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Die Sanftmütigen
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eBook220 Seiten3 Stunden

Die Sanftmütigen

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Über dieses E-Book

Das schmale Buch war in Bulgarien eine kleine Sensation. Es greift ein historisches Tabu auf, dem die bulgarische Literatur die längste Zeit ausgewichen ist: die sogenannten „Volksgerichte“ 1944/45, die die früheren Machthaber in Schauprozessen nach Moskauer Vorbild aburteilten und binnen weniger Monate einen Großteil der alten bürgerlichen Elite ausmerzten.
Aus historischen Quellen baut Igov eine schlüssige Fiktion des „kleinen Mannes“, dem die Stunde schlägt: die Figur des Emil Strezov, eines randständigen proletarischen Jungpoeten aus der Provinz, der in atemberaubender Dynamik erst zum Mitläufer, dann zum „Kader“ und eilfertigen Ankläger im Dienste des neuen Terrorregimes wird. Eine Geschichte um Schuld und Sühne, Ermächtigung und Verstrickung, grandios vorgetragen aus der Perspektive von Seinesgleichen, die Emil Strezov hinter sich ließ. Wie ein antiker Chor erzählen und kommentieren sie das Geschehen – „im Namen des Volkes“.
Hier sucht und findet ein junger bulgarischer Autor unmittelbar Anschluss an die modernsten Tendenzen der europäischen Literatur.
SpracheDeutsch
Herausgebereta Verlag
Erscheinungsdatum11. Feb. 2020
ISBN9783982003061
Die Sanftmütigen
Autor

Angel Igov

Angel Igov, geb. 1981, ist ein Sofia/Bulgarien lebender Schriftsteller, Übersetzer und Journalist. Sein Werk umfasst mittlerweile drei Romane, Erzählungen und Essays. Er wurde vielfach ausgezeichnet, darunter mit dem renommierten bulgarischen Elias-Canetti-Preis. Seine Erzählungen wurden u.a. ins Französische, Polnische und Deutsche übersetzt. Igov unterrichtet Englische Literatur und Übersetzen an der Sofioter Universität „Hl. Kliment Ochridski“. In seiner Übersetzung erschienen Romane und Lyrik von Paul Auster, Martin Amis, Ian McEwan, Angela Carter, John Banville, William Wortsworth, Colson Whitehead, Jeremy Page, T. S. Eliot, J. R. R. Tolkien und Samuel Taylor Coleridge.

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    Buchvorschau

    Die Sanftmütigen - Andreas Tretner

    Ein junger Mann stand im dicken, schwer nach Kohle riechenden Februarnebel auf der Brücke beim Jučbunarer Badehaus, mit einem Heft in der Hand; eine Seite nach der anderen riss er heraus und warf sie hinab in den Fluss. Als auch die letzte von der Strömung davongetragen war, schien er kurz zu zögern, dann gab er sich einen Ruck, riss auch den Einband des Heftes in Stücke und schleuderte sie ins Wasser, dessen Schwärze hie und da von blinkenden Eisplättchen durchzogen war. Ohne hinabzusehen, drehte der Mann sich um und lenkte seine Schritte in Richtung Stadtzentrum. Es gab um diese Nachtzeit hier sonst keine Passanten; die Straßen waren verschneit und menschenleer. Höchstens schlug einmal ein Hofhund in einer der Seitengassen kurz an. Der helle Atem der elektrischen Laternen auf der Pirotska vermochte den Nebel nicht zu durchdringen, wie zerlumpte Heiligenscheine klebte das Licht an den Masten. Die Schritte des Mannes knirschten über den festgetrampelten, von Ruß und Schlacke geschwärzten Schnee. Niemand war in der Nähe. Doch selbst wenn ihm einer seiner Mitmenschen aus dem Viertel entgegengekommen wäre – keiner hätte ihn gleich erkannt.

    Das warst nämlich du.

    Wir kannten dich gut, Emil Strezov, über Monate und Jahre haben wir jeden deiner Schritte verfolgt, und auch wenn wir dich damals nicht auf der Brücke haben stehen sehen – selbst im Schlaf wussten wir, dass du dort bist. Unentwegt kreisend, wie es ihre Art ist, bekamen unsere Augäpfel hinter den geschlossenen Lidern alles mit: die grauen Nebelfetzen, die sich im Schnee abzeichnenden Fußspuren des einsamen Mannes. Wir waren ganz Auge, ganz Ohr. Entsannen uns noch gut, wie du einzogst in unser Viertel, herübergekommen aus jenem nahegelegenen Kaff, zu unbedeutend, um es namentlich zu erwähnen; hatten dich mit eigenen Augen vom gerupften Gymnasiasten zum verkannten Dichter wachsen sehen und sahen nun mit an, wie der großspurige Herbst vierundvierzig dich unversehens mit der Macht begabte, über Schicksale zu entscheiden. Flachsten darüber, dass eines Tages unsere Kinder, wenn sie an die Universität kämen, die du ohne Abschluss verließest, allenthalben in einer dicken Anthologie auf eines deiner Gedichte stoßen würden; gar nicht übel, würden sie sagen – und darauf wir: Emil Strezov? Na, den kennen wir doch, der hat hier gleich ums Eck gewohnt. Ha, wenn ihr wüsstet, wie ich dem mal eine geschwalbt habe. Und er?, würden die Kinder fragen. Was, er? Kein solcher Nichtsnutz wie wir. Sondern? Na ja … Mehr so der Tantenschwarm. Bai¹ Petars höflicher Untermieter. Immer in der Spur – bis zu besagtem Herbst mit Büchern unterm Arm und ab da mit der Pistole am Gürtel. Aber für einen artigen Gruß nahm er sich die Zeit und ein paar beifällige Worte über die anstehende große Sache und das noch Größere, was dann kam. Aber hätte einer von uns in jener Nacht deinen Weg gekreuzt – gewiss wäre ihm etwas aufgefallen an der Art, wie du gingst, wie du dreinschautest, auch die tief eingegrabenen Stirnfalten, die dich auf einmal so streng und erwachsen aussehen ließen, dass er seinerseits stirnrunzelnd sich gefragt hätte, ob er dich nicht verkannte und dieser dahineilende junge Mann tatsächlich derselbe war, der noch Anfang September lebenshungrig und mit einem flammenden Lächeln im Gesicht durch die Sofioter Straßen gestreift war.

    Emil Strezov lebte seit geraumer Zeit im Viertel, und selbst wir hartgesottenen Jučbunarer sahen ihn schon beinahe als einen der Unseren an. Als er ankam, war er ein unscheinbares Bürschlein; wie aus dem Nichts stand er eines staubigen Sommermorgens vor der Tür von Bai Petar, dem alten Schuster, der ihm, nach einem kritischen Blick auf seine zerrissenen Latschen, auf die Schulter klopfte und Obdach gewährte. Das tat er, so wurde in der Nachbarschaft gemunkelt, damit sein Sohn, sein einziger, ein Stotterer, nicht so alleine aufwuchs. Mit dem Zug sei er gekommen, munkelte man des Weiteren, von irgendwo aus dem Norden. Vater gestorben, munkelte es, auch die Mutter kränkelte, nun wohnte er hier und sollte in der Werkstatt aushelfen. Uns fiel das zuerst gar nicht auf, aber dann kam der Herbst, und wir sahen dich mit dem Stotterer den Schulhof betreten – zwei Hasen in Uniform. Ihr wart im gleichen Alter und ständig beisammen, lieft nebeneinander die erst kürzlich gepflasterte Hauptstraße einher; wir sahen euch buchstäblich aus den Kleidern wachsen, ihr wart hungrig auf das Leben und gabt euch zunehmend schlitzohriger, wenn auch immer noch leicht zu erschrecken vom bunten Wirbel der Stadt und insbesondere den obskuren Gefilden jenseits unseres Viertels, wo die Schönen und Reichen schwärmten.

    Alle lebten wir auf der Straße. Sogar du, wenn du nicht gerade in der Schule warst oder arbeiten musstest. In Jučbunar² war das eben so. Und dann kam dieser letzte Herbst, und alles Bisherige trat zurück hinter das, was sich nun auf der Straße ereignete. Von früh bis spät hingen wir dort herum, verstörte Gesichter schwammen durch das milde Abendlicht, wir grüßten einander wie schlafwandelnd, du liefst vorbei mit der roten Armbinde und der Pistole am Gürtel, schwarz schimmernd wie teure Schokolade, doch trotz Armbinde und Pistole konntest auch du deinen Bezug zu alledem noch nicht fassen, wusstest dich zwar als Teil der Bewegung, nur nicht genau, welcher; es fühlte sich an, als wäre die eine Hirnhälfte der anderen immerzu voraus. Das war ein wilder, heißer September, in den Gemüsegärten der Vorstädte platzten die Früchte, dass es knallte, und der aufgestaute Saft schoss in einem Strahl durch die flimmernde Hitze; du machtest einen Rundgang durch die Ruinen, betrachtetest gerührt die von den Bomben zermalmten Gebäude, all den zu nutzlosem Schutt gewordenen Luxus, die wild verstreuten Überbleibsel unklarer Arrangements: dies könnte ein Piano gewesen sein, das da eine Sofagarnitur, Küchenschränke, Büfetts – besahst es dir und spürtest die grenzenlose Möglichkeit in deiner Faust. Natürlich war Kosta an deiner Seite. Kreuz und quer zogt ihr durch das Stadtzentrum, unersättlich Anblicke der Verwüstung in euch einsaugend. Die einstige Targovska mit ihren raffiniert angeordneten Vitrinen war wie vom Erdboden gefegt; nur hie und da ein paar schartig in die Luft ragende Säulen, aufgebogene Dächer, Mauern mit Fensterlöchern wie klaffende Hungermäuler. Kosta hielt deine Hand gefasst und redete aufgewühltes Zeug: Auf dem Schutt hier, sprach er, aus diesen k-k-kaputten Häusern errichten wir zwei die Zukunft des K-k-k-ommunismus. An der nächsten Ecke verweiltet ihr vor den pittoresken Überresten einer Anwaltskanzlei. Du legtest den Arm um deinen Freund und wiederholtest dessen Worte exakt, nur ohne zu stottern.

    Kosta geriet ins Stottern, wenn ein Wort mit K anfing; kein schweres Gebrechen, das ihn in diesen Septembertagen jedoch endlos in Verlegenheit brachte, nahm es doch seinem stolzen Bekenntnis die ganze hehre Romantik: Ich bin K-k-kommunist. Bis dahin war er eifrig bemüht gewesen, Wörter, die mit dem verfluchten Buchstaben anfingen, zu umgehen; er hatte gelernt, Synonyme zu benutzen; um sie zu finden, hatte er sich eine betuliche, konzentrierte Art zu reden angewöhnt, er hörte sich an wie ein weiser alter Mann. Mit der Zeit war er nahezu perfekt darin geworden. Wir entsannen uns genau, wann er das erste Mal auf den Dreh gekommen war. Das war ewig her, noch am Gymnasium. Wie lange hatte er die Nummer geplant? Es geschah in einer großen Pause. Wir standen versammelt auf dem Schulhof in Erwartung eures Erscheinens – immer kamt ihr als Letzte: Musterschüler, ewig damit beschäftigt, Hefte zusammenzupacken und die Lehrer mit Extrafragen über Goethe und Mendeleev zu löchern, während wir schon die Treppen hinunterflogen und uns, zumindest wenn der Monat noch nicht weit fortgeschritten war, vor dem Limonadenkiosk schubsten. Da sind sie!, rief jemand – und im nächsten Moment wart ihr von uns umkreist, einer Traube tanzender, äffender Plagegeister, einem Schwarm zänkischer Mützenschirme, die wie Krähen auf euch einhackten: Kosta, sag mal Koitus! Los, Kosta sag mal Koitus! Früher während solcher Übergriffe war der Stotterer tief errötet und hatte gebockt, keinen Ton herausgebracht, sich Tritte und Backpfeifen eingehandelt, auch du an seiner Seite stecktest so manches ein; diesmal aber, als wir wieder brüllten: Kosta, sag mal Koitus!, hob er feierlich die Hand, wartete einen Moment, bis das Gebrüll sich gelegt hatte, und sprach mit Eiseskälte: »Fickt euch.« Wir standen wie erstarrt, so überrumpelt von diesem Ausgang der Tortur, dass wir vergaßen, Prügel anzubieten, zumal von der Pforte her schon der Schuldiener seinen drohenden Schatten warf. Wir haben nie wieder versucht, diesen Scherz anzubringen, uns fiel auch kein anderer mehr ein.

    Aber nun, da das Volk die Macht übernommen hatte, war das alles mit einem Schlag zunichte gemacht … Ein hinreichend präzises und verlässliches Synonym für das Wort K-k-kommunist ließ sich nicht finden.

    Emil Strezov konnte von Glück reden, dass Kosta von den Banden im Viertel so gepiesackt wurde, andernfalls hätten die beiden wohl nicht so eng zueinandergefunden, auch wenn sie sich wirklich sehr ähnelten: schwarzhaarig, dunkelhäutig, von mittlerer Größe, doch gebeugt gehend und daher kleiner und verhuschter wirkend, als sie waren. Was die Munkeleien in der Nachbarschaft anging, so war das Viertel über den Zuzügler sehr bald in allen Einzelheiten informiert. Wenn man es kurz machen will, so stammte Emil Strezov aus einem Drecknest im Iskartal, ein Stück flussabwärts; mit verschrecktem Blick und nichts als einer Garnitur grobwollener Kleider am schmächtigen Leib (noch dazu schlecht genäht, die Schuluniform kam daher wie Manna vom Himmel zupass) stand er vor Petars Tür. Der hatte im letzten Krieg Schulter an Schulter mit Emils kürzlich verstorbenem Vater gekämpft, deswegen und weil er außerdem, wie gesagt, eh nur das eine Kind hatte, willigte er ein, dem Jungen ein Dach über dem Kopf zu geben und zu helfen, in der großen Stadt auf die Füße zu kommen. In jedem anderen Haus hätte Emil Strezov vermutlich gleich in der Werkstatt übernachtet und in den wenigen Mußestunden trübselig und allein in der Ecke gesessen und nicht mal eine Schublade gehabt, in der er seine spätabends niedergeschriebenen Gedichte hätte versenken können. (Gedichte! Von Anfang an hätten wir schwören können, dass du welche schreibst; was wäre das für ein Hallo gewesen, hätten wir uns damals tatsächlich zu ihnen vorgegraben!) Aber weil Kosta, der Stotterer, keine Freunde hatte und selbst im eigenen Haus, den Seinen gegenüber furchtbar gehemmt war, fand Emil Strezov in ihm ganz unversehens ein ergebenes Publikum. Hingebungsvoll hing er an seinen Lippen, pries die Verse in höchsten Tönen und schlecht verhohlenem Entzücken, während der Verfasser, sein Zimmergenosse und Freund, beinahe Bruder, den Blick aus dem Fenster schweifen ließ. Fürs erste verfing er sich, von den simplen Reimen verschleiert, in der Enge des Hinterhofs mit der Schusterwerkstatt, schwang sich jedoch schnell darüber hinweg und hinüber zu den Flügeln des Gymnasiums, dem Kino und der Schokoladenfabrik mit ihrer weinroten Fassade. Diese Gebäude waren deshalb so gut zu sehen, weil die sie umgebenden allesamt flach und schäbig waren: Häuser, in denen ungelernte Arbeiter wohnten und Kriegsflüchtlinge, über Nacht errichtet auf herrenloser Brache. Unter ihnen war der zweigeschossige Bau des Schusters etwas wie ein Anker der Ruhe und Geborgenheit. Bai Petar war in diesem Haus geboren, sein Vater hatte es errichtet, Schuster auch er, zu jener vergessenen Zeit, da das Viertel erst ganz allmählich in die Sümpfe und Melonenfelder hineinwuchs. Gemessen am Schnitt in diesem Viertel war Petar gewiss nicht arm zu nennen, mancher von uns sah in ihm einen reichen Mann, der angeblich jeden Morgen Milch auf dem Tisch hatte, und die Frau kam an Markttagen mit einem großen Batzen Fleisch nach Hause. In der Tat verdiente der Schuster nicht schlecht. Denn so armselig dieses Jučbunar auch war, Schuhe brauchte doch ein jeder, und sie gingen kaputt und mussten repariert werden, gingen wieder kaputt und wurden wieder repariert, bis sie am Abend eines langen Tages unrettbar hinüber waren, und auch dann mochten noch einige Flicken daraus zu gewinnen sein, die für ein neues Paar Schuhe zu gebrauchen waren. Aber Bai Petar hatte in seiner Werkstatt auch mehrere Leisten für Herrenschuhe auf Lager, und tatsächlich kamen auch dafür pro Saison immer ein paar Bestellungen herein. Ach, wie gern gaben wir der Versuchung nach, wenn einmal Geld vorhanden war! Wir kauften uns Herrenschuhe bei Bai Petar, kauften uns neue Schildmützen, kauften Hosenträger und Fliege, und so aufgegockelt stolzierten wir über die Pirotska, rotteten uns zusammen und gingen ins Kino, liefen, gespannt wie Flitzebogen, vor dem Mädchengymnasium auf und ab – erst auf dem linken, dann auf dem rechten Trottoir – und ließen den Mädchen in der Konditorei etwas springen; manche von Petars Schuhen, wenn sie ihre Schuldigkeit getan hatten, konnte man dann in Konjovica, jenseits der Brücke, an den Füßen der dortigen Gaunerchen wiedersehen.

    Und dann der große Knall. Auf einmal klapperten Bai Petars Herrenschuhe wie Kavalleristenstiefel über das Pflaster der Pirotska. Die Neuigkeit, dass das Volk die Macht übernommen hatte, ging wie ein Lauffeuer durch Jučbunar. Das Volk – was nicht noch! Und das mit dem Lauffeuer sagt sich so dahin. Dieses Lauffeuer muss ja doch Hand und Fuß gehabt haben, irgendeine Form und Methode. Später ist es Mode geworden, Erinnerungen daran einzusammeln. Wie war das bei dir, Genosse: Weißt du noch, wie die frohe Kunde am Morgen des Neunten September zu dir gelangte? Ach, das war so: Ich war zu Hause, auf einmal kommen die lieben Kinderchen rein und sagen: Papa, das Volk hat die Macht übernommen! Kam eben im Radioapparat. Es war ja Samstag, deswegen war ich zu Hause. Stimmt, Samstag, da haben wir ausgeschlafen. Aber ist es denn die Möglichkeit? Ausgerechnet Emil Strezov soll die Sache verschlafen haben, in süßen Träumen versunken, bis die Sonne ihn sengte und weckte – während solch wichtige, schwerwiegende Ereignisse in der Stadt vor sich gingen? Er, der immer früh aufstand, verschläft den wichtigsten Morgen! Kann das wahr sein? Emil Strezov, es ist noch zu früh, um zu spekulieren, was du dereinst in deinen Memoiren schreiben wirst, wenn du noch tiefer gebeugt und mit Schuppen wie Blütenstaub auf den wattierten Schultern deines Sakkos durch die Gegend läufst – und dass wir es überhaupt lesen werden, können wir nicht versprechen. Was soll uns ein noch so solide gebundener Band, wenn wir Anlass zur Vermutung haben, dass du uns darin einen Bären aufbindest. Das ist nämlich, mit Verlaub, bei all deinen Verdiensten, eine deiner Schwächen: dass du nicht gut lügen kannst. Wozu müssen wir das lesen? Sollte einmal eine Zeit kommen, in der du die Wahrheit laut sagen kannst, dann bestimmt nur, weil sie keinen mehr interessiert, alles wird von allen vergessen sein und Jučbunar gar nicht mehr da. Falls sich aber doch einer hinsetzt in der Absicht, ehrlich über diese Dinge zu schreiben, dann müsste sein Bericht widersprüchlich und bruchstückhaft sein, er müsste mit vielerlei Stimmen reden, die unterschiedliche Sachen sagen und ganz unterschiedlich klingen: zwei gleiche Stimmen, das gibt es doch nicht, auch nicht zwei gleiche Augenblicke – schon gar nicht in jenen Tagen, da es uns des Öfteren so schien, als finge jeden Morgen ein neues Leben an und wir müssten erst einmal wieder laufen, essen und sprechen lernen. Um Ehrlichkeit zu wahren, müsste dieser Bericht sich drehen und winden, mal ein Stück die staubigen Straßen entlangflitzen, mal quer über die Dächer springen, so wie wir es taten, und manchmal müsste er sich auch gegen sich selber wenden. Und selbst wenn dieser Bericht mit einhundert Paar Augen begabt wäre – ein akrobatisches Spinnenmonster, Ausgeburt antiker Alpträume – vieles bliebe trotzdem Vermutung, woher soll man wissen, wie es wirklich gewesen ist. Einiges haben wir mit eigenen Augen gesehen, Anderes wissen wir vom Hörensagen und wie in der Nachbarschaft darüber gemunkelt wurde, wieder Anderes ließ sich denken, vermuten, ausmalen – nenn es, wie du willst. Wie auch immer, eines Morgens wachst du auf, und die Welt ist eine andere, jemand hat sie über Nacht verändert, vor deiner Nase. Und du willst dabei sein: natürlich, warum nicht, du bist unser Mann, wir finden eine Rolle für dich. Zum Vergessen ist dann später die Zeit … Doch gräbt man sich zurück in den Kern der Vergangenheit, stößt man immer auf irgendeinen Anfang. Ein plötzlicher Sprung aus dem Bett und jemandes empörte Stimme, die dir ins Ohr fährt: Das Volk hat die Macht übernommen, und du pennst!

    So dass alles unerbittlich auf jenen Septembermorgen zurückgeht. Du hattest verschlafen wie niemals zuvor, und draußen schien die Sonne. Knallte gegen dein Fenster. Sonnenstrahlen prasselten wie Steinchen gegen dein Fenster … Hallo?! Der junge Mann setzte sich auf und brauchte eine Weile, ehe er begriff, dass es wirklich Steinchen waren. Auf

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