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Für immer mein: Bremen-Krimi: Mechthild Kaysers erster Fall
Für immer mein: Bremen-Krimi: Mechthild Kaysers erster Fall
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eBook522 Seiten7 Stunden

Für immer mein: Bremen-Krimi: Mechthild Kaysers erster Fall

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Über dieses E-Book

Die erste Frühlingssonne lockt die Bremer aus ihren Löchern. Nach dem nasskalten Schmuddelwetter tummeln sich die Bewohner überall auf den Straßen und in den Cafés des Steintorviertels. Kriminaloberrätin Mechthild Kayser genießt ihr Wochenende in vollen Zügen. Noch ahnt sie nichts von dem Serienmörder, der in Bremen sein Unwesen treibt und ihr schlaflose Nächte bereiten wird. Denn die Leiche einer Frau, die auf einem verlassenen Gewerbegelände gefunden wird, gibt der Kripo Rätsel auf. Warum trägt die Tote Original-Kleidung aus den sechziger Jahren, und was haben die schönheitschirurgischen Eingriffe zu bedeuten? Während Mechthild Kayser und ihr Team sich auf die Suche nach dem Täter begeben, bereitet dieser in seinem abgelegenen Bauernhaus nahe der Stadt den Übergriff auf sein nächstes Opfer vor, das seiner Mutter ähneln muss. An verschiedenen Plätzen der Stadt versteckt der Mörder die Leichen, um sich Wallfahrtsorte zu schaffen. Doch wird er sich von seiner Zwangsvorstellung befreien können, bevor Mechthild Kayser ihm auf die Schliche kommt?

Das Herz von Joe Schlosser schlägt für seine Hansestadt. "Für immer mein" ist ein packender Polizei-Krimi und zugleich eine Liebeserklärung an die Bremer Originale und skurrilen Szenegestalten des Viertels.
SpracheDeutsch
HerausgeberFuego
Erscheinungsdatum2. Aug. 2013
ISBN9783862871049
Für immer mein: Bremen-Krimi: Mechthild Kaysers erster Fall

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    Buchvorschau

    Für immer mein - Joe Schlosser

    Coverbild

    Joe Schlosser

    Für immer mein

    Mechthild Kaysers erster Fall

    FUEGO

    - Über dieses Buch -

    Die erste Frühlingssonne lockt die Bremer aus ihren Löchern. Nach dem nasskalten Schmuddelwetter tummeln sich die Bewohner überall auf den Straßen und in den Cafés des Steintorviertels. Kriminaloberrätin Mechthild Kayser genießt ihr Wochenende in vollen Zügen. Noch ahnt sie nichts von dem Serienmörder, der in Bremen sein Unwesen treibt und ihr schlaflose Nächte bereiten wird. Denn die Leiche einer Frau, die auf einem verlassenen Gewerbegelände gefunden wird, gibt der Kripo Rätsel auf. Warum trägt die Tote Original-Kleidung aus den sechziger Jahren, und was haben die schönheitschirurgischen Eingriffe zu bedeuten? Während Mechthild Kayser und ihr Team sich auf die Suche nach dem Täter begeben, bereitet dieser in seinem abgelegenen Bauernhaus nahe der Stadt den Übergriff auf sein nächstes Opfer vor, das seiner Mutter ähneln muss. An verschiedenen Plätzen der Stadt versteckt der Mörder die Leichen, um sich Wallfahrtsorte zu schaffen. Doch wird er sich von seiner Zwangsvorstellung befreien können, bevor Mechthild Kayser ihm auf die Schliche kommt?

    Das Herz von Joe Schlosser schlägt für seine Hansestadt. „Für immer mein" ist ein packender Polizei-Krimi und zugleich eine Liebeserklärung an die Bremer Originale und skurrilen Szenegestalten des Viertels.

    Es zeichnete sich schon am gestrigen Freitagnachmittag ab, dass das Wochenende besonders schön werden könnte. Alle Menschen in Bremen warteten nach diesem unangenehmen Winter auf Frühling und hofften schon lange, dass er sich, wie in manch anderem Jahr, auch in diesem März von seiner besten Seite zeigen würde.

    Das norddeutsche Schmuddelwetter brachte meistens keinen richtigen Winter mit viel Schnee und Eis und strahlendblauem Himmel zustande. Auch in diesem Jahr hatte es viel Regen gegeben, graue Wolken und höchstens mal überfrierende Nässe, die Fußgänger und Autofahrer nervte. Nur an einem oder zwei Tagen war so viel Schnee gefallen, dass die Kinder an den Hängen des Osterdeichs rodeln konnten.

    Sehnsüchtig hatten alle dieses Wochenende erwartet und hofften inständig, dass der Wetterbericht sich nicht täuschen würde. Und er behielt recht. Das Ende der Winterdepression schien erreicht zu sein. Ein hellblauer Himmel und eine zwar noch tiefstehende, aber im Verhältnis zu den zurückliegenden tristen Tagen dennoch deutlich wärmende Sonne beglückte die Menschen und holte sie aus ihren Löchern.

    Das Café Sand an der Weser hatte am Vorabend im Regionalfernsehen bekanntmachen lassen, dass es die Pforten am anderen Flussufer öffnen würde und den dazugehörigen Fährbetrieb wieder aufnahm. Die Aufnahme des Fährbetriebs wirkte wie ein geheimes Signal. Die zahlreichen Kneipen und Restaurants der Stadt erneuerten ihre Konzessionen für die Außengastronomie. Die Leute aus den angrenzenden Stadtteilen Ostertor und Steintor kramten nach ihren Sonnenbrillen, unter den dicken Jacken wurden T-Shirts angezogen, und die ersten türkischen Jugendlichen brausten mit ihren BMW-Cabrios den Ostertorsteinweg, Bremens heimliche Vergnügungsmeile, entlang und ließen ihre Motoren vor den Terrassen der Kneipen und Cafés aufheulen.

    Die Menschen waren wie ausgewechselt. Überall sah man fröhliche Gesichter, übertrieben freudige Gesten bei sich begrüßenden Menschen, und Nachbarn, die, auf den Eingangsstufen ihrer Häuser sitzend, entspannte Unterhaltungen im Sonnenschein führten oder dort Zeitung lasen, allerdings noch mit einem vor den kalten Steinen schützenden Kissen unter dem Hintern.

    Die Bremer brauchten nicht viel Sonne, um sich sommerlich zu geben. Als echte Norddeutsche waren sie Kälte und viel Niederschlag gewohnt. Wenn hier das Thermometer einmal die 16-Grad-Marke überstieg und die Sonne herauskam, glaubte man sich schon in einer mediterranen Umgebung zu befinden. Alle bewegten sich langsamer als sonst, Jacken wurden aus- und wieder angezogen, um die ersten Sonnenstrahlen auf die winterlich weiße Haut zu lassen, bis es einem wieder zu kühl wurde. Bei Pepe im Eiscafé herrschte Hochbetrieb, und sein Oberkellner Bruno tänzelte gekonnt wie eh und je mit einem vollen Tablett zwischen den fahrenden Autos auf dem Ostertorsteinweg hindurch, um die auf der anderen Straßenseite liegende Terrasse zu bedienen. Die wenigen Tische, die direkt auf dem Gehsteig vor dem Café standen und meistens im Schatten lagen, waren wie immer von Künstlern, Freaks und solchen, die es werden wollten oder sich dafür hielten, besetzt. Der alte Marco philosophierte laut mit seiner verlebten Stimme cora publico, und sein befreundeter Bildhauer sah den jungen Mädchen nach. Neben der Litfass-Kneipe hatte sich der Bio-Markt aufgebaut, und die Kunden nahmen sich wieder Zeit, um sich über die verschiedensten angebotenen Produkte auszutauschen. Olivenöl und Käse waren wie jedes Jahr Hauptgesprächsthema.

    Auch Mechthild Kayser konnte diesem schönen Sonnabendvormittag nicht widerstehen und stand nun auf der Treppe vor ihrem Haus in der Humboldtstraße. Die ungewohnte Sonne blendete sie derartig stark, dass sie ihre Augen zusammenkneifen musste, bis sie endlich ihre Sonnenbrille in der Umhängetasche gefunden hatte. Das herrliche Wetter weckte in ihr die Lebensfreude, und so verharrte sie noch einige Zeit auf den Stufen, bis sie sie endlich mit einem Lächeln im Gesicht herunterschritt und sich auf den Weg zum Ziegenmarkt im Steintor machte. Einen besonderen Grund hatte sie eigentlich nicht, das Haus zu verlassen. Aber wenn bei den ersten warmen Sonnenstrahlen das ganze Viertel auf den Beinen war, durfte man einfach nicht fehlen. An einem Tag wie diesem brachte man seine Freude über das Ende der Depression damit zum Ausdruck, dass man herumschlenderte und sehen und gesehen werden wollte. Auch Mechthild blickte entspannt und gut gelaunt in die sonnige Welt. An einem solchen Tag war es schön zu leben. Sie schlenderte durch die Wielandstraße und erreichte den Markt. Überall standen von winterlichen Qualen befreite Menschen und plauschten miteinander. Beinahe sah es aus wie eine friedliche, dörfliche Idylle. Nur eine Handvoll abgemagerter und ungepflegter Junkies an der Gedenktafel für die Drogentoten des Viertels holte einen in die Realität dieses schwierigen Stadtteils zurück.

    Früher war dies ein gut- bis spießbürgerliches Bremer Quartier gewesen. In den fünfziger und sechziger Jahren wohnten hier noch alteingesessene Ostertorianer, die ihr kleinbürgerliches Leben in aller Beschaulichkeit führten. Damals gab es noch keine Kneipen, nur sogenannte Gaststätten. Und deren Zahl war begrenzt. Am Sielwall, eine der Stichstraßen zu den größeren, ehemaligen Torwegen der Stadt, waren es nur zwei. Die eine am oberen Ende, die von dem blinden Eickmeyer geführt wurde und aus der Kinder für ihre Väter noch Bier in der Kanne holen konnten. Die andere am unteren Ende, hinter deren verbleiten Buntglasfenstern sich damals die Taxifahrer verköstigen ließen.

    Als erstes störte die Lila Eule die vermeintliche Ruhe. Als Treffpunkt der Linken und progressiven Kräfte wurden hier wunderbare Jazzkonzerte und musikalische Experimente aufgeführt. Ende der sechziger Jahre kamen hier neben dem Revolutionär Rudi Dutschke auch viele, später populärere Künstler auf die Bühne. Der Komiker Otto Waalkes und die damals noch kaum bekannte Rockgruppe Scorpions gaben hier ihre Debüts.

    Die alten Ostertorianer konnte man auf den Märkten im Viertel treffen, und ihre offene, herzliche Art führte oft zu einem ausgedehnten Plausch über die vergangenen Zeiten im Viertel. Schöne Geschichten aus dem ehemals ruhigen Stadtteil konnte man sich von ihnen erzählen lassen. Wie von der Krankenschwester Liesel, die die Huren in Bremens einziger, legalen Bordellstraße, der Helene, betreute. Liesel wohnte in einer der bürgerlichen Straßen. Und als sie ihr erstes Kind bekam, besuchten sie die Damen der Helenenstraße, um ihr Geschenke zur Geburt zu bringen. Im Gänsemarsch kamen die aufgetakelten Huren in ihren teuren Mänteln die Blücherstraße hereinspaziert und überbrachten ihre Glückwünsche. Oder von Paul, dem Seemann, der auch nach seinem Ruhestand seiner Gewerkschaft treu geblieben war und für sie als Kassierer die Monatsbeiträge persönlich abholte. So auch von einer Seemannswitwe, die ihm oben auf der Treppe stehend die Tür öffnete und dabei ihr Holzbein verlor, das Paul direkt vor die Füße purzelte. Wie selbstverständlich hob er es auf und befestigte es wieder an den Lederriemen, wobei er der Witwe unstrittig unter den Rock musste. Wie immer erweckten die alten Geschichten den Eindruck, als wenn früher alles ruhiger und einfacher war.

    Das Ende der Beschaulichkeit wurde mit einer stadtplanerischen Fehlentscheidung eingeläutet. Quer durch das Viertel sollte eine Hochstraße, die sogenannte Mozarttrasse, gebaut werden, und um die dazu erforderlichen Aufkäufe von Häusern durch die Stadt nicht zusätzlich zu verteuern, wurde ein Sanierungsstop verhängt. Erforderliche Modernisierungen blieben somit aus, und der vorhandene Wohnraum verkam zusehends und wurde immer preiswerter. Anfang der siebziger Jahre wurde die Universität gegründet, und Tausende von Studenten suchten neben eingewanderten Ausländern, vornehmlich Türken, günstigen Wohnraum in der Stadt. Zeitgleich zu den großen gesellschaftlichen Umwälzungen etablierte sich in diesem Stadtteil neben dem hohen Anteil von Ausländern die intellektuelle Elite der sogenannten Roten Kaderschmiede Uni Bremen und bildete die Basis für die subkulturelle Entwicklung eines ganzen Stadtteils. Die kritischen Schülerbewegungen der voruniversitären Zeit trafen für sie gewinnbringend auf das große studentische Potential, das ihren Forderungen Nachdruck verlieh. Und umgekehrt. Demonstrationen und zunehmend gewalttätig verlaufende Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit waren die Folge. Die von der Stadt ignorierte Forderung der Jugend nach einem Freizeitheim in ihrem Stadtteil führte zur Besetzung eines leerstehenden Gebäudes im Viertel. Obwohl die Stadt nachgab und eine erhebliche Summe für den Aufbau eines Jugendzentrums den Besetzern zur Verfügung stellte, scheiterte das Projekt. Statt das Geld für die Renovierung des Gebäudes zu nutzen, versoffen und verkifften einige der älteren Besetzer die Kohle. Anschließend, nachdem sich die für das Zentrum kämpfenden Jugendlichen enttäuscht zurückgezogen hatten, kam zwangsläufig die Räumung durch die Polizei.

    Aus der Erfahrung mit dieser Entwicklung wurden klügere Versuche unternommen, kulturelle und politische Zentren zu entwickeln. Spätere Besetzungen führten nach harten Auseinandersetzungen mit Politik und Polizei zu der Etablierung heute nicht mehr wegzudenkender kultureller Einrichtungen, die mittlerweile zum guten Ruf Bremens beitragen und feste Bestandteile des überregionalen Stadtmarketings geworden sind. Die Stadt hatte beizeiten ihre Pläne für die Mozarttrasse aufgegeben und überließ den Stadtteil wieder sich selbst. Die Auseinandersetzungen nahmen ab. Erkämpftes konnte sich etablieren. Die von der Stadt eingangs aufgekauften und mittlerweile maroden Häuser wurden vergleichsweise zu Spottpreisen an die Menschen zurückgegeben. Günstige Modernisierungskredite halfen, sie wiederherzustellen und zu erhalten. Aus so manchem ehemaligen Hausbesetzer wurde ein frischgebackener Hausbesitzer.

    Alternative Lebensformen wurden ausprobiert und wieder verworfen. Einige erinnerten sich noch an die Kommune am Osterdeich und die anlässlich einer Party in einer Badewanne voll Götterspeise sitzende, nackte Schöne. Kunst- und Kulturschaffende fanden in diesem Viertel nicht nur die geistige Freiheit, die sie zum Arbeiten benötigten, sie fanden auch die Räume, die sie brauchten. Mit dem Beginn des Sanierungsstopps war auch das Ende einer Vielzahl kleingewerblicher Betriebe im Stadtteil eingeleitet worden, und leerstehende Werkstätten und kleine Fabrikationshallen wurden einer neuen Nutzung durch Künstler und nach neuen Lebensformen Suchenden zugeführt. Politische Alternativen aus dem Spektrum der Linken und der Ökologiebewegung fanden hier ihr neues, akzeptiertes Zuhause und entwickelten sich zu wahrnehmbaren Instrumenten. Gepaart mit einem großen Maß an Toleranz und dem starken Willen, in einem aktiven Miteinander einen Stadtteil zu gestalten, wurde dieser Teil Bremens zusehends zu einem der politischen und kulturellen Herzen der Stadt. Vorbehalte gegenüber dem Staat und Feindschaft gegenüber den Vertretern der Obrigkeit gehörten hier ebenso zum guten Ton wie die Entwicklung von Hilfsprojekten für die Abhängigen der harten Drogenszene, die hier ebenfalls eine Heimat gefunden hatte.

    In den heißen siebziger und achtziger Jahren eskalierte das Verhältnis zwischen Staat und politisch fortschrittlich Denkenden, und das Viertel wurde zum Unruheherd und Ausgangspunkt vieler immer wieder gewalttätig verlaufender Auseinandersetzungen mit dem Staat und dessen Polizei. Zeitweise war es Streifenwagen der Polizei untersagt, bestimmte Straßen zu durchfahren, in denen in besetzten Häusern schon die Pflastersteine gestapelt auf ihre „Empfänger" warteten.

    Die vermeidbar größte Provokation erfuhr die linke Szene durch eine Rekrutenvereidigung der Bundeswehr im angrenzenden Fußballstadion an der Weser. Zwei Tage dauerten die Kämpfe zwischen Polizei und den aus der ganzen Republik angereisten Demonstranten. Die Verluste waren auf beiden Seiten hoch. Hunderte von Verletzten waren das Ergebnis. Jahrelang wurde dieser Auseinandersetzung vom 6. Mai 1980 noch durch die Linke mit einer Besetzung der mitten im Viertel gelegenen Sielwallkreuzung gedacht. Jedesmal eskalierte die Situation, und alter Hass wurde neu ausgetragen.

    Mittlerweile hatte sich das Viertel beruhigt. Die Bevölkerungsstruktur hatte sich enorm gewandelt. Aber ein Teil des unruhigen Geistes, der hier einmal herrschte, konnte sich halten. Immer noch gab man sich progressiv, fortschrittlich. Fast die Hälfte der Bevölkerung wählte hier Grün. Linke Gruppen waren hauptsächlich hier präsent. Alternatives fand noch immer ein akzeptierendes Umfeld. Vieles, was einmal am Rande der Gesellschaft entstanden war, hatte sich in den gesellschaftlichen Alltag integriert. Aus ehemaligen Krawallbrüdern waren etablierte Viertelbewohner geworden. Einige prahlten noch damit, wie sie in den wilden Zeiten in den vordersten Reihen der Kämpfer für Freiheit und soziale Gerechtigkeit gestanden hatten. Bei näherer Betrachtung war dem natürlich nicht immer so. Wer dabei war, weiß, wie viel davon wirklich wahr und was der Legendenbildung zuzuschreiben ist. Aber dabei gewesen zu sein, gehörte für viele zum guten Ton. Eine Romantisierung der wilden Zeit hatte sich breitgemacht. Jeder wollte ein bisschen mitgemischt haben, aber niemand würde heute so weit gehen und eingestehen, dass er Steine auf Polizisten geworfen oder Schaufenster demoliert und Auslagen geplündert hatte.

    Diese Quartiersromantik hat in den zurückliegenden Jahren nicht nur mittlerweile finanzstark gewordene Vertreter der ehemaligen Studentenschaft im Viertel belassen, sondern auch viele Pseudo-Linke und angeblich Progressive angelockt, die ein bisschen vom Flair der vergangenen Zeiten an ihre Brust heften und sich mit der Aura des Revolutionären umgeben wollten. In vielen Fällen waren sie spießiger als die eingesessenen Bürgerlichen. Heute gilt es in manchen Kreisen eben als schick, in diesem lebhaften Viertel zu wohnen. Die Preise sind mit die höchsten in der Stadt. Die Nachfrage nach Häusern und Mietwohnungen ist ungebrochen hoch. Die zugezogene Schickeria hat gleich ihre teuren Boutiquen und nobel eingerichteten Bistros mitgebracht. Preiswerte Wohnungen sind so gut wie verschwunden, und ein Investment in Immobilien lohnt sich hier immer noch. Manch einer der klugen Revoluzzer hat rechtzeitig investiert, und Spekulationen dieser Art sind alle aufgegangen. In enger Zusammenarbeit zwischen Stadtteilpolitik und Bevölkerung ist es gelungen, die heruntergekommenen, dunklen Ecken aufzuhellen, Bars, Bordelle und illegales Glücksspiel in Hinterzimmern verrauchter Ganovenkneipen zu verdrängen und die Zahl der Spielhallen und gastronomischen Betriebe zu beschränken.

    Mechthild Kayser ließ sich am Blumenstand gerade einen bunten Strauß mit gefüllten Rosen, ihren Lieblingsblumen, binden, als sie von der Seite angesprochen wurde. „Haste mal nen Euro für’n armen Säufer?"

    Leicht erschrocken über die unerwartete Ansprache, drehte sie sich um und trat dabei einen halben Schritt zur Seite. Mit freundlich lächelndem Gesicht und die geäußerte Bitte mit geöffneten Händen unterstreichend, stand vor ihr ein viertelbekannter Penner, den alle nur den Ein-Euro-Mann nannten. Man sah ihm an, dass er ein weicher Mensch war. Er muss einmal ein wirklich gutaussehender Mann gewesen sein, dachte Mechthild Kayser beim Betrachten seiner Gesichtszüge und kramte in ihrem Portemonnaie nach der erbetenen Münze. Der Ein-Euro-Mann wohnte in einem Verschlag in einer billigen Absteige, in der hauptsächlich Drogenabhängige residierten. Niemand wusste, was ihn einst aus der Bahn geworfen und in den Alkoholismus getrieben hatte. Aber alle wussten, dass er gutmütig und zurückhaltend war. Trotz seines heruntergekommenen Aussehens schien er darauf zu achten, eine bestimmte Stufe des sozialen Abstiegs nicht zu unterschreiten. Nie sah man ihn völlig betrunken und besudelt irgendwo herumliegen. Nie fiel er durch Aggressivität auf. Der Ein-Euro-Mann bedankte sich höflich und schlenderte mit seinem Spruch auf den Lippen zum nächsten Passanten.

    Mechthild Kayser bezahlte und verstaute ihre Rosen in ihrer Umhängetasche. Wohlwissend, dass sie damit die Lebenszeit ihrer Blumen erheblich verkürzen würde, ließ sie die Blüten vorne aus der Tasche in die Welt des Viertels blicken und wünschte, dass sich auch andere an ihrer Farbenpracht erfreuen würden. Das wohlige Gefühl und die fröhlichen Menschen um sie herum ließ in ihr den Wunsch wachsen, sich ebenfalls auf einer der Kneipenterrassen niederzulassen und einen leckeren Cappuccino zu schlürfen. Sie schlenderte weiter die Steintorstraße entlang, kam an einem Café vorbei, das zwar noch Plätze frei hatte, aber für sie nicht in Betracht kam. Es gehörte einer ehemaligen Bremer Unterweltgröße. Als diese Anfang der achtziger Jahre das Haus erwarb, kursierten in der Polizei die verrücktesten Annahmen, was hinter diesem Kauf wohl stecken könnte. Einige gingen sogar davon aus, dass von diesem Haus aus ein unterirdischer Tunnel bis zur nahegelegenen Sparkasse gegraben werden könnte, um sie auszurauben. In Wirklichkeit ging es dem älter werdenden Gauner aber nur darum, Investments zur Sicherung eines ruhigen Lebensabends zu tätigen.

    Mechthild Kayser entschied sich für einen sonnigen Platz vor dem Piano, neben dem Litfass einer der ältesten Szenekneipen des Viertels. Die freundliche Bedienung brachte ihr den Cappuccino, und nun sah sie zwischen kleinen Schlucken auf das gegenüberliegende Italo-Eiscafé, an dessen Fenster für den Außerhausverkauf sich schon eine kleine Schlange gebildet hatte. Sie streckte ihre Arme nach oben und reckte sich. Als sie sich wieder nach vorne beugte, musste sie sich eingestehen, dass der Winter ihr ein paar Pfunde zuviel am Bauch beschert hatte. Obwohl ihr ein über die Terrasse schweifender Blick verriet, dass es anderen nicht besser ergangen war, beschloss sie dennoch, wieder häufiger für Bewegung zu sorgen und ihre Figur wieder auf Vorderfrau zu bringen.

    Ein wenig hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihr Mobiltelephon zu Hause gelassen hatte, denn als Leiterin der Bremer Mordkommission sollte sie eigentlich immer erreichbar sein. Sie dachte an ihre Kollegen des Kriminaldauerdienstes, die bei diesem Wetter in ihrer stickigen Einsatzzentrale hockten und nach Mitteln und Wegen suchten, wegen irgendeines Falles das Büro verlassen zu können. Aber dieser Gedanke verflog schnell wieder. Sie hatte dieses Wochenende frei und wollte es genießen. Bloß nicht an den Job denken. Sie wollte ein paar Pläne schmieden und sich überlegen, was sie unternehmen könnte. Ein Kinobesuch schien eine gute Möglichkeit zu sein, einem langweiligen Fernsehabend zu entkommen. Cinema und Schauburg lagen beide im Viertel und hatten als alternative Kinostätten immer etwas Interessantes zu bieten. Und bis zum Abend könnte sie ihre Balkonterrasse aufräumen und für den bevorstehenden Sommer herrichten. Das waren gute Ideen. Sie legte Geld auf den Tisch und machte sich auf den Weg nach Hause.

    „Guten Morgen, mein Geburtstagskind!"

    Eine gekünstelt erhobene Stimme drang in den Raum. Er war zwar schon einige Zeit wach, erwartete aber heute an seinem Geburtstag eine besonders hingebungsvolle Weise des Aufweckens. Doch sie blieb aus. Mit einem „Beeil dich!" war seine Mutter schon wieder aus seinem Zimmer verschwunden. Sie war immer so hektisch, immer in Eile und hatte immer etwas vor. Allerdings nie mit ihm, ihrem Sohn. Er wusste schon, was ihn erwartete, wenn er von der Galerie im ersten Stock der Villa die breite Treppe in die Halle hinunterstieg und dann ins Esszimmer kam.

    An einem Ende des massiven Esstisches für zwölf Personen stand sein Frühstücksgedeck. Wie immer der blaue Becher mit Kakao und eine Brötchenhälfte mit bitterer Orangenmarmelade, eine andere mit einer großen Scheibe Mettwurst. Oder genauer gesagt mit „Salami", wie seine Mutter ihn bei jeder Gelegenheit verbesserte. Auf der anderen ihm abgewandten Seite des Tisches stapelten sich Geschenke.

    Er fragte sich, warum die Geschenke nicht auf der vorderen, zuerst sichtbaren Seite des Tisches präsentiert wurden. Das ist doch an einem Geburtstag das Wichtigste − und nicht das Frühstück. Aber er erwartete sowieso keine Überraschungen. Seine Mutter vertrat die Ansicht, dass zum Geburtstag Wünsche genau erfüllt werden sollten, und Überraschungen, die am Ende nicht gewollt waren, nur unnütze Geldausgaben seien. So war sie mit ihm vor einer Woche in die Innenstadt von Essen gefahren und hatte alles gekauft, was er sich wünschte und von dem sie meinte, dass es an der Zeit sei, dass er es sich wünschte.

    Langsam und freudige Erwartung vortäuschend, ging er ans andere Ende des Tisches. Seine Mutter stand etwas abseits des Geschehens und lächelte ihm ermunternd zu. Sie war schon jetzt zufrieden mit ihren Geschenken, die sie ausgesucht hatte. Jedem konnte sie bei nächster Gelegenheit voller Stolz aufzählen, was er dieses Jahr alles Wichtiges erhalten hatte.

    Vor seinem Stapel Geschenke brannten auf einem hölzernen Ring zwölf Kerzen, die jeweils eines seiner erreichten Lebensjahre darstellen sollten. Am Rand des Ringes stand in Hellblau „Alles Gute zum Geburtstag" geschrieben. Wahrscheinlich damit seine Mutter es nicht selber sagen musste. In der Mitte des Kerzenkreises stand eine dickere Kerze, das sogenannte Lebenslicht, wie seine Mutter ihm erklärt hatte. Und wie immer musste er, bevor er seine Geschenke in Augenschein nahm, alle Kerzen ausblasen und sich im Geheimen etwas wünschen. Ihm fiel nichts ein, aber er blies trotzdem. Die Erfahrungen mit den letzten Geburtstagen hatten ihm das Vertrauen in dieses Ritual genommen. Warum er beim Ausblasen auch immer sein Lebenslicht mit auslöschen musste, leuchtete ihm nicht ein. Aber er fragte nicht noch einmal. Im vergangenen Jahr hatte er auch keine Antwort erhalten und musste sich stattdessen von seiner Mutter als dummen Jungen bezeichnen lassen.

    Als der wächserne Duft der erloschenen Kerzen verflogen war, wandte er sich seinen Präsenten zu. Eine Carrera Autorennbahn: die hatte er sich ausgesucht und galt unter seinen Mitschülern als unbedingt erforderlich. Ein echtes Statussymbol. Der Rest der Geschenke stellte die Entscheidungen seiner Mutter dar. Ein neuer Schultornister – den alten hatte er schon versteckt, weil er nicht wollte, dass er weggeworfen wurde –, eine kleine Dampfmaschine mit Geräten, die man an sie anschließen konnte – seine Mutter fand, dass es dafür an der Zeit war, weil sein Vater schließlich eine Fabrik hatte – und dann noch ein einreihiger Kinderanzug aus braunem Stoff mit kurzen Hosen. Dazu zwei Niltestoberhemden und eine schon fertiggebundene, schrecklich gemusterte Krawatte an einem Gummibandverschluss.

    „Wer am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will, hat bestimmte Formen einzuhalten! hatte seine Mutter ihn mit schriller Stimme ungeduldig angekeift, als er sein Unbehagen über diese Idee äußerte. Und der Verkäufer eines der bekanntesten Herrenausstatter der Stadt konnte das Ansinnen seiner Mutter ungehindert vollenden. Weiterer Widerstand war sinnlos. Er ließ diese Prozedur von Anprobieren, Verwerfen, wieder Anprobieren über sich ergehen und wartete auf das erlösende Signal seiner Mutter, in diesem Fall ein jubelndes „Das ist es!

    Keines der Geschenke war eingepackt. Wozu auch. Geldverschwendung, meinte seine Mutter. Er wüsste ja sowieso, was er bekommen würde. Trotzdem hätte er gern voll Wonne Geschenkpapier zerrissen und zerknüllt. Benommen stand er nun vor den Geschenken und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Er drehte sich langsam um und ging auf seine Mutter zu, drückte sich an sie und bedankte sich. Immer, wenn er die seltene Gelegenheit bekam, mit seiner Mutter körperlich in Kontakt zu treten, hoffte er auf das Wunder, dass ihn endlich das Gefühl ihrer Liebe erreichte. Aber auch diesmal kam bei ihm nichts an.

    „Alles Liebe und Gute zum Geburtstag", sagte sie schnell und mit dem Tonfall eines Bilanzbuchhalters, der der Gesellschafterversammlung gerade die Notwendigkeit einer Konkursanmeldung mitteilt, und schob ihn schon wieder von sich. Der enge Kontakt mit ihm schien ihr unangenehm zu sein.

    „Bevor du mit Spielen anfängst, wirst du aber erst mal frühstücken! Dann eilte sie schon zur Tür. Und mit den Worten „Ich muss zum Frisör. Ich weiß schon gar nicht mehr, wo mir der Sinn steht! dabei nervös mit den Armen wedelnd, war sie schon verschwunden.

    Er setzte sich ans andere Ende des Tisches und blickte beim Verzehren des Marmeladenbrötchens auf seine Geschenke.

    Eine Hand streichelte sein Haar, und er hörte hinter sich die Stimme von Berta, der Haushälterin. „Hier, mein Junge. Das ist für dich. Alles Gute zum Geburtstag", sagte sie mit warmer Stimme. Sie beugte sich zu ihm herunter, küsste ihn zärtlich auf die Wange und reichte ihm ein kleines Paket. Es war in buntes Geschenkpapier mit Mickey-Maus-Figuren eingeschlagen und mit einer dicken, roten Schleife verziert.

    Sein Herz begann zu rasen, und voller Aufregung schob er den Frühstücksteller beiseite, um Platz zu schaffen für das Paket. Langsam und genussvoll entfernte er die angeklebte Schleife und legte sie langsam und kontrolliert, wie ein Oberkellner Bestecke auf dem Tisch platziert, beiseite. Dann löste er vorsichtig die Klebefilmstreifen ab, bemüht, das schöne Papier nicht zu beschädigen, und zog dann einen kleinen Karton aus der halbgeöffneten Verpackung heraus.

    Er konnte seine langsamen Bewegungen beim Öffnen des Kartons kaum aushalten, wollte aber unbedingt den Moment des Erkennens hinauszögern, um weiterfühlen zu können. Der Deckel war nun offen. Vor ihm lag eine kleine Taschenlampe, wie sie Höhlenforscher auf dem Kopf trugen. Sie war aus verchromten Metall und mit einem roten Plastikrand eingefasst. Am Gehäuse waren breite Gummiriemen angebracht, die dazu dienten, die Lampe wie eine Mütze auf dem Kopf zu tragen.

    „Oh danke, Berta!" rief er aus, sprang von seinem Stuhl hoch und drückte sich an ihren dicken Bauch. Seine in ihre Schürze vertiefte Nase nahm den Geruch von gekochtem Hühnerfleisch wahr, und ein Strahlen huschte über sein Gesicht.

    Berta hielt, was sie versprach. Er hatte sich für heute sein Lieblingsessen, Hühnerfrikassee, gewünscht. Sie hielt den Jungen so lange im Arm, bis sie merkte, dass er dringend seine aufgestaute Energie in Bewegung umsetzen musste. Dann rannte er hinaus, und sie hörte, wie er die Tür zum Keller öffnete. Im dunklen Keller ließ sich die Lampe natürlich am besten ausprobieren. Berta räumte das Frühstücksgeschirr zusammen, wusste, dass der Junge die Salami nicht mehr aß, seit er sie nicht mehr Mettwurst nennen durfte, und brachte alles in die Küche. Dann ging sie zurück und lud sich die Geburtstagsgeschenke auf, um sie in sein Kinderzimmer zu bringen. Die gnädige Frau mochte es nicht, wenn das Esszimmer nicht einwandfrei aufgeräumt war, bis sie zurückkehrte. Sie legte die Autorennbahn und die Dampfmaschine auf das für den Jungen viel zu große Bett und hängte die neue Kleidung in seinen Schrank. Dann machte sie sich auf in die Küche, um ihm sein Lieblingsessen zu bereiten.

    Berta war Putzfrau, Köchin, Kindermädchen und Haushälterin in einem. Sie war fest im Hause der Industriellenfamilie angestellt und bewohnte am Ende der Galerie in der ersten Etage eine kleine Zweizimmerwohnung. Kurz nach der Geburt des Jungen kam sie ins Haus. Sie war jetzt Ende vierzig und hatte in ihrem Leben bisher nichts anderes getan, als für Herrschaften den Haushalt zu führen. Und es ging ihr gut dabei. Sie verfügte über ausgezeichnete Referenzen, und die ließ sie sich anständig bezahlen. Dafür war sie rund um die Uhr verfügbar, verzichtete auf Urlaub und nahm den Herrschaften auf Reisen den Filius ab. Sie hatte kaum Ausgaben, und so verfügte sie mittlerweile über ein kleines, aber ansehnliches Vermögen, das ihr eines Tages den Lebensabend versüßen sollte. Sie war nicht verheiratet. Der richtige Mann tauchte in ihrem Leben nie auf. Freundschaften hatte sie keine. Sie bewegte sich seit ihrer Ausbildung ausschließlich im Kreis von Dienerschaften. Das war ein sehr eingeschränktes soziales Gefüge. Aber sie vermisste nichts. Auch keine Kinder. In allen Haushalten, in denen sie diente, waren Kinder. Das wollte sie so, und das reichte ihr. Mittlerweile liebte sie den kleinen Benjamin, den sie fast von Geburt an kannte, und kümmerte sich sorgsam um ihn. Und sie bekam von ihm das an Zuneigung und Nähe zurück, was ihr sonst im Leben fehlte.

    Sie hatte früh festgestelltt, dass ihre Herrschaften als Mutter und Vater nicht viel hergaben. Ein alleinunternehmerischer Fabrikbesitzer, dessen Stahlhandel sein Leben war und der von seiner Frau nur erwartete, dass sie ihm erstens einen Sohn bescherte und zweitens ihren Verpflichtungen in der Gesellschaft zur Genüge nachkam. Hierfür war sie in seiner Welt, und sie entsprach seinen Ansprüchen nur zu gerne. Den Sohn hatte sie ihm geboren, ihn an Berta abgegeben und konnte sich nun um ihr Aussehen, die neueste Mode und den jüngsten Tratsch kümmern. Eine gelungene und angenehme Situation für Berta, die wie alle Hausangestellten am besten zurechtkam, wenn die Herrschaften nicht zu Hause waren.

    Sie hätte auf dem Markt noch ein paar Balkonpflanzen kaufen sollen. Mechthild Kayser hatte die hölzerne Terrasse hinter ihrer Küche im Hochparterre gefegt und geschrubbt und auch die losen Gummikanten an den Stufen der in den Garten hinunterführenden Treppe festgeklebt. Die Kunststoffmöbel, die sie vergessen hatte über Winter in den Keller zu bringen, waren nun auch wieder ansehnlich. Doch in den Kästen an der Umrandung fehlte eindeutig etwas, das Farbe in das Bild brachte. Nächste Woche kaufe ich neue Erde und bepflanze alles mit Fuchsien, beschloss sie. Nur einen Kasten wollte sie mit Kräutern versehen, die sie bei Gelegenheit frisch in die Küche holen könnte.

    Das Telephon klingelte. Mechthild Kayser erschrak. Obwohl sie sich angewöhnt hatte, eine furchtlose Frau zu sein, zuckte sie zu Hause beim Klingeln ihres Telephons jedes Mal zusammen. Zu oft hatte sie erlebt, dass das Klingeln nichts Gutes verhieß.

    Sie wartete zu lange, und der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Sie hörte ihre eigene, fremd anmutende Stimme mit der Ansage und wartete den Pieps ab.

    „Hallo Mechthild, ich bin’s, Ayse."

    Mechthild Kayser lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ayse Günher war eine der Ermittlerinnen aus ihrem Team. Adrenalin schoss sofort in ihren Kreislauf, öffnete alle ihre Sinne und aktivierte die Schutzmechanismen.

    „Erschrick nicht. Es ist nichts passiert. Ich wollte nur fragen, ob wir heute etwas gemeinsam machen können."

    Mechthild griff erleichtert zum Hörer und betätigte die Ruftaste. Der Anrufbeantworter schaltete sich aus, und sie meldete sich. Nach einem kurzen Gespräch vereinbarten die beiden Frauen, den Samstagabend gemeinsam zu verbringen. Vielleicht mit einem Kinobesuch. Ihre Mitarbeiterin würde sie zu Hause abholen.

    Im Café Sand tobte mittlerweile der Bär. Der Nachmittag bescherte dem Weserstrand so viele Besucher, dass der Fährbetrieb schon mit zwei Schiffen im Pendelverkehr auf der Weser agierte. Im Wechsel spuckten die Ostertor und die Punke Menschenmassen aus ihren aufgeklappten Mäulern, die nun alle für die wenigen angekündigten Sonnenstunden einen Platz im Café Sand suchten. Trotz zusätzlich vor dem Café aufgebauter Verkaufsstände gab es an jedem Tresen endlose Schlangen, und die Bedienungen standen wie so oft mit grimmigen Mienen an den Ausschankstellen. Manchmal hatte man geradezu den Eindruck, die Beschäftigten des Cafés wären zwangsweise aus einem Resozialisierungsprojekt für ehemalige Knackis rekrutiert worden. Aber wahrscheinlich war es eher so, dass sie viel lieber selber in der Sonne sitzen wollten, als durstige Väter mit quengelnden Kleinkindern auf den Armen zu bedienen, während die dazugehörigen Muttis von Zeit zu Zeit ihre genießerisch der Sonne entgegengestreckten Gesichter in ihre Richtung lenkten und mit vorwurfsvollen Blicken das Eintreffen der Getränke anmahnten. Was die Väter noch gereizter und die Kinder noch unruhiger machte.

    Doch nach wenigen Stunden war der Spuk vorüber. Je näher der Zeitpunkt der Dämmerung kam, desto mehr Strandgäste verließen ihre Plätze und machten sich auf den Heimweg. Abends war es den meisten doch noch zu kühl, um draußen zu sitzen. Der Cafébesitzer rannte schon umher und schickte seine Aushilfen nach Hause, um bloß nicht eine Stunde zuviel bezahlen zu müssen, und die Außenstände wurden schon wieder geschlossen. Aber der Saisonauftakt war gelungen.

    Mechthild Kayser sah gerade die Nachrichten im ZDF, als ihr erwarteter Besuch klingelte. Sie schaltete den Fernseher stumm und ging zur Tür. Sie freute sich auf einen Abend mit viel Gequatsche. Ayse Günher war die einzige Beziehung, die es aus ihrem beruflichen Umfeld bis in ihr Privatleben geschafft hatte. Mit Polizisten, egal welchen Geschlechts, konnte sie persönlich nichts anfangen. Es war nicht nur die Hierarchie, die zwischen ihnen bestand. Die meisten Kollegen wollten immer nur über den Dienst reden, sich über die Belastungen der Arbeit beklagen oder ihr gegenüber geistreiche Bemerkungen machen. Das ging ihr ziemlich auf den Senkel.

    Mit Ayse war das glücklicherweise anders. Die Kriminalkommissarin, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert waren, wollte nach Abschluss der Polizeihochschule eigentlich im Bereich der Umweltkriminalität arbeiten, musste aber in einem ermittlungsaufwendigen Mordfall zum Nachteil eines vierjährigen Kindes in der Mordkommission aushelfen, da Mechthild Kayser einen ihrer Mitarbeiter zum Bundeskriminalamt hatte gehen lassen. Bei den mit der Ermittlung verbundenen unendlichen Hausbefragungen zeigte Ayse Günher neben einer unerschütterlichen Ausdauer ein enormes Talent, Hinweise aus den Menschen herauszukitzeln und trug maßgeblich zur Ermittlung des Täters bei, so dass Mechthild sie nach Rücksprache mit dem Polizeipräsidenten bat, in ihr Team zu kommen. Sie willigte ein. Sicher nicht nur, weil sie selbst spürte, dass ihr die Arbeit in der Mordkommission zusagte, sondern auch, weil sich dort durch den Weggang eines Hauptkommissars klare Entwicklungsperspektiven für sie ergaben.

    Die Freundschaft mit Ayse machte es Mechthild in ihrem Berufsleben nicht leicht, sie für eine Beförderung vorzuschlagen. Komischerweise dachten alle Männer ernsthaft, dass vor den Frauen erst mal sie befördert werden müssten. Anschließend sollten die Frauen sich mal um den Rest streiten. Vielen Polizisten fiel es immer noch sehr schwer, zu akzeptieren, dass manche Kolleginnen weitaus besser und qualifizierter als die Männer waren. Hundert Jahre Machogesellschaft in der Polizei ließen sich per Dekret nicht mal eben ausradieren. Alle, die sich übergangen und benachteiligt fühlten, würden eine Beförderung von Ayse auf die Freundschaft mit ihrer Chefin zurückführen. Ganz egal, welche Erfolge sie vorzuweisen hätte. Sie würde als Leiterin der Mordkommission damit angreifbar werden und Führungspotential einbüßen. Aber Ayse hatte eine Beförderung verdient.

    Mechthild Kayser entschied sich, dieses Problem in Kürze mit dem Polizeipräsidenten Ernst Logemann zu besprechen. Der PP war ein echter Verwaltungsmann und Schreibtischakteur. Er hatte sie schon damals als Erste Kriminalpolizistin an die Führungsakademie nach Hiltrup geschickt und sie dann äußerst versiert als Leiterin der Mordkommission berufen.

    Die beiden Frauen schlenderten eingehakt und leichtfüßig den Dobben hinunter und standen nun vor dem Cinema. In einer halben Stunde lief ein Film über ein klarinettespielendes Mädchen, das taubstumme Eltern hatte. Die Problematik des Films gefiel den beiden, und sie kauften Eintrittskarten. Die Zeit bis zum Beginn des Films verbrachten sie im zum Kino gehörenden Café und plauschten mit Carola, der Besitzerin.

    Benjamin lag auf seinem Bett und starrte an die Decke.

    Das Hühnerfrikassee lag ihm schwer im Magen. Aber das hatte er auch so gewollt, und er fühlte sich wohl damit. Nach der dritten Portion hielt ihn seine Mutter zur Mäßigung an, doch zu diesem Zeitpunkt hatte er sowieso schon genug.

    Jetzt auf dem Bett zu liegen und der Verdauung Zeit zu verschaffen, war schon die richtige Entscheidung gewesen. Allerdings war diese Ruhezeit nicht auf seine Völlerei zurückzuführen, sondern auf die unsägliche Anordnung seiner Mutter, dass von Mittag bis drei Uhr nachmittags Ruhe im Hause zu herrschen habe. Er wusste, dass Kleinkinder mittags ihren Schlaf brauchten. Aber er war zwölf Jahre alt, und ihm war klar, so wie es ihm sein Innerstes sagte, dass er jetzt eigentlich draußen toben wollte und müsste. Gleichermaßen war ihm dadurch klargeworden, dass seine Mutter diese Regel aufrechterhielt, um sich nicht mit ihm beschäftigen zu müssen. Er hatte mehrfach Versuche unternommen, sie dafür zu begeistern, mit ihm etwas zu unternehmen. Aber alle Versuche scheiterten. Irgendwann hatte sich ihm erschlossen, dass sie nichts mit ihm anzufangen wusste. Ja sogar, dass er ihr im Wege stand.

    Es war ihm leichter gefallen zu akzeptieren, dass sein Vater nicht erreichbar war, da ihn seine Fabrik so beschäftigte, dass er für nichts anderes Zeit hatte. Aber im Urlaub, wenn sich die Fabrik nur beizeiten einmal per Fax oder mit einem Anruf meldete, nahm er sich die Zeit, mit ihm auf Nachtwanderungen zu gehen, Hirsche im Morgengrauen zu beobachten oder einfach nur mit ihm zu schwimmen oder Tennis zu spielen. Dann fühlte er, dass sein Vater ihm verbunden war. Sie kamen sich zwar nicht wirklich nahe, aber er spürte, dass sich sein Vater dies sehr wohl wünschte und wollte − wenn er es aus welchen Gründen auch immer, nicht wirklich zustande brachte. So konzentrierten sich seine Bedürfnisse nach Liebe und körperlichen Kontakt anfangs auf seine Mutter, die ja nicht arbeiten musste und eigentlich immer zu Hause war. Aber sie konnte oder wollte einfach nichts mit ihm anfangen. Wenn er sie berührte, wurde sie steif. Nichts Weiches oder Gemütliches war an ihr.

    Je größer er wurde, desto offensichtlicher wehrte sie ihn ab. Sie vermittelte ihm das Gefühl, dass es unanständig war, sich körperlich nahe zu kommen. Aber er ließ nicht locker. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine eigene Mutter ihn nicht wollen würde. Je häufiger sie ihn zurückstieß, desto größer wurden seine Anstrengungen, ihr seine Liebe zu zeigen und ihr zu gefallen. Aber alles blieb ohne Erfolg. Es musste irgendwie auch an ihm liegen.

    Also änderte er sein Verhalten und hielt sich von ihr fern. In der Hoffnung, dass dies der Weg zur Liebe seiner Mutter sein könnte, begann er sich schweren Herzens nicht mehr um sie zu kümmern. Es bereitete ihm große Qualen, obwohl es genau das zu sein schien, was sie von ihm erwartete. Aber sie beantwortete sein Verhalten nicht mit der von ihm erwarteten plötzlich aufflammenden Zuneigung, dem Bewusstsein, dass sie Versäumnisse zugelassen hatte, sondern sie genoss die Entfernung.

    Irgendwann war sie ihm fremd geworden. Zeitweise empfand er sie wie Besuch im Haus. Das Einzige, was er sicher wusste, war, dass er sie wollte. Er liebte sie, und in seinen Träumen wollte er sie immer um sich haben. Sie sollte ständig für ihn erreichbar sein und nur darauf warten, dass er zu ihr kam, um ihn dann erleichtert in die Arme zu nehmen, weil sie schon dachte, er würde sie verschmähen. Aber sie beschäftigte sich nur mit sich selbst. Das war die schreckliche Wahrheit. Der Erhalt ihrer Schönheit war ihr wichtig. Dafür tat sie alles. Fitness-Studio, Kosmetikerin, Frisör. Immer die elegantesten Klamotten. Sie hatte eine schlanke, tolle Figur, schöne, blonde Haare. Ihre Zähne blitzten, wenn sie ihr hollywoodreifes Lachen in die Welt jagte. Andere Männer beneideten seinen Vater um sie.

    Vielleicht steckte ja er hinter all dieser Qual. Vielleicht war er es, der wollte, das alles so ist, wie es war. Dass sie nur schön für ihn, ihn allein sein sollte. Dass sogar sein kleiner Sohn nicht daran teilhaben durfte. Dass sein Vater in seinem eigenen Sohn einen Nebenbuhler ausmachte, den es auszustechen galt. Aber Benjamin wusste, dass er zwar nicht mehr ganz klein, aber doch sicher nie und nimmer ein Mann war. Und er wollte seinem Vater nicht die Frau nehmen, er wollte nur eine richtige Mutter haben.

    Sein Glück war Berta. Sie liebte ihn, das wusste er. Und sie kümmerte sich um ihn. Sprach mit ihm, sorgte sich und achtete auf ihn. Manchmal mehr als ihm lieb war. Alles wollte sie wissen. Manchmal quetschte sie ihn geradezu aus, um zu erfahren, mit wem er Umgang hatte, wer seine Freunde in der Schule waren, worüber sie sprachen und welche Pläne er für die Zukunft schmiedete. Manches war aber auch befremdend an ihr. Wenn er zum Vorlesen auf ihrem Schoß saß und sich gemütlich an ihren dicken Busen anlehnte, hielt sie das Märchenbuch nur mit einer Hand. Mit der anderen streichelte sie seinen Oberschenkel. Das war schön. Und aufregend. Sie war so warm. Und sie roch so gut. Aber ihr Streicheln war ihm auch nicht geheuer. Dennoch ließ er es über sich ergehen. Er war sich nicht ganz sicher, ob er sich falsch erinnerte, aber einmal, als er eine kurze Hose trug, dachte er, sie hätte seinen kleinen Schniedel berührt. Aber er wusste es nicht mehr so genau. Er war froh, dass er

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