Die Insel hinterm Mond: eine äolische Erzählung
Von Roland Zoss
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Über dieses E-Book
Die Dörfer zu Geisterdörfern zerfallen, die Räume von Wermut und Ginster bewachsen, von Geckos und Schlangen bewohnt.
Er ist mit den letzten Einheimischen zusammen in Winterstürmen und Erdbeben, beim Weinstampfen und beim Brotbacken. Er lebt mit wenig Geld, ohne Strom, ohne Strassen am Rand der Zivilisation, durchstreift eine unberührte Natur.
Und eines Morgens steht er auf einem Berg vor einer Ruine und hat das seltsame Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Noch am gleichen Tag wird der Kaufvertrag unterschrieben. Der Poet der Insel überschreibt ihm das zerfallene Grundstück und pflanzt eine Palme an.
Damit geht der Traum vom Haus auf einer Insel zu Ende – und die Wirklichkeit beginnt!
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Buchvorschau
Die Insel hinterm Mond - Roland Zoss
Sprichwort
Die Menschen im Meer
Weit draußen. Weiter als die Flügel der Schwalbe tragen. Weiter als die Wolken reisen: Eine winzig-grüne Hoffnung. Ein Kolibriland, ein Mondgarten, ein Berg, mitten im Meer.
Im Schatten der Palmen ruht Odysseus sich aus. In den Büschen säuselt Äolus etwas von der Liebe. Der Sommer ist ein blaues Zelt. Ohne Gift lebt die Schlange, ohne Geld der Mensch. Kein Ölfilm bricht das Azurblau verschwiegener Buchten. Niemand muß Holz suchen für den Winter. Niemand hat Hunger. Schwer tragen die Bäume Früchte das ganze Jahr. Im Hang parfümieren sich die Blumen. Das Licht bekommt Schmetterlingsflügel. Verbannt das böse Wort, das den Mund bitter macht und die Lippen schmal. Abseits der Kriege. Abseits der Zeit. Behütet von der Sonne. Trauminsel.
*
Das Meer trägt kaum Wellen. Und doch haben die wenigen Passagiere an Deck den Kopf eingezogen in ihre Windjacken. Das Tragflügelboot schaukelt nicht, und doch flucht einer: «Porca miseria, quiste tempu?» Was für ein Sauwetter. Der Wind wischt die Worte ins Meer. Es hat seine Magie nicht verloren, fängt spielerisch deinen Blick im Wellennetz und schickt dich weit fort… Auf einmal spürst du Land. Das Aroma von Wermut und Ginster. Ein helles Gefühl im Bauch: Arrivato! Da stehen sie an der Mole. Die Menschen vom Meer. Ein Empfangshaufen freundlicher Gesichter, mit denen dich etwas verbindet: ein Stück Weg, ein Glas Wein, eine kleine bella Storia.
Scherze fliegen hin und her, bis der bullige Ruderer den Laufsteg ins Boot schiebt. In ein paar Schritten an Land… Hoppla!, etwas fehlt doch da! Die alte romantische Umsteigeprozedur vom großen Schiff ins Ruderboot. Der helfende Griff unterm Arm beim Aussteigen. Der Hafen ist neu gemacht worden, die Mole verbreitert und mit einem eisernen Landungsstück fürs Fährschiff versehen. Aber das fällt außer mir wohl keinem auf.
Und die Luft? So rein und frisch gesalzen! Und der unglaublich blaue Himmel! Und die unglaublich lauten Leute, die sich umarmen und anschreien zur Begrüßung? Der Mongoloide, inmitten überquellender Gemüsekisten und Koffer, erregt vom hitzigen Hallihallo des Wiedersehens?! Und ich? Zwischen den Beinen einen herrenlosen Hund, und hinter mir etwas Tiefes, etwas Uraltes, Schweres. Ein Boden voller Schmerzen, voller Küsse und Tränen, getränkt vom Schweiß der Jahrhunderte.
Kleiner Kontinent meiner Träume. Zehn-Quadratkilometer-Land voller Steine, voller Kakteen mit ihren Segmenten wie Micky-Maus-Ohren. Und dahinter ein richtiger, hoher Berg, umspült von der Melancholie des Meeres.
«Tutto occupato!» Kein Auto frei. Also steige ich solo den Weg hoch – wie früher Topolo mit dem bepackten Postesel. Und nun spüre ich erst die Müdigkeit von 24 Stunden Zugfahrt. Die Sonne brennt in den Nacken wie ein Spotlicht. Und wie jedesmal bin ich furchtbar aufgeregt. Und wie jedesmal frage ich mich, was ich eigentlich in dieser rauhen Schönheit hier verloren habe. Diese zerfallenden Wege, diese grauen düsteren Ruinen, diese abrutschenden Hänge. Dieser glühende Garten Eden.
*
1973 wollte ich nichts weiter als Sonne und Süden, um die Maturitätsprüfung per Fernkurs vorzubereiten. Ich erinnere mich genau: Es war frisch im Hafen von Messina kurz vor Mitternacht. Und doch sehr mild für eine Novembernacht. Im Schiffsalon hatte ich mich auf den abgewetzten Ledersessel geworfen, drehte nervös an meinen langen Zapfenlocken und starrte durchs Bullauge in die Nacht der Mafia. Dunkle Typen hingen im Hafen herum. Es roch nach Öl und Fisch. Es roch nach Abenteuer.
Da draußen, hinter der blau blinkenden Neonreklame, dort in der tintenschwarzen Nacht lagen also die Inseln, die Homer besungen hat im zehnten Gesang der Odyssee. Wo griechische Windgötter ihre Stürme brauen. Skyilla und Charybdis? Zittert die Erde? Atmen unterirdische Giganten?
Ich war eingeschlafen und hatte nicht bemerkt, wie das Schiff die schweren Motoren anwarf. In meinem griechischen Traum wirkte Sybille noch reifer und mysteriöser mit ihrem langen Haar von Silbersträhnen durchzogen. Wie lange sie wohl schon im wilden Süden wohnte? Ganz Frau, und ganz allein? Als ich sie in der Pergola ihrer Casa Silberdrähte zu Filigranschmuck schmieden sah, liebte ich sie: diese Hände am wackeligen Tischchen. Drauf eine himbeerrote Kerze; an der grauen Wand viel Lila und Batik. Der Tonkrug voller goldener Orangen. Etwas Großes, etwas Goethe lag in der Luft. Die Bougainvillea-Blüte in ihrem Haar entrückte Sybille im endlosen, milden Dezember ganz zu einer Hippiedame, einer Liebesgöttin, die abseits vom Rummel ihr Kalifornien gefunden hat. Im Turmzimmer ihres Hauses fraß ich mich durch einen sehr dicken Stapel Literatur – stur wie die raspelnden Holzwürmer im Dachgebälk. Draußen vor der Tür hing die Gitarre im Balkon, grad neben dem stählernen Himmel, der nirgendwo ein Ende nahm. Spät abends, wenn die Einheimischen sich in der Kühle zu Wein, Weib und Kartenspiel gesellten, sah man in Sybilles Haus noch ein Gaslicht brennen: Der Svizzero und Sybilla machten Amore!
O wie falsch, solches zu denken! Da brütet einer mit eiskalten Füßen über der zwittrigen Befruchtung der Weinbergschnecke. Oder hatte müde den Zoologiekurs weggelegt und die Gitarre aus dem feuchten Futteral geklaubt und sang mit Bob Dylan: «My love is like some raven on my window with a broken wing!»
*
In jenem Winter sammelte ich an windstillen Tagen jeden Ramsch für eine Collage: Schritt auf Schritt fand sich Kunst. Ein roter Fischerfaden, ein verrostetes Uhrwerk, Heiligenbildchen in öden Ruinen, Kaktusfasern und rotes Gestein, das Funken warf, wenn man es schlug. Dabei lernte ich den zweiten Touristen von Filicudi kennen. Er lebte in einer Felsgrotte, war früher zur See gefahren. Der deutsche Seemann malte wunderschöne Inselszenen, las Nietzsche und Hölderlin. Und er ermunterte mich, das Studium fallenzulassen und hier ohne Zivilisation das Leben zu lernen. Wozu auch aus Büchern? Ist es nicht tausendmal aufregender, nach griechischen Inschriften zu forschen, Polypen zu fangen, von wildem Spargel und Spinat zu leben, der am Wegrand wächst, jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt?
Ich machte mich also auf nach Monte Giuglia. Die Tochter des Römerkaisers Agrippa sei als Nymphomanin auf diesen Berg verbannt worden. Man sprach von einem sagenhaften Schatz. Stunde um Stunde grub ich mit dem Schweizer Offiziersmesser, riß Wermutbüsche aus, stieg in geborstene Zisternen. Dann gab ich auf – stumpf an die letzte von drei römischen Säulen gelehnt. Mein Fund: nichts als leere Schneckenhäuser, Tonscherben und ein verrostetes Spielzeug-Bügeleisen aus der Jahrhundertwende. Doch da war noch etwas: das Meer, von feinen Windspuren durchzogen. Und kleine Nachbarinseln, schwimmend im Horizont. Tief in der Ferne die grauen Quader der Häuser, die Schlangenspuren der Maultierwege. Alles so seltsam vertraut. Und auf einmal diese Ahnung, fast schon Gewißheit, bereits hier gelebt zu haben. Keine zwei Stunden später wurde auf einer alten Schreibmaschine der COMPROMESSO getippt: das Verkaufsversprechen. Als Eintrittsgeld für Filicudi hatte ich dem Leben meine ganzen kleinen Ersparnisse hinzugeben. 2 Millionen Lire, die eingebacken in einen Butterzopf die italienisch-schweizerische Grenze überqueren sollten.
Also vorerst stand ich einfach überwältigt vor Glück dreihundert Meter überm Meer mitten in diesem Breitleinwand-Hollywoodfilm-Panorama. Und später versuchte ich das Papier in meiner Hand zu lesen und verstand nicht die Hälfte dieses schwierigen juristischen Italienischs. Doch ich glaubte der zittrigen Unterschrift PEPPINO POETA und dem rührigen Angebot, mir als Dichterkollegen bei der Ricostruzione beizustehen.
*
Umgehängt der Seesack! Erleichtert von Erinnerungen steige ich höher, vorbei an der geschlossenen Post, an der geschlossenen Pensione, am Telefono. Hinein in die enge Gasse der Häuser von Rocca di Ciauli. Hinter den Gittern der rosa Kapelle: Jungfrau Maria. Ciao, ist dir auch heiß? Wo stecken die Menschen? Kennt mich denn keiner mehr?
Jenseits vom Dorf öffnen sich weite Gerstenfelder. Im Grün indonesischer Reisterrassen reihen sie sich aneinander. Wie weiche Sicheln schneiden sie den Berg. Terrasse um Terrasse, eine Landschaft, die schweigt in der Hitze. Ab und zu ein Mandelbaum, eine Kuh am Schatten. Häuser, die aussehen wie schläfrige Menschen, die mit dem Kopf im Nacken die Sonne genießen. Je näher mein