ich den Körper geschoben hatte, setzte mich hinein und kurvte gemütlich von dannen, mit sauberen Händen an den Greifreifen, denn die Handschuhe hatte ich - die schmutzige Seite ineinander gestülpt - ausgezogen und eingesteckt. Passanten schenkten mir mitleidige Blicke – mir, meinen schlaffen Beinen, auf denen ich einen leeren Eimer balancierte, und dem ächzenden Rollstuhl. Ich lugte unter der Kapuze hervor, an der Kamera für Verkehrsüberwachung und öffentliche Sicherheit vorbeirollend, die mich als blinden Fleck aufzeichnete. Mein Adrenalinrausch näherte sich der Klimax und nährte sich von Geltungssucht, Sadismus, Exhibitionismus und Selbstjustiz.

    Tinte & Schmerz

    Ich erwache.

    Ich weiß nicht, wie spät es ist. Der Keller ist dunkel. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass die Nacht vorüber ist. Mein Körpergefühl sagt mir, dass ich ausgeschlafen habe. Ich taste mich zum Lichtschalter. Als ich ihn drücke, zündet die Leuchtstoffröhre durch, Quecksilberdampf und Argon bilden ein leitfähiges, strahlendes Plasma, und die fluoreszierende Röhrenbeschichtung aus Luminophor erhellt schließlich den kargen Keller.

    Ich strecke mich. Meine Arme erreichen die Decke – ein dickes Betonfundament. Mein Gardemaß von einem Meter 90 macht aus dem Untergeschoss ein klaustrophobisches Gefängnis, das ich aus freien Stücken wählte. Wie mich eine cannabisverseuchte Gebärmutter und ein alkoholgeschwängerter Samenstrang schufen, stehe ich in dem kleinen Verlies. Mein Gemächt grüßt den Morgen. Die schwarz tätowierte Rüstung auf breiter Brust und flachem Bauch bietet den idealen Hintergrund für die hautfarbige Schlange, die sich auf den Sonnenanbeter versteift. Auf meinen Armen setzen sich die tätowierten Motive fort. Links ein Horrorclown mit Reißzähnen und Blutaugen – eine der ersten Hautmalereien, die ich mir gegönnt habe. Nicht selten wünsche ich mir ein unter die Haut geschobenes Audioabspielgerät, das ein grauenhaftes Gelächter abspielt, wenn ich den Muskel anspanne, weil ich die Menschen um mich herum abschrecken will, ehe sich meine Faust in deren hässliche Visagen rammen muss, weil sie mir auf die Pelle rücken. Den restlichen Arm zieren Äxte, Kettensägen, Macheten und Blutrinnsale. Mein kleines, persönliches Folterkabinett. Auf dem rechten Arm erinnert mich der Sensenmann an meine Sterblichkeit. Ausdruckslos verweilt er auf meinem Oberarm, die schartige Sense wie ein Mahnmal neben sich. Um sich hat er Fliegen, Grabmäler und brennende Erde gescharrt. Unter meiner Gürtellinie folgt ein Potpourri aus Fegefeuer, den vier apokalyptischen Reitern, Atompilzen und schwarzen Engeln. Ach ja, auf meinem gesamten Rücken liegen schwarze Schwingen an. Und auf meinem Hals befindet sich gemalter Stacheldraht. Rundherum. Manchmal fühle ich die Metalldornen, wie sie meine Kehle belagern und sich am liebsten in Halswirbel und Schlagadern bohren wollen.

    Mit dem Waschlappen wasche ich mich. Die groben Fasern schleifen wie Sandpapier über die tätowierte Haut. Es plätschert in das Waschbecken. Ich stöhne, weil das Wasser so kalt ist. Kernseife löst den Schmutz von mir. Eine Tinktur aus ätherischen Ölen und Alaunstein überdeckt zuverlässig meinen Körpergeruch – für ein paar Stunden. Ich hasse meinen Körpergeruch! Stattdessen dufte ich nach einer Gebirgswiese – bis die Geißen darauf urinieren.

    Eine lange Hose und bequeme Schuhe gestatte ich mir. Meinem dezent trainierten Oberkörper spendiere ich ein vorsätzlich gelöchertes Top. Die Kunden sollen schließlich Vertrauen in meine Arbeit gewinnen, indem sie sich an meinen Tätowierungen ergötzen.

    Durch die quietschende Stahltür geht es nach oben. Der Krach warnt mich vor ungebetenen Gästen. Oben erwartet mich der Tag. Mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Der Tag ist angebrochen, jedoch noch nicht sehr weit fortgeschritten. Ich betrete ein Tattoo-Studio – mein Tattoo-Studio. Zwei Räume, getrennt durch einen Vorhang. Vorn der Empfang – ein Tresen, ein Klo hinter einer einflügeligen Western-Saloontür und eine schlecht gepolsterte Sitzmöglichkeit, äußerst spartanisch. Hinten meine Folterbank: ein altertümliches Holzgestell mit Eisenketten und –manschetten, getrocknetes Blut inklusive – könnte man meinen, doch es handelt sich um täuschend echte Farbe, falls jemand fragt. Dort beackere ich die Kundschaft. Man bezahlt nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Show.

    Tintenschmerz heißt das Kind, indem ich eine im Abendland seltene Technik perfektioniert habe. Zwar kann ich damit keinen Fotorealismus auf die Haut zaubern, weil es eher grobschlächtig daherkommt, aber Erfahrung, Erinnerung, Haptik und außergewöhnliche Einmaligkeit lassen die Limitierung im Rausch in Rauch vergehen. Ink Rubbing nennt die sogenannte Fachpresse die Vorgehensweise, wo durch das Ritzen der Haut und das Einreiben von farbgebenden Materialien in die entstehenden Narben Kontur und Struktur geschaffen wird. Ich nutze Asche, am liebsten die Asche Verstorbener. Ein Kontakt im Krematorium versorgt mich mit Nachschub. Den Angehörigen wird dann eine Vermengung von Mensch und Schweingebein in die Urne gefüllt. Natürlich ist es ein Gerücht, dass ich mit Totenasche arbeite, aber weder kommentiere noch dementiere ich. Die Mundpropaganda beschert mir mehr Anfragen als ich abarbeiten kann. Prüfungen durch das Gesundheitsamt verlaufen stets ohne Beanstandungen, dank Buschfunk und guter Refugien. Zu der grauen (Toten-)Asche mische ich noch etwas schwarzes, gemahlenes Schießpulver. Das Skalpell öffnet die Haut und ich bringe das Gemisch ein, knete mit den Händen wie der Bäcker den Teig, reibe mit den Fingerbeeren wie die zierliche Masseuse vorm Happy End. Es ist recht blutig, aber die Kunden schreckt das nicht ab. Im Gegenteil, der Verzicht auf filigrane Kunst wird ersetzt durch die masochistische Faszination der legitimierten, offensichtlichen Körperverletzung. Das Resultat sind vernarbte, wulstige, schattierte Körperpartien, verziert mit einfachen Motiven, Sprüchen oder grotesken Formen. Noch mehr als Skalpell und Einrieb schmerzt die Desinfektion nach der Staubapplikation. Die verzerrten Gesichter der Kunden sehen nicht mein feixendes Konterfeit, wenn ich das bakterizide, fungizide, tuberkulozide, viruzide, bläuliche Mittelchen über sie kippe. Sie zucken wie Stroboskope im Dauerfeuer, wehren sich gegen die Eisenbewehrung meiner Folterbank. Die Ketten rasseln. Sterbende Schlossgespenter. Ich liebe meine Arbeit!

    Aret ist noch nicht da. Sie ist meine rechte Hand, eine echte Notwendigkeit im alltäglichen Dschungel aus Kundenakquise, Networking, Social Media, Haftungsausschlüssen und Buchhaltung. Ohne sie wäre ich verloren. Ohne sie könnte ich mich nicht entfalten. Der Kram, den sie erledigt, nervt mich. Ich will nur die Haut, kann auf das Drumherum verzichten. Dafür erhält sie einen guten Lohn, der sich auch ihre Verschwiegenheit erkauft. Die kolportierte Totenasche ist lediglich ein Bruchteil meiner Sonderbarkeiten.

    Die Kaffeemaschine bekommt Wasser und Pulver. Ich verabscheue Nikotin, aber ich brauche Koffein. Schon beginnt das Gerät zu brummen und dampfen – ein kleiner Morgenmuffel, der meinen Morgen in Schwung bringt. Während der Apparat kocht, schließe ich den Laden auf. Zuerst entriegele ich innen die Glastür, dann den Aluminiumpanzer davor, den ich nach oben schieben muss. Draußen empfängt mich eine leere Reihe von Parkplätzen, wo ich drei Stellflächen für das Studio reserviert habe. Aret stellt sich immer auf die erste Stellfläche davon. Sie nutzt den honiggelben Firmenwagen – ein schnittiges, leistungsfähiges Cabriolet mit dem Tintenschmerz-Schriftzug, den Kontaktdaten und einem kecken Spruch: geht unter die Haut! Die zwei anderen Parkplätze stehen den Kunden zur Verfügung. Einer für den zu behandelnden Kunden, der zweite für den interessierten Kunden, der sich den Pranger der Pein anschauen möchte. Über ein Gässchen zu erreichen. Kiefern, Buchen und Eichen säumen die Umgebung. Eine fehlende Überflutungsfläche verkürzt meinen Weg zu dem mittelgroßen Fluss – derselbe, den ich zur Entsorgung der Leiche benutzte. Die Strömung fließt zur Großstadt hin gen Westen, also wird der Körper in die andere Richtung getrieben und nicht vor mein Studio. Ich rechne außerdem jede Nacht mit der strafenden Sintflut, weil mein Schlafkeller unterhalb des Wasserpegels liegt, aber bis jetzt bin ich immer wieder aufgewacht. Das letzte Hochwasser, welches nicht durch die Staustufen reguliert werden konnte, trat vor meiner Zeit in diesem kleinen, dörflichen Stadtteil über die aufgeschütteten Ufer mit ihren mickrigen Flutmauern.

    Die Sonne gewinnt an Stärke. Ich spüre die Strahlung auf meiner veränderten Hautoberfläche beim Kontrollgang außerhalb. Ein paar Getränkebecher liegen herum, zusammen mit einigen gerauchten Kippen. Die vorlaute, despektierliche Jugend hat sich offenbar herumgetrieben. Ich werfe den Müll in den öffentlichen Abfalleimer keine zehn Meter entfernt und nutze die Gelegenheit über den Parkplatz bis zur Böschung zu schlendern. Die sonstige Stellfläche gehört zur Fähre, die täglich der Strömung auf 130 Meter Breite trotzt, und dabei fahrbare Untersätze bis dreieinhalb Tonnen chauffiert, genauso wie Fußgänger.

    Erste Radfahrer schießen an mir vorbei, denn direkt am Fluss führt ein beliebter, frequentierter Radweg entlang. Das Grün der Vegetation beruhigt mich. Ich blicke über das fließende Wasser. Gegenüber liegt ein Campinggelände, das von Flora geschützt wird. Richtung Westen folgt ein kleiner Bootshafen. Mit der Sonne auf der zweiten Gesichtshälfte tapse ich zurück zu meiner Liegenschaft. Ich drehe den Kopf in beide Richtungen. Auf der einen Seite sehe ich die dreiflüglige Schlossanlage, die mittlerweile mit Eigentumswohnungen vollgepumpt ist, und den angrenzenden Schlosspark. Auf der anderen Seite sehe ich ein dünnes Gewerbegebiet, an das sich ein Naturschutzgebiet anschließt, zentriert von einer gefluteten Kiesgrube, an deren Zipfel sich ein niedliches Strandbad anhängt.

    Während ich flaniere, bleibt die Ladentür sperrangelweit geöffnet. Etwas frische Luft vertreibt den Muff aus dem Kabuff. Auf dem Rückweg betrachte ich die bescheidene Selbstständigkeit, die Monat für Monat meine Schulden begleicht. Und die Nachbarschaft. Provinzialer Einzelhandel, der sich gegen das Internet und die geballten Einkaufszentren stemmt, abhängig von den wenigen Stammkunden aus dem unmittelbaren Umfeld. Darüber ein paar Wohnungen. Neugierige Augen erspähen mich. Sie blinzeln durch die antiquierten Gardinen hindurch und denken, ich sehe sie nicht. Dabei weiß ich ganz genau, wie das Rentnerehepaar der Nachbarschaftswache über mich und mein Treiben denkt. Am meisten schreckt sie meine Erscheinung ab, vor allem meine dunklen Augen, bei denen man nicht sieht, wohin ich eigentlich schaue, weil einfach alles schwarz ist. Ich winke freundlich und gehe in mein Geschäft. Erwidert wird die Geste nicht. Jeder von beiden hat sein eigenes Fenster. Der eine hockt im Wohnzimmer; die andere in der Küche; beide starren den halben Tag hinaus zum grünen Ufer, an dem dutzende Blechkisten parken. Ich stelle mir vor, dass sie sich fromm bekreuzigen, wenn sie mich sehen.

    Der Kaffee ist durchgelaufen. Ich gönne mir eine Tasse. Schlürfend prüfe ich den Briefkasten – Werbeflyer, trotz des eindeutigen Aufklebers, der darum bittet, auf den Einwurf von Werbung zu verzichten. Vielleicht sollte ich einen mehrsprachigen Aufkleber anbringen - oder plakative Piktogramme, die selbst dressierte Affen verstehen. Dann schlurfe ich durch den Laden und sichte das Inventar. Zuerst mein Arbeitsmaterial: Skalpelle, Tupfer, Mullbinden, Kompressen, Formaldehyd und Peressigsäure für die Sterilisation der Geräte, Propanol als Desinfektionsmittel für Wunden und Hände, Hautcreme, Asche und Schießpulver in Töpfen, außerdem noch Beißkeile, Kokain als Lokalanästhetikum und Morphium als Analgetikum. Die Betäubungssubstanzen lagern in einem Geheimfach unter der Sitzfläche meines gepolsterten, höhenverstellbaren Drehhockers und werden als Ultima Ratio angesehen. Besitz und Anwendung sind nicht konform mit dem Gesetz, aber manche Kunden trauen sich mehr zu als sie aushalten. Bevor ich reanimieren muss, sediere ich lieber. Die geringe Dosis verhindert eine Abhängigkeit, rede ich mir ein. Vielleicht ist das auch ein weiterer Grund, warum so viele Wiederholungstäter auf der Matte stehen. Meine Bezugsquelle behalte ich besser für mich. Aret kennt das Spiel, weshalb ich für ihren geschlossenen Mund auch so gut bezahle. Früher bezahlte man sie schlechter, für einen geöffneten Mund. Schlucken ohne Mucken musste sie trotzdem.

    Mein Arbeitsplatz ist vom Boden bis zur Decke gefliest – schlichtes Weiß mit weißen Fugen. Gut für Blut. Erleichtert die Reinigung. Es gibt keine Bilder, Skizzen oder Fotos. Nur die Holzbank mit den Eisenbeschlägen, eine alte Kommode mit verglasten Türen für meine Utensilien und Holztüren, wohinter die autarke Tätowiermaschine lagert, die ich auswärts nutze. Außerdem ein Abwurfbehälter für blutiges Verbandszeug und ein Waschbecken aus Edelstahl für Desinfektion und Sterilisation. An der abgehängten Decke beäugen mich dutzende Einbaustrahler, die als Publikum beobachten und als Tribunal verurteilen.

    Nach dem morgendlichen Rundgang blättere ich Kalender und Aufträge durch. Heute kommen zwei Kunden. Ein Frischling und ein Dauergast. Bevor der Kaffee kalt wird, trinke ich die Tasse aus. Der Frischling will mir seinen äußeren Oberarm zur Verfügung stellen. Er gibt mir die Freiheit, mich auszutoben, schränkte jedoch das Thema ein: maritim. Ein Seepferdchen würde mir gefallen. Mal sehen, was da für ein Schmalhans kommt. Da Aret den Erstkundenkontakt übernimmt, weiß ich nie, wer mich erwartet. Sie kennt mich und meine Gepflogenheiten, weshalb sie den Interessierten genau sagen kann, was ihnen bevorsteht. Das Wichtigste ist sowieso der Haftungsausschluss. Körperverletzung mit Einwilligung. Der Dauergast ist ein längerfristiges Projekt: Rosenranken vom großen Fußzeh, über Spann, Knöchel, Wadenbein, Knie, Oberschenkel, Hüfte, Po, Rücken und Schulter bis zum Nacken. Es ist der dritte Termin. Den ersten Termin mussten wir wegen der Schmerzen abbrechen. Die zarte Frau kämpfte zudem mit ihrem Kreislauf. Ein koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk und ein Schokoriegel halfen. Beim zweiten Termin war sie vorbereitet – mental und körperlich. Bis zu ihrem hübschen Hinterteil sind wir gekommen. Heute wird sie mir den Rest ihres ansehnlichen Körpers zeigen, wenn wir uns vom Po bis zum Nacken hocharbeiten. Möglicherweise muss ich heute eine Prise Morphium spendieren. Da kaum Fettpolster vorhanden sind, werde ich nah an ihren Knochen herumsäbeln.

    Bis meine Adjutantin eintrifft, setze ich mich nach vorn in den Empfangsbereich. Der Getränkekühlschrank summt leise und die Wanduhr tickt. Ich atme vor mich hin, zähle die Radfahrer, Kinderwagen und angeleinten Hunde, die vorm Laden vorbeihuschen.

    Erinnerungen an die letzte Nacht fluten meinen Geist. Als ich dem verkappten Nationalsozialisten in einer schlecht beleuchteten, mies belüfteten, leicht zugänglichen Parkgarage auflauerte, ihn mit Engelsstaub (PCP – ähnlich halluzinogen wie LSD, aber in der richtigen Dosierung einschläfernd) als Aerosol gefügig machte, ihn und sein Mobiltelefon in einem Eimer mit frischem Flusswasser ertränkte, ihn in dessen übermotorisierten SUV hievte und zur Alten Brücke kutschierte, wo ich einen Behindertenparkplatz in der Nähe besetzte. Er kam gerade aus dem Büro aus einem der Wolkenkratzer im Bankenviertel, mit feinem Zwirn und schicker Aktentasche. Ich passte ihn ab, hockte wie ein Kobold mit dem Eimer voll Wasser zwischen den parkenden Autos. Heute würde ihn die Investmentbank, für die er Bioreservate und Bodenschätze auf ärmeren Kontinenten für größtmögliche Rendite opferte, als vermisst melden. Seine Familie könnte die Vermisstenmeldung bereits in der Nacht abgeben haben, mit dem höflichen Hinweis der Polizeidienststelle, dass ein bekannter Trinker auch mal ein paar Stündchen auf einer Parkbank dösen könne, bevor er wieder erreichbar sei, und man noch etwas abwarten solle. Vielleicht wird er aber auch gefunden – von Seeleuten oder Morgenathleten, die Knie und Wirbelsäule über das harte Stadtpflaster prügeln, in engen, atmungsaktiven Mischfasern, mit erschreckender Umweltbilanz.

    Der Nazi kannte mich. Ich kannte ihn. Laute Diskussionen mit Aret riefen mich auf den Plan. Ich unterbrach eine Session, zog den Vorhang ruppig zur Seite und brüllte nach vorn, was das Affentheater soll. Der Nazi bestand darauf, dass ich ihm einen Spruch von Schlüsselbein zu Schlüsselbein einfräse: Meine Ehre heißt Treue. Ein Wahlspruch der Waffen-SS im Dritten Reich. Nicht zu vereinbaren mit meiner Kunst, meiner Überzeugung, meinem Verständnis von Menschlichkeit, auch wenn ich die Menschen nicht mag. Ich hasse nicht nur Nazis, ich hasse die meisten Menschen. Ich lehnte ab und komplimentierte ihn hinaus. Statt zu gehen wedelte er mit einem Stück Papier, einem Geschenkgutschein, den ihm seine Kameraden überreicht hätten. Ich wusste, dass diese Aktion eines Tages nach hinten losgehen würde, aber Aret war von der PR-Sache mit den Gutscheinen überzeugt. Als ob ich nicht genug Kunden hätte. Aret meinte, dass wir unseren Bekanntheitsgrad und die Akzeptanz steigern könnten, aber ich wusste, dass sie insgeheim mitschneiden wollte. Ständig schaut sie mir über die Schulter. Ich bin mir sicher, dass sie heimlich übt. Sie denkt, sie könnte einen zweiten Arbeitsplatz neben meiner Folterbank einrichten und dann ihren Stil verbreiten. Doch ich brauche sie vorn an der Theke, auch als Schutzschild, nicht zu meinem Schutz, sondern zum Schutz der Anderen.

    Jedenfalls war mein Jagdfieber geweckt. Ich zerriss den Gutschein, plusterte mich auf, um die zwei Meter auf Zehenspitzen zu erreichen, und näherte mich dem renitenten Rechten. Man sah ihm die idiotische Ideologie kaum an. Die Kleidung verdeckte alles, auch wenn er stets langarm tragen musste. Ich sah es in seinen Augen aufblitzen. Er wollte einen kurzen Moment rebellieren, doch dann schien er sich einzugestehen, dass aus unserer Beziehung kein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis werden konnte. Mir und Aret einen giftigen Blick zuwerfend verließ er das Studio. Als der Gestank von Verblendung verzogen war, hob ich den zerstückelten Gutschein auf und prägte mir seinen Namen ein. Ein paar Abende und Nächte später hatte ich genug über ihn in Erfahrung gebracht, damit ich mein neuestes Projekt in Angriff nehmen konnte.

    Richard Wagner hieß der Böse. Ein unbedeutender Hedgefonds-Manager. Er vermehrte das Vermögen der Reichen, verwehrte es den Armen und zwackte sich einen guten Prozentsatz ab – zwei Prozent Verwaltungsgebühr und 20 Prozent Gewinnbeteiligung. Eines von vielen Rädchen im Unternehmen. Er war unauffällig, arbeitseifrig und höflich, wie man es von Serienkillern und Amokläufern immer hört. In seiner Freizeit war er Vorsitzender einer unscheinbaren Kameradschaft, die deutschem Bier und Allmachtfantasien in einem kleinen Schrebergarten frönte. Freitags traf man sich, um dem Alltag aus Arbeit, Ehefrau und Kindern zu entkommen. Dann wurde in der Dämmerung die Reichskriegsflagge gehisst. Nebenan liegen Parzellen mit kroatischen und italienischen Flaggen, aber niemanden störte der kriegstreiberische Nationalismus. Das Dutzend Springerstiefel grölte rechte Parolen, marschierte um das Lagerfeuer und salutierte militärisch – Rumpelstilzchen für Despoten. Im Hintergrund liefen altdeutsche Schmonzetten auf Schallplatte, die ruhmreiche Soldatenhelden und rechtsradikales Gedankengut priesen. Im Schutz von Eichenstämmen und Stachelbeersträuchern gaben sich die Mannen dem Rassismus hin, den sie im Alltag unterdrückten. Ich sah mir dieses Schauspiel ein paar Mal an. Bald wurde es zu einem Ritus, freitags hinaus in die Gärten zu schleichen und den Biergestank herunterzuwürgen, der aus den heiseren, eisernen Kehlen strömte.

    Dem Wagner folgte ich nach Hause, wo er Frau und Kind autokratisch beherrschte. Alkoholisiert war dieser Mensch nicht zu ertragen, weshalb sich seine Frau mit dem Sohn im Kinderzimmer einschloss. Sie tat so, als würde sie schlafen, wenn er gegen die Tür pochte. Der Kleine wachte zum Glück nicht auf. Weil sich Wagner bereits mit den Kameraden ausgetobt hatte, fehlte ihm die Kraft Dummheiten anzustellen. Er legte sich stinkend ins Bett. Die Erdgeschosslage der wichtigen Räumlichkeiten ermöglichte mir eine ausgiebige Erkundungstour. Wahrscheinlich zog Wagners Frau die Rollläden nicht komplett zu, damit sie im Notfall gesehen und gehört würde. Ein schönes Haus. Ich imaginierte wie ich darin leben würde. Kind und Frau würde ich adoptieren, wenn das zum Gesamtpaket gehört.

    Ich verfolgte das Familienleben auch, als Wagner nüchtern den Patriarchen gab. Er schrie seine Frau weder an noch schlug er sie, aber diese subtile Spannung, dieses Machtgefälle, das er jeden Tag ausreizte, belastete die Ehe. Ich belächelte die gestellten Fotos an den Wänden. Hochzeit. Urlaub. Ausflüge. Derart im Übermaß, dass man erschlagen wurde, wenn man das von außen gut situiert wirkende Haus betrat. Jeder sollte sehen, wie harmonisch die Familie Wagner ihrem Dasein fristete. Ich muss gestehen, dass ich die Frau auch einmal halbnackt erwischt hatte. Sie kam aus der Dusche. Ihr Bademantel fiel günstig und legte eine Tätowierung frei. Ihre Scham interessierte mich nicht, aber die Zahl am

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1