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Saitenstrassen - oder die Melodie des Zufalls: Musikroman über die Seventies
Saitenstrassen - oder die Melodie des Zufalls: Musikroman über die Seventies
Saitenstrassen - oder die Melodie des Zufalls: Musikroman über die Seventies
eBook312 Seiten4 Stunden

Saitenstrassen - oder die Melodie des Zufalls: Musikroman über die Seventies

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Über dieses E-Book

Roman mit Songpoesie-CD von Roland Zoss
Eine Reise in die Völker Lateinamerikas und in die Musik der Seventies.
Micha Blinz zieht mit Gitarre und Freundin aus, um Amerika zu suchen. In Kalifornien kommt er zum ersten Auftritt, zur ersten Drogenerfahrung.
Als der Stern am Himmel des US-Showbusiness nicht so recht erstrahlen will, trampen sie zusammen nach Mexiko. Dabei beginnt eine zweite Reise: die Fahrt zurück ins Land der Kindheit. Je länger sie unterwegs sind, um so stärker verblassen ihre romantischen Bilder. Sie erfahren die Trauer der Tropen, Einsamkeit und Ausbeutung der Einheimischen.
Als Julia ihren Micha verlässt reist er allein weiter auf der Suche etwas. Einem Traum von Leben der aufblitzt in den Augen der Mulattinnen. Auf den 6 Saiten der Gitarre. Im Gespräch mit einem Missionar. Im Duft einer Blume.
SpracheDeutsch
HerausgeberBookBaby
Erscheinungsdatum1. Sept. 2011
ISBN9781618420954
Saitenstrassen - oder die Melodie des Zufalls: Musikroman über die Seventies

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    Buchvorschau

    Saitenstrassen - oder die Melodie des Zufalls - Roland Zoss

    cover.jpg

    Roland Zoss

    Saitenstrassen

    „Herzlich danke ich

    den Mitgliedern der Literarischen Kommission der Stadt Bern, die dieses Projekt mit einem Werkbeitrag unterstützt haben."

    Roland Zoss

    Saitenstrassen

    oder die Melodie des Zufalls

    ein Roadmovie-Roman

    In den Hauptrollen:

    Micha Blinz und Julia von Tal

    ~

    Drehbuch:

    Die 60er und 70er Jahre

    ~

    Script-Assistenz:

    Bendicht Arni, Willi Schmid

    ~

    Umschlag-Gestaltung:

    Volker Dübener

    ~

    Herstellung:

    Freiburger Graphische Betriebe

    ~

    Titelsongs:

    Lou Reed, Simon & Garfunkel, Scott McKenzie, The Beatles, Greatful Dead, Al Steward, Barclay James Harvest, Procol Harum, The Small Faces, Santana

    ~

    Die deutschen Songs zum Roman:

    iTunes Download

    CD beim Autor Homepage

    ~

    Das Buch Saitenstrassen:

    1. Auflage Januar 1998

    © 1998 by Fischer Media Verlag, CH-3110 Münsingen

    © 1998 Saitenstrassen und alle Rechte der Vertonung

    und der Verfilmung bei Roland Zoss

    ISBN: 9781618420954

    Die CD Saitenstrassen :

    iTunes Download

    "Like a bird on the wire,

    like a drunk in a midnight-choir

    I have tried in my way to be free ..."

      Leonard Cohen

    "Man kann die Welt verändern, indem man

    einen Pflasterstein in die Hand nimmt –

    oder eine Gitarre!"

    Aus dem Tagebuch von M. B.

    Walk on the Wild Side

    Die Neue Welt

    Es gibt Botschaften, die man nur versteht, wenn sie ungesagt bleiben. Die Sonne berührte seinen Arm. Er war unglaublich glücklich und sog die Luft in die Lungen wie ein Raucher seinen letzten Zug.

    FASTEN SEAT BELTS erlosch. Am Kabinenfenster schwebten die Alpen vorbei: Eine weisse Herde von Bergspitzen, seit Hunderten von Jahren gehütet und gemolken von einer gütigen Hand. Noch hielt sich der Schnee auf den Gipfeln. Da blinkte matt ein See aus dem Dunst, leckte eine Gletscherzunge ins Tal – dort pulsierte das urbane Herz des Landes. Ein Gewirr von Adern, das Autos zu- und wegführte, weiter draussen sich ausdünnte und in ein feines Spinnennetz von Strassen mündete, das sich um Dörfer und Wälder schnürte. Um unglaublich gelbe, staubtrockene Felder.

    Seit Monaten rang der Kontinent nach Atem. Kein Tropfen Nass. Die Futtersilos leer. Das Getreide am Verdorren. Ein Sommer jenseits aller Vorstellungskraft. Das Vieh brüllte in den Ställen und auf den braunen Weiden. Die Hühner krepierten ungeschlachtet, vor Hitze und Durst. Alle kontinentalen Fernsehkanäle wetterten gegen die Trockenheit. Es wurden Klimaszenarien entworfen, es wurde vor grossen Karten herumgefuchtelt. Versicherungsfachleute tischten Zahlenreihen auf; Öko-, Meteo- und Theologen griffen einander vor laufender Kamera mit Thesen und Gegenthesen an: Die Erde ändert ihr KlimaDie Leute sehen GespensterDie Welt nimmt Anlauf zum Sprung in ein neues Zeitalter. Nur, der Himmel über Europa blieb blau und wolkenlos, und die Leute redeten viel. Wenige sprachen mehr mit Händen und Füssen. Man tauschte Sätze eher aus Höflichkeit aus, hatte sich an einen allgemeinen Sinn der Wörter gewöhnt wie an einen zuverlässigen Fahrplan.

    Er fröstelte und schraubte die Sauerstoffdüse zu. Unten nichts als Wasser, sonnengehämmertes Wasser. Jedes Zeitgefühl verloren. Nach Stunden begannen sich Wolken aufzutürmen. Die Maschine stieg höher und biss sich eine Schneise durch die aufgebauschten Wolkenbäuche. Jetzt zogen die Wolken einen lilafarbenen wässrigen Rand, saugten alle Lichtenergien auf. Es dunkelte, als sie mit achthundert Stundenkilometern auf die ölbraune Pfütze am Fuss der Dämmerung zurauschten.

    «Willst du einen Apfel, Micha?»

    Sein Blick glitt ihren Arm entlang aufwärts zum Kinn, staunte sich in die romanischen Brauenbogen hinein, zögerte. Die Augen dunkel und stark wie damals im Orgelkonzert von Messiaen, als er wieder und wieder den Kopf zu ihr drehen musste, und sie ihn nach einem Drink im Café Falken mit ihrem Velo-Solex heimfuhr. Er, der sich an der Taille festklammerte, ihr erregendes Cola-Haar im Gesicht, umwirbelt vom Geruch einer neuen Freundschaft. Keine Polizeikontrolle hätte sie aufhalten können, im Sommer vor einem Jahr. Er strich sich den Bart. Und jetzt, jetzt landen wir beide in Amerika!

    Als die Ansage zur Landung kam, nahm er Julias Hand und hielt sie fest, bis die Reifen den Boden berührten. Das Volk applaudierte. Die Maschine rollte aus. Durch die Müdigkeit stierten sie auf die Arbeiter mit den marineblauen Schildmützen, die draussen an den Gepäckkarren lehnten. Dann standen sie bereits im Halbschlaf in der Warteschlange und krochen aufs IMMIGRATION OFFICE zu. Hey, was für ein lässiger Typ, dachte Micha, als er den Zöllner mit dem fuchsrotem Zopf ansteuerte. Der lässige Typ blätterte sehr lange und sehr seriös in einem Büchlein über die verbotene Einfuhr von Pflanzen und trennte sorgfältig den Kopf vom Stengel des Edelweiss, das Micha ehrlicherweise deklariert hatte. Mit geknickter Menschenkenntnis und einem Wurzelstumpf in der Hand blieb er stehen und blickte dunkel auf den Mann. Der zuckte die Achseln:

    «That’s the law – I’m sorry!»

    Paul sah aus wie ein guter Koch. Er war um die Dreissig, mittelgross, mit einem harmlosen Bäuchlein, das er in der Zeit als Assistent für Chemie an der UCLA angesetzt hatte. Er verabscheute Routine, liebte das Ungewohnte. Wenn der Leib durch die Korridore der Universität eilte, tourte er in Gedanken durch die Kiefernwälder der Rocky Mountains oder kreierte neue Soft-Ice-Variationen, mit denen er an Partys die Laune der Gäste versüsste. So hatte er Christine kennengelernt. Emanzipiert, schlank und fröhlich. Sie hatte sich ihren finanziellen Freiraum geschaffen und sich mit einem Rolling-Stones-Cover als Grafikerin etabliert. Neuerdings schrieb sie Kinderbücher. Die Geschichten dazu fielen ihr ein auf Klettertouren 7. Grades in den Hängen der Sierras, gesichert von Paul. Ein ideales Paar. Sportlich, spontan und erst noch zuverlässig. Um 5.30 p.m. Ortszeit standen sie hinter der Abschrankung und winkten mit langen Windmühle-Armen. Sie hüpften auf und ab, als Julia und Micha beim Zoll endlich freikamen und auf sie zustürzten in ein Gewirr von Rucksackriemchen, Welcomes und Umarmungen. Man kannte einander kaum, klopfte sich wie verrückt auf die Schultern und wusste nicht wieso.

    Doch Bekannte zu haben tat gut auf diesem neuen Planeten, wo Fussgänger Fremdlinge waren. Unter einer Glocke aus Smog brütete Los Angeles – dieses Grossstadtmonster – die Generation von morgen aus. Hollywood, das Herz, trieb mit speedigem Pulsschlag die Show voran. Ein Film mit raschen, hektischen Schnitten, worin sich verlorene Sieger und betrogene Verlierer die Hand reichten auf der Jagd nach dem Erfolg. Man konnte es förmlich riechen: In diesem riesigen Treibhaus der Anonymität erfüllten sich Träume und Alpträume. Ja, das motorisierte, durchklimatisierte Phantasy-Land hiess alle und alles willkommen. In Wirklichkeit aber blieb jeder ein naiver Zuschauer, eine Randfigur und Wohlstandswaise im Renditenrummelland der Hochfinanz. Sie spürten es, als der Jeep über den Highway auf einen der unzähligen Vororte zuraste, aus denen L.A. sich aufbaut.

    «Wow, watch out you dirty bastard!» Paul wich dem Spinner aus, der ihn im offenen Schlitten rechts überholte. Sechs Fahrspuren genügten kaum, um den Feierabendverkehr zu kanalisieren. Alles roch neu, klang anders, ging irgendwie rascher in Fleisch und Blut über.

    Die Augen brannten. Das Radio gab Strassenmeldungen durch. Paul hiess sie die Fenster schliessen, zum Schutz vor dem Smog. In irrem Trickfilmtempo flitzte Downtown-Hollywood vorbei. Reklamefeuer, Neongewitter und Spotlichter blendeten ihnen Acts und Gigs und Gags ins Gesicht. Doch auf einmal, ganz auf einmal, bremste die Action ab, und wie im Märchen steuerte Paul den Wagen von der Hauptverkehrsachse weg aufs Happy End zu: Tujunga, ein Haus am Hang. Ins Abendsonnenlicht gebaut. Umgeben von einer Veranda aus Holz, alten Eichen und Eukalyptusbäumen auf roter Erde. Eine Hütte, tupfgenau wie im Wilden Westen ihrer Phantasie, mit karg möblierten Räumen und einem echten Stinktier als Untermieter. Sie stellten Rucksäcke und Gitarre in eine Ecke und fielen zu Bett in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

    ***

    Frühstück in Amerika begann mit Pauls selbstgemachtem Brot und vielen Fragen. Exotische Reiseziele wurden über den Tisch gereicht wie süsse Früchte, lange pharmazeutische Namen aus der Reiseapotheke zitiert. Musiker und Chemiker verstanden sich bestens. Christine und Julia liessen die Butterschale kreisen, während Micha die Worte suchte und von der great chance sprach, von breakthrough, von guten Gigs an der Westcoast. «Bob Dylan, yeah, Neil Young, yeah, Carlos Santana and Greatful Dead …» Julia hörte zu und doch nicht zu. Seltsam entrückt sass sie da – zurückgelehnt wie in einer Theaterloge – als Micha an seinen schwarzen Haarlocken drehte und von Indonesien, Bali und Indien redete, von einer neuen Bleibe, die er finden würde auf diesem Trip.

    «Eigentlich ist das ja deine Sache», warf sie dann lebhaft ein, «aber warum soviel planen? Ich möchte gar nicht wissen, was alles auf mich zukommt. Hoffentlich viel Gutes. Aber im Moment leben, jeden Tag unserer Reise geniessen, alle Sicherheiten fahrenlassen. Alles was einengt.»

    Christine nickte und reichte ihr ein Stück Brot.

    «Julia, just do it! Unsere Zivilisation ist dermassen kompliziert geworden. Der Westen unter einem mittelalterlichen Kirchturmglockennetz gefangen. Computer, Gesetze, Strassenverkehr und Termine – Stress, Stress, Stress! Wir werden von Timern geweckt, von Piepsern gerufen, von Zeigern gehetzt und von Armbanduhren gefesselt. Die grosse Freiheit ist das wahrlich nicht …»

    Micha strich sich den Bart und fuhr fort, als hätte er den Satz angefangen: « …und je mehr Zeit wir Witzbolde sparen, umso weniger Zeit haben wir. Füreinander. Oder?»

    Julias Wangen röteten sich: «Bei diesem Theater spiele ich nicht mehr mit. Von jetzt an habe ich Zeit, soviel ich will. Kann reisen, wohin ich will. Ohne grosse Planerei. Richte mich nur noch nach meinem inneren Rhythmus!»

    Paul, der bisher geschwiegen hatte, räusperte sich und blickte in einer Mischung von Mitleid und Verständnis zu Julia.

    «Well, deine Eltern kenne ich jetzt zehn Jahre. Sie meinen es gut mir dir – zu gut! Vor allem Dad mit seinen verstaubten Prinzipien. Um zehn Uhr abends zuhause und samstags zum Klavierunterricht. Und die Schule? Viel zu durchorganisiert für dich. Zuviel Stoff – zuwenig fun. Sorry für den Ausdruck, aber auch gute Scheisse stinkt, und …»

    «Niemand hat sich um mein Kindsein, meine Phantasie gekümmert», fiel sie ihm ins Wort. «Putzen, schaffen, pünktlich sein. Gute Noten heimbringen – und nur ja kein Kind! Himmelnochmal! Stellt euch vor, Pap musste sich sogar bei seinen Kollegen entschuldigen, wenn er einen arbeitsfreien Tag verbummelte. Ersticken werden sie noch an ihrer Rechtschaffenheit. Nie möchte ich werden wie sie. Verplant und versichert bis zur Pensionierung – und schliesslich in einer Klinik erster Klasse sterben, verkabelt mit Apparaten.»

    Ein Windzug strich durchs Fenster und blies ihr die Wut aus dem Gesicht. Sie schwiegen. Der Vorhang hob sich, blähte sich und senkte sich wieder. Paul tischte – zwischen den Joghurts, die Christine aus dem Kühlschrank holte – auf, was Kalifornien ihnen alles zu bieten hatte. Westcoastmusic. Death Valley. Hiking in den Sierras. Während er redete, war es Julia, als entferne sie sich, und der Wind streichle nun durch ihr Innerstes. Pauls Lippen bewegten sich, und die Laute wurden leiser. In ihr begann es zu knospen. Sie atmete tief durch. Die Arme wurden zu Ästen, die Füsse zu Wurzeln, der Körper zum Stamm. Zum Baum. Und dieser Baum grünte, wuchs und wuchs und hielt dem, was auf ihn zukam, wie einem scheuen Vogel seine Äste hin, seine Zweige, seine Blätter und Blüten.

    ***

    Willkommen im Nichts. Die Mohave-Wüste grüsste mit glühendem Schweigen. Ausser dem Wasser im künstlichen Kanal, der sechs Millionen Kehlen in L.A. mit Trinkwasser versorgte, bewegte sich hier nichts. Eine Einöde staubiger Rasierpinsel wartete vergebens auf eine Wolkenvisage. Was Wassernot und Sonnenglut überlebt hatte, kratzte und stach, oder es knirschte zwischen den Zähnen. Die gewaltigen Joshua-Trees und Saguaro-Kakteen, Armleuchter aus fernen blühenderen Zeiten, standen trüb im Land. Und da mussten sie durch! Paul starrte auf den wabernden Asphalt, tief übers Lenkrad gebeugt. Sanft wie ein Schlafwandler bewegte er den Fuss auf dem Gaspedal. Die Hitze hatte alle Privatgedanken eingeschweisst und abgeschickt nach irgendwo: Micha geriet nach Malibu. An die Superwahnsinns-Party vom letzten Weekend zur Feier Amerikas, die Paul mit einem Studienkollegen organisiert hatte. Eine brandweisse Villa, bestehend aus vier Trakten mit Swimmingpool und Alabasterlöwen am Eingang. Die Tafel bedeckt mit Lichis, Kiwis, Star-fruit, frischen Mangos – Leckereien, von denen Micha nie zuvor gekostet hatte. America the beautiful … sangen Bildschirme, vollgepackt mit gemischten Chören und stabschwingenden Majoretten, zum Independence Day. Die Staaten hatten Geburtstag, und ihre Kinder stopften wie die letzten Römer Zuckertorte in sich, Soft-Ice und Marshmellows und alles, was faul und fett machte.

    Den lieben langen Nachmittag kurbelte Paul im Garten an seiner Eiskremmaschine, umzingelt von Kids mit Ponyfrisuren und Hippiemähnen, beglotzt von Augen unter angeklebten Wimpern, in wunderbar unpersönlichen Strahlemienen. Er mischte und verteilte den Kalorien-Nektar mit grossen, freundlichen Händen. Während sich Julia vernarrt ins Fleisch der Mango frass, spielte Micha Pingpong gegen den Boden-Luft-Raketen-Ingenieur und äugte nach der Tochter des Hauses mit dem unschuldigen Haselmausblick.

    Just for fun sauste die Clique mit Papas Limousine an den Pazifik, umtanzt von rotznasigen Rollbrett-Artisten. Sportflugzeuge mit Reklamebändern am Schwanz wedelten die Küste rauf und runter. Lange Wellen trugen blonde, schaumgekrönte Prinzen ins Surf-Nirvana. Der kalifornische Strandmovie spielte sich genau so ab, wie ihn das Hollywood-Traumkino einem ins Hirn geblendet hatte. Und die Pazifikbrandung lieferte den passenden Soundtrack. Dann der Abend, die Eltern im Kino und die Cracks allein zuhause. Durch die Korridore schwärmten offenherzige Girls, angewärmt von der Feier des Tages. Sie hielten sich im Flur am Erstbesten fest, schleppten ihn mit Spinnenkraft ins nächste Zimmer. Es wurde gekifft, geküsst und geschluckt, was sich in Griffnähe befand. Auf dem Höhepunkt der Schleckereien verirrten sich einige auf den endlosen Korridoren des Geschmacks. Ein ganz Guter muss im Suff Tür und Töpfchen verwechselt haben, stand er doch im Schlafzimmer, warf seinen gelben Strahl gegen das Oval des Spiegels im Kombischrank und lallte: God bless America!.

    Der Motor lief und lief. Ohne einen Huster beförderte er sie durch diesen Backofen, in dem man mit etwas Pech innert kurzer Zeit verdursten würde. Kein Wort fiel. Ein einziges Mal weckte sie lautes Gedonner. Micha streckte sich und murmelte: «Easy riders.» Sternenbanner – Rot – Blau – Chrom und Leder – Huschhusch und vorbei. Siebenundzwanzig Zweiräderschatten, rasch gezählt.

    Paul hatte sich zurückgelehnt und reichte einen Joint nach hinten. Doch Julia war bereits high. Ihr melonenfarbenes rundes Gesicht entspannt in einem Schwall von Haaren. Micha döste ihr gegenüber auf Schaumstoffballen im Laderaum und blickte unter gesenkten Lidern durchs staubblinde Fenster zu den langgezogenen khakibraunen Hügeln, die sich aus dem Dunst quälten und im Dunst wieder versanken. Und von der Strasse wirbelte eine wilde Konfettischlacht von Erinnerungen auf. Tausende von Formularen und Zettelchen, Liebesbriefen, Schnellfotos und Bazookabildchen. Schnipsel der Vergangenheit, die im Mahlstrom des Motors zerhackt und zerfetzt wurden und sich weit hinten auflösten in einer Fahne aus Schmutz und Staub.

    Auf einem dieser Papierchen stand in tiefblauem Sepia das Total: Fr. 85’192.10. Teuflisch klebte die Ziffer in Michas Gedächtnis, ehe der Zeitwind sie mitriss in die ewigen Abgründe. Sein Herz tat einen übermütigen Salto vitale. Fertig Schluss! Er wollte nichts mehr davon wissen, obschon er an einiges gern zurückdachte. Ans amtliche, graue Kuvert in der Rechten der kleinen Schwester etwa, die – grösser und frecher geworden – das an ihn adressierte Schreiben aufreisst und lostrompetet: «Bestanden, Bruderherz, bestanden! Ich hab’s ja gewuuuuuusst!» Mit dem Diplom gegen Dummheit – diesem in Leinen gebundenen Losungsbrief zur Universität, der seine Selbstsicherheit wieder ins Lot brachte – raste er durch den Korridor, tobte um den Stubentisch herum, dass der alte Leuchter ins Rotieren kam, und stürzte zurück in den Gang, wo die Familie stand und lachte.

    Die Eidgenössische Maturität, dieses kleine Scheissdiplom, dieses Sesam-öffne-dich, dieses Reifezeugnis, das keine fünfzig Gramm wog, es schenkte Zugang zur Uni. Macht. Und die Opfer, Coppaletti? Vier Jahre Notensklaverei, der Kopf vollgestopft mit Koordinaten, Kommaregeln und chemischen Formeln. Tags als Barmann im Rauch der Quick-Bar. Nachts im mageren Schein der Pultlampe, mit krankhaftem Ehrgeiz. Monat um Monat. Semester um Semester. Examen um Examen – bis die Augen nicht mehr wollten.

    Wieso ist man nur so hirnverbrannt und verheizt seine besten Jahre beim Brüten über intellektuellen Wälzern, anstatt sich wie alle anderen dem Rock ‘n’ Roll hinzugeben? Nur, was sind schon drei, vier Jahre? Die Grannenkiefer der Sierra schafft viertausend Jahre. Er warf eine Locke aus der Stirn, spürte einer Runzel nach. Vergessen, vorbei. Das Abitur hat mich freigemacht, hat mich vom Dummsein erlöst. Endlich sing ich mein eigenes Liedchen, kann mir meinen Reim selber machen. Unterwegs in der kalifornische Sierra, unterwegs zu mir selbst.

    Die Scheiben schepperten. Verkarstete Bergzüge stürzten ihnen entgegen. Die Schotterstrasse stieg aus der Ebene in weitgeschwungenen Schlenkern aufwärts. Keine menschliche Behausung. Kein Indianer. Kein Kojote. Auf einer bewaldeten Passhöhe parkten sie den Wagen in einer Lichtung.

    Die knochentrockene Luft verkrustete die Lippen. Micha lag kaputt in einer Alpmulde, während Paul energisch auf die Wanderkarte tippend den Kopf schüttelte:

    «Just ninethousand feet high, these Cottonwood Lakes. No problem for Swiss guys!»

    Die Zelte waren noch nicht aufgestellt, da kotzte Micha schon an eine Fuchsschwanz-Föhre, die Hände auf den Bauch gepresst. Die andern standen hilflos herum. Wer war eigentlich auf die Schnapsidee gekommen, nach kaum einer Woche im neuen Kontinent mit zwanzig Kilo am Buckel in die Sierras zu steigen in die Umklammerung dieser Felswände?

    Durchs Wäldchen blitzten die Spiegel dreier Bergseen. Es blitzten auch die Augen von Paul, Christine und einem Ganzstarken, einer Klettermaschine, glitzernd vor Haken und Ösen, der nachträglich zu ihnen gestossen war. Die drei John Muir-Fans berieten über einer Karte das Schicksal der letzten unbestiegenen Felswände. Sie schienen zum Äussersten entschlossen.

    Micha und Julia waren dankbar, dass sie am nächsten Morgen ausschlafen konnten. Drei Tage für sich allein. Drei Tage, um die geschwollenen Füsse zu pflegen, um Erdnussbutterschnitten zu streichen und die Golden Trouts zu beobachten, eine Forellenart, die nur in diesem Tümpel der Welt existiert. Rotrindige Buckelkiefern spiegelten sich gnomenhaft verzerrt im Wasser, kämpften in der Höhe ums Überleben. Kaum einen Steinwurf vom Lagerplatz entfernt, putzte und putzte sich der Murmeltier-Clan, als nähme er an einem Reinigungswettbewerb teil. Ab und zu entwischte einer der pelzigen Flitzer der Obhut der Alten und kam vorwitzig nah, um von Abfällen zu naschen.

    Wenn die Sonne sank, heulte ein Tier auf, dann ein zweites. Kojoten? Wölfe? Sie lagen auf dem Bauch und lugten aus dem Zelt, Wildnis bis in die Zehenspitzen.

    «Irgendwie liebe ich die Nacht», seufzte Julia, «bin in ihr daheim. Ein Kind der Nacht. Nachts sehen die Augen tiefer und hinter die Dinge, ins Jenseitsland. Der Alltag bedeckt von einem sternenbestickten Mantel. Wir Menschen – Knöpfe am Saum der unbekannten Königin. Alles neu, und anders. Nicht? In der Nacht träumen Bankiers von der Kindzeit und Kinder von der Macht. Alles ist möglich. Die Motoren, der Lärm der Stadt abgestellt, die Soldaten in den Kasernen. Als wäre Frieden auf der Welt.»

    Sie bestand darauf, dass er mitsang. Also chorten sie vorm Einschlafen Haydns Nachtigallenlied. Erst zusammen, dann im Kanon.

    Julia und Micha mussten sich dran gewöhnen, soviel Zeit und Zärtlichkeit füreinander zu haben, nachdem sie zuhause nur an den Wochenenden ausgegangen waren. Die Nächte waren kühl und kurz. Im ersten Sonnenstrahl, der es über die Bergspitze schaffte, standen sie am See, erzählten sich beim Morgentee die Träume. Wenn sich der See ein wenig erwärmt hatte, jagten sie in stürmischen Balgereien durchs Wasser, klatschten sich feuchte Tangbüschel ins Genick, rollten sich im Ufersand und sahen nach oben, von wo der Abwind der Berge in einer sanften Woge malvenfarbene Wildblumen ins Tal streute.

    Julia entdeckte die Gitarre und zupfte drauflos. Bis die Rückwand in der trockenen Luft riss. Dann begann sie zu tanzen, wirbelte mit ernster Miene um den See durch den glitzernden Sand. Die Zauberstäbe azurblauer Libellen zogen Flugspuren über ihre Fährte. Hell und leicht fühlte sie sich. Ein winziges Fläumchen in der Arena der Natur, ein tiefer Atemzug zwischen den Bergen. Alles war gut.

    Sie hatte ihn nicht kommen hören. Am dritten Tag, als sie schlafen gehen wollten, trat er ins Zelt und donnerte sich die Fäuste auf die Brust: der erste Streit.

    «Es ist schön, dass du Gitarre spielst, aber du hättest sie in den Schatten stellen sollen!» Sie spürte Schuld und blickte zur Seite:

    «Sorry, Micha, aber ich habe nicht dran gedacht.»

    «Ich möchte nicht, dass du die Gitarre nimmst, ohne mich vorher zu fragen. Sie ist das Kostbarste, was ich habe. Schliesslich wühle ich auch nicht in deinen Sachen!»

    Sein Ton traf sie ins Mark. Wegen einem Risschen so ein Theater zu machen!

    «Ich hab’s ja nicht absichtlich getan…»

    Sie nannte ihn einen Prediger, einen elenden Prediger und Perfektionisten, der sie mit Erwartungen bedränge. Schliesslich heulte sie. Beide ahnten, dass hinter der Fassade etwas lauerte, was sie bedrohte. Etwas Böses. Gelähmt sassen sie da, sahen sich von der Seite her an. Eine falsche Bewegung konnte Einsamkeit auslösen und Winter, den Gang zum leeren Briefkasten, das Warten auf einen Anruf …

    Er schwieg mit der Härte des Philosophen. Da packte sie seine Hand.

    «Komm, draussen scheint der Mond!» Sie wateten durchs hohe Gras. Hinter einem Baumstrunk schwamm im See rund und fast voll der Mond. Von einer Felsnase aus konnte man das ganze Tälchen überblicken.

    «Nachts schlafen die Fische doch, oder?»

    «Weiss nicht, vielleicht nicht bei Vollmond», flüsterte er.

    Lange sassen sie schweigend im Schneidersitz. Micha hatte die Hände in die Gesässtaschen seiner Jeans gezwängt, fühlte zerknittertes Papier. Gedichtpapier. Ab und zu gluckste der See, raschelte Getier durchs Gras.

    Das Mondlicht überflutete sie mit einer Sinfonie romantischer Gefühle. Grasharfe, Grillengeige, Glockenblume und Windorgel spielten im Takt der schwarzen Föhrenwipfel. Melodien des Zufalls.

    Alles was sie sich sagen wollten, war auf einmal nicht mehr wichtig. Sie schwiegen und sassen da in der gewaltigen Partitur dieser Natur – zwei Notenstrichlein, hingeworfen von Mozart, zwei Pausenzeichen, gesetzt von Beethoven – und spürten die Musik des Mondes.

    Sound of Silence

     Los Angeles

    5500 RCA

    Der Sound der westlichen Welt. Emotionen auf Scheibe.

    5810 Institute of oral love

    6174 Bank of America

    Christines altes Fordmobile tuckert durchs Verkehrsmeer von Downtown Los Angeles. Durch ein modernes, brütendes Babylon steuert sie vorbei an Reklamesäulen und Massagesalons und immer weiter entlang den Strassennummern des Santa-Monica-Boulevards.

    6313 Movie Lab

    6772 Samuel Goldwyn Studios

    7456 Animal Farm Restaurant

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