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Alles oder nichts im Hier und Jetzt: Liebe, Erleuchtung, Gewitterneigung
Alles oder nichts im Hier und Jetzt: Liebe, Erleuchtung, Gewitterneigung
Alles oder nichts im Hier und Jetzt: Liebe, Erleuchtung, Gewitterneigung
eBook316 Seiten4 Stunden

Alles oder nichts im Hier und Jetzt: Liebe, Erleuchtung, Gewitterneigung

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Über dieses E-Book

Ein Ferienhaus an der Ostsee, ein erloschener Leuchtturm, ein Retreatcenter und viele offene Fragen. Der Sommer ist schwül und launisch, die Atmosphäre elektrisch geladen.
Paul steckt mitten in der schwersten Sinnkrise seines Lebens. Drauf und dran, seine Frau zu verlassen, erliegt er dem Zauber von Femme fatale Irene.
Daniel will alte Rechnungen begleichen und bringt sich dabei in Schwierigkeiten. In seiner Verzweiflung nimmt er Streifenpolizistin Patricia als Geisel – und versucht, ihr Herz zu gewinnen.
Nichts ist mehr so wie es einmal war, und der Showdown unabwendbar. Denn der korrupte Bulle Ben, ein schmieriger Privatdetektiv und ein charismatischer Guru verfolgen eigene Ziele und schießen quer.
Die Zeit drängt, die Windsbraut tobt, die Hüllen fallen. Schließlich geht es um »Alles oder nichts im Hier und Jetzt« ...

Eine fesselnde Geschichte um die Macht der Fantasie, um Wahrheit und Freiheit, Erleuchtung, Verwandlung und Neubeginn, Sex und große Gefühle.

Mit Tempo und Tiefgang. Und einer Messerspitze Humor.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum5. Nov. 2015
ISBN9783739262499
Alles oder nichts im Hier und Jetzt: Liebe, Erleuchtung, Gewitterneigung
Autor

Tom Növe

Tom Növe (Pseudonym), in Hannover geboren, arbeitet in der Werbebranche und gestaltet seit vielen Jahren Zeitschriften und Magazine, für die er auch journalistisch tätig ist. Über das Lesen und das Rezensieren von Büchern, hat er die Liebe zum Schreiben entdeckt. Seinen Roman "Querverkehr" gibt es auch als Hörbuch. Von Tom Növe ist außerdem der Roman "Alles oder nichts im Hier und Jetzt" erschienen.

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    Buchvorschau

    Alles oder nichts im Hier und Jetzt - Tom Növe

    Russell

    Urknall

    »M ein Leben ist ein Witz!«, stöhnte er. Anschließend versagte ihm die Stimme. Sein Lachen blieb ihm im Halse stecken, und das kristallene Gleichmaß, das zeitgleich zur Entfaltung gelangte, trug keine Kerbe, keinen Kratzer, nicht einen einzigen Makel davon. Das Leben samt und sonders: ein Witz! Diese schlichte Erkenntnis sprengte ein Ausrufezeichen in sein beschränktes Dasein. Stürzte ihn in einen unbegreiflichen Zustand: Er verschmolz mit dem Sessel, die Wände verschoben sich, und die in der Morgensonne funkelnden Blätter des Fächerahorns spreizten ihre Finger. Er war auf außergewöhnliche Weise ergriffen, bis ins Mark getroffen – und groteskerweise voller Frieden.

    Begonnen hatte es keineswegs mit der Nachricht, er sei todkrank und die Planungen für den Winter hinfällig geworden, nein, sein Arzt stellte ihm ein befriedigendes Zeugnis aus. Es kursierte weder das Gerücht, die Zündung einer Atombombe stehe bevor, noch versetzte ihn eine der üblichen Schreckensmeldungen in Schockstarre. Auch die Auseinandersetzung mit Edith, auch ihre absurde Idee hatte er mit dem Schlafanzug abgestreift und in den Wäschesack gestopft. Paul hatte sich vor der Abfahrt hingesetzt und hinaus in den Garten gesehen – da war es passiert.

    Sein sprachloser Geist widmete sich einer Bilderfolge, in der Federn auf überfrorenem Schnee landeten, da drängte Edith in sein Bewusstsein – von weit her, sehr weit her –, und er schüttelte die Verwunderung ab. Halbwegs.

    »Fahre jetzt«, sagte er und hatte das Gefühl, jemand anderes hätte gesprochen.

    Mit einem Mal erschien ihm nichts mehr absonderlich, Ediths Vorschlag, ihr Blick, der mehr als Pauls plötzliche Veränderung widerspiegelte, der schwarze Schwan, der in Zeitlupe wenige Meter vor der Windschutzscheibe kreuzte. Selbst als die Silberlinden, die über der Straße eine flirrende Kuppel bildeten, im Angesicht der tief stehenden Sonne in Flammen aufgingen, hielt sich sein Erstaunen in Grenzen.

    Er verzichtete auf die Berieselung mit Hausfrauenpop, so nannte er das Musikprogramm, mit dem Edith am Wochenende das zermürbende Geratter der Waschmaschine, Röcheln und Pfeifen von Mixer und Staubsauger würzte. Er verzichtete auf Werbung, Nachrichten und Gute-Laune-Moderation. Brachte Drängler zur Weißglut, während er stoisch in seinem Kombi über den Asphalt segelte. Vermied jeden Seitenblick, ganz in das Wunder gehüllt, dessen Beschreibung, dessen Einordnung ein utopisches Unterfangen darstellte, ein Wunder, das ihm eine im Grunde erschreckende Einsicht beschert hatte.

    Nach fünf Stunden auf der Autobahn kehrten die Gedanken zurück, und die Außenwelt verzahnte sich Stück für Stück zu einem dreidimensionalen Puzzle, in dem Paul wieder einen integrierten, wenn auch wackligen Baustein bildete.

    Der letzte Teil der Strecke führte über staubige Landstraßen, entlang wogender Getreidefelder. Die Braut des Windes, die heißblütige Geliebte, von der alte Seeleute berichteten, war zärtlich gestimmt. Und warf heimlich ihre Netze aus.

    »Es gibt keinen anderen Mann!«, hatte Edith ihm geschworen, anfangs mit versteinerter Miene und nachdrücklicher als erwartet, er wollte ihr ja lediglich einen Stich versetzen, wollte das Konto der gegenseitigen Verletzungen ausgleichen, nachdem sie sich von ihm abgewendet, seine ihrer Meinung nach provokative Annäherung zurückgewiesen hatte.

    Ohne sich umzublicken, war er zur Garage gestolpert, von einem kühlen Fieber ergriffen.

    »Es gibt keinen anderen Mann! Du willst dich nur drücken. Weißt du, was du bist? Gewöhnlich bist du… feige.« Edith hatte mächtig aufgedreht, sie pochte auf eine Geste der Versöhnung, sie pochte auf eine eindeutige Reaktion.

    Ihre Worte fielen der Bedeutungslosigkeit anheim – Buchstaben, Silben, ein Klang unter Klängen in dem namenlosen Universum, in das eine höhere Macht den nichts ahnenden Paul katapultierte, als er an einem Samstagmorgen des angehenden 21. Jahrhunderts aus dem Fenster sah.

    Ihr Vorschlag… absurd. Aber reizvoll. Woher hatte sie bloß die Idee?

    Am Scheitelpunkt der Anhöhe bremste er und betrachtete das Ferienhäuser und Teile des Strands überragende Grün, betrachtete den Horizont, eine fein gebogene Linie, an die sich das Meer heftete, die den Himmel auf ihre Schultern nahm. Erhobenen Hauptes trugen ungestüme Wellen Kronen aus Schaum ans Ufer. Wolken, flüchtig in die Weite drapiert, traten auf der Stelle. Paul schaltete in den Leerlauf und trudelte im Passat den Weg hinunter.

    Er wusste, dass er nicht zurückkehren würde. Egal was passierte. Vor einem Jahr hatte er gemeint, es zu wissen. Das Jahr davor war es mehr eine Ahnung gewesen.

    Mit Sicherheit gab es eine vernünftige Lösung, zum Greifen nah, waren die Dinge nicht so kompliziert, wie sie sich darstellten.

    Im Schlafzimmer, man betrat es direkt nach dem Öffnen der Eingangstür, Architekten, die so was verzapften, gehörten bestraft, im Schlafzimmer hing der Geruch der Verwesung – unter dem Bett siechten Teppiche dahin, verschnürt und vergessen. Er riss die Fenster auf, er schleppte naserümpfend Reisetasche und Malzeug ins Haus, er verstaute den Proviant. Das Weinangebot der umliegenden Supermärkte war, gelinde gesagt, bescheiden. Paul hatte vorgesorgt.

    Vollgestopft mit Sperrmüll und kuriosen Auswüchsen – ein dicker Hund, was Heimwerker so fabrizierten –, schob die abgelebte Hütte jeglicher Herzlichkeit einen Riegel vor. Der aus einem Eichenstamm gefertigte und von Eisenfüßen getragene Tisch, an dem er ein ums andere Mal seine Schienbeine ramponiert hatte, war nur das i-Tüpfelchen der gestalterischen Irrungen, die fraglos krankhaftem Geiz entsprangen. Als Alfred, Ediths Onkel, der Vorzeigewichtel skandinavischer Weihnachtsmärchen, mit roten Bäckchen die Schlüssel überreichte, seinen Bart kraulte und stolz auf Renovierungsmaßnahmen hinwies, hatte Paul, kein Freund von Flohmärkten, ratlos zu Boden gesehen. Wo sein Blick an Alfreds Ledersandalen und nackten Füßen hängen blieb. Es war Mitte Dezember! Die Frage, ob er zu den Verrückten gehöre, die mit Spitzhacken Löcher ins Eis brachen, um schwimmen zu gehen und sich die Eier abzufrieren, hatte er sich verkniffen.

    Alfred, der das Ferienhaus zur Entsorgung seines ausrangierten Mobiliars missbrauchte, einschließlich des Dachbodens, des Gartenhäuschens und der Bettunterseite, hatte die Veranda frisch gestrichen und ihnen einen Sonderpreis gemacht. Zehn, zwölf Jahre war das her, und Edith beharrte darauf, die gemeinsamen Urlaube ab sofort in diesem gemütlichen Häuschen zu verbringen. Und zwar ausschließlich hier. Im Oktober oder zur Jahreswende. Ungeachtet dessen, dass Paul nach Sonne lechzte, nach lauschigen Nächten unter dem südlichen Sternenhimmel. »Warum, in Gottes Namen, Reisekataloge wälzen? Wozu der Stress?«, wägte sie in seinem Beisein ab. »Sollen von mir aus andere in Indien an der Gelbsucht verrecken, vor Australiens Gold Coast als Haifutter enden oder in Ägypten in die Luft gesprengt werden.«

    Sie liebte das Reizklima. Er wollte seine Ruhe und gab nach.

    Um Abstand zu bekommen, damit sie wieder aufeinander zugehen konnten, hatten sie entschieden, ihre Ferien getrennt zu verbringen, er im Sommer, sie im Herbst. Was den Abstand vergrößerte. So flog Paul nicht in den Süden, er fuhr Richtung Norden und residierte in Onkel Alfreds stinkiger Hütte. Aus Angst, dreitausend Kilometer Luftlinie würden einen Graben aufreißen, der die maroden Grundmauern ihrer Beziehung zum Einsturz brachte. Dabei hatte die Talfahrt längst begonnen. Sie waren aneinandergekettete Häftlinge, sie sicherten sich gegenseitig beim Abstieg. Ein Erdrutsch – und peng! Sobald Paul ein Brecheisen in die Finger bekam… Ruhig Blut, dachte er, ruhig Blut. Eine Lösung war zum Greifen nah. Eine vernünftige.

    Edith war gefeit gegen Kälte, gegen Hagel und Sturm. Zerschlissene Teppichböden der untersten Kategorie, braun lackierte Stühle, Radios mit Wurfantenne, Kuhglocken, all das Zeug, das die Raumluft verpestete, konnte ihr nichts anhaben. Ohne Skrupel servierte sie einen Gran Reserva in Plastikbechern. Oder einem der Senfgläser, aus denen jedes Getränk nach Regenwurm schmeckte. Sie fand Weine, die allenfalls zum Reinigen angebrannter Töpfe taugten, interessant.

    Was durch die Tür passte, brachte er unters Carport. Bis auf Schaukelstuhl und Wandspiegel.

    Dann stoppte er vor dem Eichenstamm. »Monstrum!«, zischte Paul durch die Zähne. Seine Schienbeine kribbelten. Ein Kran wäre vonnöten, viel besser: eine gut geschmierte Kettensäge. Doch er brauchte einen Tisch. Er zerrte die Matratzen vor den Kaminofen aus Stahlblech, den hatte Edith aus der eigenen Tasche bezahlt, besprühte sie mit Deo und bereitete sein Schlaflager. Kopfschüttelnd nahm er die Chose in Augenschein, der Anblick ließ seine Lendenwirbel aufjaulen, die Bandscheiben machten bereits Freudensprünge, auf Rosen war er nicht gebettet. Zu allem Überfluss kroch nachts ein kalter Luftzug durch die Hütte, tunnelte das Bettzeug und fuhr ihm ins Kreuz, er war im Bilde, was ihm drohte.

    Nach dem Essen stattete Paul der Veranda einen Besuch ab. Sie fing den Duft von Blumen und Sträuchern ein und war verhältnismäßig einladend. Leider hatte Alfred die Dielen versaut, schwarz getüncht, dass nadelspitze Holzfasern strammstanden. Und den Garten ließ er schleifen, der Wicht, alles keimte, wucherte, rankte. Rasen, vorzeiten als solcher erkennbar, nun ein Gestrüpp vor dem Herrn, mauserte sich zum Paradies für Zecken.

    Abermals bekam seine Wahrnehmung einen Knick: Über der Buddleja tanzten Schmetterlinge im Kreis, Birken leuchteten von innen heraus, sogar ansonsten sture Wacholder schienen beseelt zu sein. Aus den Stümpfen der von Alfred massakrierten Kiefern quoll bernsteinfarbiges Blut. Die Weide trauerte.

    Paul kämpfte gegen eine diffuse Unruhe an. Wurde er krank? Schnappte er über?

    Er klemmte Badetuch und Pullunder unter den Arm, wählte den Rioja, elegant und körperreich, nahm das von Zuhause mitgebrachte Weinglas und ging los.

    Die Ostsee spuckte aus, was schwer verdaulich war. Und was Designer per Mausklick eliminierten. Leser von Reisemagazinen hatten eine Schwäche für blitzsaubere Strände.

    Paul fand eine Stelle, an der er verschont blieb vom ernüchternden Zeugnis, wie es niedergeschmetterte Krabben und entkräftete Quallen der Willkür der Elemente ausstellten, er schob Algen oder was auch immer das für Meeresgemüse war zur Seite und entfaltete im Schutz der Heckenrosen das Badetuch.

    Der Wein förderte seinen Zauber zutage, sorgte für Erdung und duselige Gelassenheit. Noch einmal stellte die Sonne ihre Strahlkraft zur Schau, bevor sie versank, hinter der Landzunge im Westen, dort, wo der Leuchtturm stand. Und der, der zeigte sich von seiner dunklen Seite.

    Natürlich dachte er daran. An das, woran er schon lange dachte. Dass er etwas Neues, Erfüllendes anfangen wollte, dachte an seinen verwegenen Entschluss, Edith zu verlassen. Bereits die Vorstellung verlieh ihm Flügel.

    Schenkte man Statistiken Glauben, hatten verheiratete Männer das große Los gezogen, die Lebenserwartung von Junggesellen war vergleichsweise deprimierend. Aber auch ein Tier in Gefangenschaft überlebte Artgenossen in freier Wildbahn, wer das vergaß, hatte selbst Schuld. Wenn Enge und Frustration der Preis waren, warum zögerte er noch?

    Wie dem auch sei, der Begriff Leben hatte sich am Morgen seiner Abfahrt in neuen Dimensionen offenbart. Unfassbar, erst jetzt kam er dahinter. Obwohl er kein bisschen verstand… und auf unerklärliche Weise doch.

    Langsam ging dem Wind die Puste aus, er lag ruhig da, der Strand, menschenleer. Beinahe, denn bei den Stegen, Treffpunkt geschwätziger Möwen, schlenderte sie mit Bedacht durchs Wasser, das Kleid bis zu den Hüften gerafft.

    Sorgfältig faltete Paul sein Hemd und legte es aufs Badetuch, zog Hose, Socken, Unterhose und Armbanduhr aus. Und machte große Augen. Das Meer gebar eine Sichel aus Gold, sie stieg empor zu einem Himmel in allen erdenklichen Blautönen. Die Meeresoberfläche ähnelte Geschenkpapier aus glänzender Folie, die unsichtbare Hände in Schwingung versetzten, auf ihr schimmerte das Mondlicht, auf ihr hüpften Sterne bei der kleinsten Bewegung.

    Neben einem Ruderboot, es schwebte wie ein Schiffchen aus Seidenpapier, tauchte Paul ein in die Kulisse aus Tausendundeiner Nacht. Seine Grenzen schwanden dahin, verflüssigten sich in einem Ozean aus Vertrauen und Geborgenheit. Paul war glücklich, so glücklich, dass er die Zeit vergaß, dass er für einen nicht enden wollenden Augenblick vergaß, wer er war und wo er sich befand.

    Kosmischer Orgasmus

    Am nächsten Morgen fühlte sich Paul wie eine Stahlsehne, auf die Vorschlaghämmer eindroschen, bis ein Wahnsinniger den Bolzenschneider zückte und sie aus der Verankerung trennte. Mit anderen Worten: Extreme Anspannung ging in splissige Verwindung über. Das Zittern im Innern wollte nicht ausklingen. Kurz und gut: Es ging ihm miserabel.

    Dabei hatte er fabelhaft geschlafen. Wogen der Glückseligkeit trugen seinen Dreimaster zu einer Insel, seiner Insel. Einhelliger Jubel, ein Volk in Harmonie mit der Natur, prachtvoll geschmückt, hieß ihn willkommen, ihn, den zurückgekehrten Sohn. Sein Stamm, seine Brüder und Schwestern. Und seine Frau, die sich, herausgeputzt wie die Opfergabe für den Gott der Ekstase, nach ihm verzehrte.

    Warum musste er die Flasche bis auf den Bodensatz leeren?! Wie lange hatte er als Treibgut zugebracht? Um welche Uhrzeit und vor allem wie war er zurück ins Ferienhaus gelangt?

    Er sah den Tatsachen ins Gesicht. Der gestrige Tag war absonderlich gewesen, in jeglicher Hinsicht. Etwas war ausgehakt. Die Nachwirkungen trafen ihn mit voller Wucht, er bekam einen Denkzettel verpasst, einen Bumerang zwischen die Hörner.

    Wenn er andere Paare betrachtete, was bei denen los war! Besaß er das Recht, die Taue zu kappen? Sprach irgendetwas gegen einen letzten Versuch?

    Gedankenspiele waren kein Verbrechen. Doch gestern war er bereit, sie guten Gewissens in die Tat umzusetzen.

    Wie gut kannte er sich? Wozu war er fähig? Er wäre nicht der Erste, der die Lunte ans Pulverfass legte und seine Vergangenheit unter Schutt und Asche begrub. Ganz zu schweigen von denen, die ein Gemetzel in der Innenstadt anrichteten. Und hinterher? Blackout. Zeitungen waren voll von solchen Tragödien. Neulich etwa: Der Altenpfleger mit der Planierraupe.

    Was für ein Horror, die Beherrschung zu verlieren. Fehlleitungen im Gehirn, ausgelöst durch anarchische Synapsen, ein Tumor, der auf wichtige Schaltstellen drückte und falsche Befehle auslöste, davor hatte Paul Angst. Riesenangst. Richtig Schiss! Alzheimer war dagegen das kleinere Elend, man kriegte wenigstens nicht mit, was man anstellte.

    Manchmal überspannte er den Bogen, hatte bedrohliche Fantasien, so ein beklemmendes Brainstorming war schwer zu unterbinden. Er musste wieder runterkommen! Er versuchte es. Erst vor vier Wochen war er durchgecheckt worden, mit EKG und allem Drum und Dran.

    Schwarzer Tee, extrastark und mit Sahne und Honig, brachte ihn stets zur Ruhe. Bei der Suche nach der Teekanne wanderte sein Blick nach oben und verhedderte sich in den Auswüchsen von Alfreds Sammelleidenschaft. Spezialgebiet grüne Flaschen. Alfred spülte und entstaubte sie regelmäßig! In Reih und Glied standen sie auf den Schränken über der Küchenzeile. Bedauernswerter Ausdruck einer Verrücktheit, die (bisher) keine gewalttätige Form annahm, ungestraft blieb und im Großen und Ganzen nichts durcheinanderbrachte. Ein willkommenes Alibi für ungezügeltes Saufen, vermutete Paul. Einzelstücke von der Taschenflasche bis zur Magnum. Mal aufwendig mit Wappen verziert, mal schlicht, mal derb, gertenschlank oder kugelrund, unförmig und schief. Ihm kam die Idee zu einem Animationsfilm für einen protestantischen Getränkegroßhändler. Alfreds Flaschen-Kollektion als Gospelchor mit menschlichen Zügen. Er selbst vorneweg als sonorige Solostimme, die sich nach einem Halleluja mit Châteauneuf du Pape füllte. Alfred als vorlauter Flachmann mit glasigen Augen, der den Ton nicht halten konnte und sich vorzudrängeln versuchte.

    Klarer Fall, er würde ausgezeichnete Werbefilme kreieren. Stattdessen demütigten sie ihn mit jeder Neueinstellung eines unverbrauchten Kreativen. Hauptsache, man kam von der Akademie. Hauptsache, man stieß Wortblasen aus wie Shop Development, Digital Workflow, Sales promotion competition. Unermüdlich wurde er in der Agenturhierarchie nach unten durchgereicht, und sie nötigten ihn zu Arbeiten, für die er nicht studiert hatte.

    Nach dem Frühstück überwand Paul seinen Hangover, noch so ein Begriff, von den jungen Wilden in die Agentur eingeschleppt, entschied das Tauziehen gegen die labile Psyche zu seinen Gunsten, war von der Grenzlinie, hinter der er kapituliert hätte, weit genug entfernt, dass er vertrautes Terrain betrat.

    Unter einer schmutzigen Himmelskugel spazierte er westwärts, während die Sonne sich durch die Schlieren fraß und mit flackernden Lichtkegeln den Strand nach wer weiß was absuchte. Die Brandung änderte zwanglos den Rhythmus, Kiesel wirbelten klackend und glucksend durcheinander.

    Mit wachsender Faszination verfolgte Paul die auf- und abtauchende Flosse eines Schweinswals, der ihn dicht an der Küste begleitete, wanderte mechanisch weiter, ganz in die Beobachtung des kleinsten Wals unseres Planeten vertieft. Es fehlte nicht viel, und er wäre über Katharina gefallen. Die meditierte im Schneidersitz und hatte sich ihrer Umgebung angepasst, ein Chamäleon wäre vor Neid erblasst. Soviel zu Pauls Entschuldigung. Er beteuerte, das sei typisch für ihn, er sei nun mal ein Blindgänger.

    Katharina fiel sofort auf: Sein drittes Auge war hochgradig blockiert.

    »Ich bin neulich gegen eine Glastür gestiefelt«, tröstete sie ihn. »Im Prinzip läuft jeder mit Scheuklappen durch die Gegend.« Sie rückte ihren beigen Pulli zurecht, Pauls Fußspitze war in der Kängurutasche hängengeblieben. Sie ordnete die Haare, das waren Fäden aus Sand, die auf ihre Schultern rieselten. »Mangelnde Präsenz«, lautete ihr Resümee.

    »Ich heiße Paul«, sagte Paul.

    »Katharina.« Auf keinen Fall wollte sie Kathi genannt werden, wie ihre unbelehrbaren Eltern es taten. Und weil sie ständig auf ihr Alter angesprochen wurde, beugte sie den Schätzungen vor, zwischen sechzehn und achtundzwanzig schwankten die! »Ich werde demnächst vierundzwanzig.«

    Die Diskrepanz zwischen ihrem sommersprossigen Gesicht einerseits und der Ernsthaftigkeit, die sie aus allen Poren verströmte, andererseits, erschwerte anscheinend ihre Einordnung ins Raster der Vorstellungen. In Wirklichkeit sehnte sie ihren zwanzigsten Geburtstag herbei. Gleichaltrige waren ihr zuwider, das alberne Gehabe peinlich. Daher der kleine mathematische Bonus, von dem sie sich ein gebührendes Maß an Akzeptanz erhoffte. Getratsche über Mode und Schönheit, pubertären Schwärmereien für Promis und deren hirnlose Ergüsse konnte sie rein gar nichts abgewinnen. Katharina hatte früh begriffen, dass es tiefere Einsichten gab als einen gepuderten Ausschnitt, dass es Zeitverschwendung war, ihre Energie mit so wichtigen Dingen wie Cellulite, Chatrooms und Smartphone-Tarifen zu vergeuden. Sie reichte Paul das Buch von S.O.T. Deshalb war sie hier. Deshalb hatte sie sich auf den Weg gemacht. Sie interessierten tiefgründige Themen. Offiziell ließ sie im Urlaub die Seele baumeln, ihre Eltern hielten Erleuchtung für ein physikalisches Phänomen, einen Blitz oder eine erstrahlende Glühbirne.

    »Mein gefühltes Alter ist fünfundsechzig«, klagte Paul, »das tatsächliche liegt etwas über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.«

    Er las den Titel laut vor: »source of truth«. Der Autor beschied sich mit dem Kürzel S.O.T.

    »Quelle der Wahrheit«, übersetzte Katharina. »Sein Name.«

    »Donnerwetter… «

    »Kommst du auch zum Retreat?«

    »Ri… was?«

    »R, e, t, r, e, a, t. Mit S.O.T.« Sie zeigte auf den Leuchtturm, denn Paul sah sie an, als hätte sein limbisches System einen Aussetzer, als müsste er Babylonische Keilschrift von ihren Lippen ablesen.

    »Ständig werden neue Vokabeln in Umlauf gebracht. Chill mal, Alter, ich hab gleich ein Meeting mit dem Key Account. Kümmer dich um den Usability Check vom Klickdummy, wir wollen beim Pitch on top sein.« Er schraubte den Hals in die Luft und schnitt Grimassen. »Da lob ich mir ZZ Top: Gimme all your lovin’ nana nana nanana.«

    Katharina schmunzelte. Sisi Topp? Ein seltsamer Vogel, dieser Paul. »Retreat bedeutet Rückzug, eine Auszeit aus dem Alltag. S.O.T. ist ein spiritueller Meister, ein Erwachter.« Augenblicklich schwang Begeisterung in ihrer Stimme. »Stell dir vor, allein durch seine Gegenwart kannst du erleuchtet werden. Er gibt dir Antwort auf jede Frage. Von überall her reisen Leute an, um in seiner Nähe zu sein.«

    »So einen Retreat mach ich gerade. Raus aus der Tretmühle. Zwei Wochen.« Ein Hinterwäldler war er nicht, er hatte schon einiges läuten hören. Esoterik war angesagt. In der Agentur standen Slogans wie Ich will ganz ich selbst sein oder Wellness für die Seele hoch im Kurs. Und neuerdings lotete Edith in einem Yogakurs achtsam ihre Grenzen aus und mäkelte an Pauls Ego herum. Selbstverwirklichung nannte sie das.

    Beim Blättern in dem Buch, das Katharina die Augen geöffnet hatte, stieß er auf das Kapitel Kosmischer Orgasmus.

    »Ein sexueller Höhepunkt reicht nicht im Entferntesten an die orgiastische Explosion heran, die dir die Erkenntnis der Wahrheit beschert«, zitierte Katharina, sie wählte den Tonfall eines Pharmareferenten, der sein Abführmittel seriös an den Mann bringen wollte. Um möglichst cool zu wirken. Ein weiterer Unterschied zu Gleichaltrigen – niemandem, wirklich niemandem würde sie das auf die Nase binden: Sie hatte bisher mit keinem Mann geschlafen, freiwillig, bewusst, und autoerotische Versuche vorerst eingestellt. Es gab da einen dumpfen, hartnäckigen Widerstand. Den überwinden, oje, das hieß hinabsteigen in ein unterirdischen Labyrinth mit Falltüren, angespitzten Pflöcken und Schlangengruben.

    Paul stellte sich die Frage nach dem letzten Orgasmus. Wann hatten sie den Geschlechtsverkehr eingestellt, wann hatte Edith ihm den Hahn zugedreht? Vor zwei, drei oder vier Jahren? Die lässige Offenheit dieser jungen Frau beeindruckte ihn. Unter Garantie hatte Katharina Sex bis zum Abwinken und plauderte mit ihren Freundinnen über Intimrasuren, über Silikon und Gleitmittel, die Ortung des G-Punkts. Bei Chips und Cola. Was ihn betraf, er entwarf Kampagnen für Parfums aus der Serie Herbstblüte, er war am sexuellen Tiefpunkt angelangt.

    »Verstehe«, nickte Paul. Bloßstellen wollte er sich nicht. Auf keinen Fall weiter über Orgasmen sprechen!

    Er begleitete sie zum Leuchtturm. Sie überhäufte ihn mit ihrem Wissen über den ewigen Urgrund, aus dem alles entstand, verriet ihm ihre Sehnsucht, hinter die Dinge zu schauen, schilderte ihr Streben nach Reinheit, nach Sinn, die Abscheu gegen Oberflächlichkeit. Und immer wieder Liebe, leerer Raum, Befreiung.

    »Wir sind ein Streichholz, das mit der Geburt entzündet wird. Wir starren auf die Flamme, wir starren und starren. Und nehmen den Raum nicht wahr, in uns, um uns herum, überall. Woher bekommt die Flamme den Sauerstoff, der sie am Leben hält? Was bleibt – Flamme oder Raum? Das Streicholz brennt und brennt, und was machen wir? Wir trödeln.«

    Paul konnte nicht folgen, doch er fing auf der Stelle Feuer. Er hatte Dinge gesehen, die jedem den Atem verschlagen hätten. Er hatte seine Grenzenlosigkeit erfahren, sich beinahe aufgelöst. Der Morgen seiner Abfahrt, die Schmetterlinge, die Bäume, das Meer!

    Eine innere Stimme rief ihn zur Ordnung,

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