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Masaryk: Novelle
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eBook190 Seiten2 Stunden

Masaryk: Novelle

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Über dieses E-Book

Laura und Pavel. Zwei Welten prallen aufeinander, von der Grenze getrennt zwischen Tschechien und Deutschland. Verbindungsglied ist die gemeinsame Geschichte der Vorfahren. Kann eine solche Beziehung gelingen, wenn die Wurzeln zwar passen, aber die heutigen Lebenseinstellungen nicht?

Liebe ist an sich schon kompliziert, doch diese spielt vor dem Hintergrund der tschechischen Geschichte und kreist immer wieder um die charismatische Person des Republikgründers Masaryk, von vielen als Heiliger verehrt, in der heutigen Betrachtungsweise wohl zu Recht auch als Machtpolitiker in der Kritik. So entfaltet sich das Panorama der tschechischen Gründungsgeschichte, während im Vordergrund Laura und Pavel um ihre Beziehung kreisen – bis zur Katastrophe.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum15. Apr. 2020
ISBN9783905896503
Masaryk: Novelle

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    Buchvorschau

    Masaryk - Adolf Jens Koemeda

    Konstanz

    1

    Waidhaus – Rozvadov

    Dass es in der Sankt Katharina-Kirche an der bayerischen Grenze keinen Pfarrer mehr gibt, das wusste ich. Dass dieses Gotteshaus schon seit Jahren geschlossen ist, war mir aber unbekannt.

    Anfang November. Ein regnerischer Tag, kalt. Die vermooste Treppe hinauf zum Eingang ist rutschig, ich bewege mich langsam und halte mich mit einer Hand an der Mauer, die man seinerzeit hellgrau verputzt hat; jetzt besteht sie aus Sandstein und schmutzigen, braunroten Ziegeln. Hinaufzugehen und an der Klinke zu rütteln ist sinnlos, das weiß ich, und ich tue es trotzdem. Auch die Kirchentür aus Eiche ist vermoost und verkratzt, mit Glasscherben vermutlich.

    Seit wann ist das so, frage ich mich. Ist der Pfarrer nach Bory gezogen oder lebt er nicht mehr? Ich gehe die glitschige Treppe wieder hinunter und halte Ausschau nach einem Menschen. Halb zwei. Niemand auf der Straße. Ich läute an dem Haus, das der Kirche am nächsten steht – gut in Schuss, wahrscheinlich frisch renoviert; ein Sandhaufen liegt neben dem Tor zum Hof. Der Summton der elektrischen Glocke ist schwach zu hören. Niemand öffnet.

    Weiter also, zur deutschen Grenze, nach Rozvadov. Die nächste Ortschaft – Waidhaus – ist bereits auf deutschem Gebiet.

    Ein oder zwei Mal bin ich früher durch diese beiden Dörfer gefahren, das ist schon lange her. Die improvisierten Läden der vietnamesischen Kleinhändler sieht man in Rozvadov nach wie vor, allerdings weniger zahlreich als vorher. Ebenfalls Saunas, Nachtlokale, viele Massagesalons mit exotisch klingenden Angeboten gibt es noch. Unzählige Neonlichter brennen zu meinem Erstaunen auch jetzt, am frühen Nachmittag.

    Die meisten Souvenir- und Bekleidungsläden der Vietnamesen standen etwa dreihundert Meter nach dem Dorfende. Seinerzeit wollte ich dort ein paar Flaschen Becherovka für Freunde und einen Pullover für die Mutter besorgen. Drei oder vier Flaschen von dem böhmischen Kräuterlikör kaufte ich damals, einen Pullover nicht; zu grell war die Ware und das Gewebe vorwiegend aus Kunststoff.

    Ah! Eine Überraschung: Die lange Reihe von Läden – Bretterwände, Wellblech als Dach – gibt es da noch, sie sind aber leer, zum größten Teil auch zerstört. Balken, Bretter, Plastikstühle und alte Tische liegen überall herum.

    Weiter! Bergab in Richtung Bayern. Bis zur Grenze.

    Jetzt wird mir allerdings bewusst, dass ich in einigen Sekunden das tschechische Gebiet verlassen werde; zuerst Waidhaus, dann auf die Autobahn. Nein, so schnell will ich der alten Heimat meiner Eltern nicht adieu sagen, ich kehre um. Ja, ich bin neugierig, was aus dem ehemaligen asiatischen «Einkaufszentrum Rozvadov» geworden ist.

    Nach ein paar hundert Metern biege ich rechts ab, fahre auf den Parkplatz und steige aus. Was ich während der Fahrt nicht sehen konnte: Hinter der der Hauptstraße zugewandten Reihe von verlassenen Buden steht eine zweite Kolonne von Verkaufsständen, oder das, was von ihnen übriggeblieben ist – rostige Stangen, Pavatex-Platten, ein paar Balken und kaputte Fenster.

    Darf ich weitergehen?, frage ich mich. Da liegen sogar viele Karton-Schachteln mit noch unbenützten Weingläsern. Ich fühle mich gehemmt, bin aber neugierig.

    Am Ende der zweiten zerstörten Ladenreihe stehen einige Verkaufsbuden, die gut erhalten aussehen. Die Ausstellungsflächen sind zwar verdreckt, jedoch intakt, sogar die Tür zu einem kleinen Lagerraum wurde nicht abmontiert und geklaut, sie ist offen. Ich zögere, gucke mich um. Niemand beobachtet mich. Weiter also!

    Ein fürchterlicher Gestank ist meine erste Wahrnehmung. Nach Fäulnis riecht es hier, nach Verwesung, säuerlich und scharf. Ich schaue in die dunkle Kammer; nirgends ein totes Tier oder faulende Felle von geschlachteten Kaninchen.

    Chaos. Auf den Regalen, auf dem grobgezimmerten Tisch, auf dem Boden. Überall liegen verstaubte Damen– und Herrenbekleidung, fast neu aussehende Schuhe, aber auch Waffen aus Plastik und bunte Gartenzwerge … eben alles, was einem anspruchslosen Touristen wegen der tiefen Preise gefallen würde. Und Eines ist mir nun klar: Hier ist man in größter Eile abgereist. Ja, nur Chaos. Ich kann mich nicht erinnern, je etwas Vergleichbares gesehen zu haben, nicht in diesem Ausmaß.

    Da ich schon vom Chaos rede: Wenn ich von Vojtyn, der kleinen Ortschaft nicht weit von Nejdek, zurückfahre, spüre ich Chaos auch in mir; nicht jedes Mal, aber oft. Es ist schon fast ein Jahr her, seit ich von diesem Dorf sprach, Herr Durbach, und ich glaube, damals nicht besonders ausführlich.

    Es ist vielleicht nicht falsch, wenn ich jetzt etwas wiederhole – möglicherweise kommen ein paar neue Erinnerungen dazu.

    2

    Vojtyn – das Grenzland

    Meine Vorfahren waren – sind – Deutsche. Waren sie aber Faschisten? Nein, wie wahrscheinlich die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung im Sudetenland vor neununddreißig. Sie fühlten sich auch wie halbe Tschechen, wie meine Großmutter und Mutter, die nicht fehlerfrei, jedoch fließend das Tschechische beherrschten; die beiden brachten mir später – neben meinen Spielkameraden auf der Straße – diese slawische Sprache bei.

    Mit ihrem direkten Nachbarn in Vojtyn verstanden sich meine Großeltern gut, die Frauen trafen sich fast an jedem Nachmittag. Frau Prokůpek sprach kein Tschechisch, obwohl ihr Mann ein halber Tscheche war. Im Juni fünfundvierzig gehörten sie deshalb zu den ersten deutschen Familien, die Vojtyn verlassen mussten; Gott sei Dank keine Schläge, keine Erniedrigungen, keine Schüsse.

    Meine Vorfahren lebten vor und im Krieg in einem friedlichen Dorf. Die spätere Vertreibung, «Odsun» auf Tschechisch, soll in den meisten Ortschaften ganz anders verlaufen sein. Als meine Großeltern von den schrecklichen Ereignissen in Pohrlitz und Landskron hörten, wollten sie es fast nicht glauben.

    Ich weiß nicht, Herr Durbach, ob diese Ausführlichkeit notwendig ist, vielleicht hat man sich in Ihrem Institut meinen schriftlichen Bericht etwas straffer vorgestellt. Die damals abgeschobene deutsche Familie Prokůpek spielte natürlich in meinem Lebenslauf – im Unterschied zu meiner Mutter – keine große Rolle.

    Eines möchte ich allerdings betonen: Die Großeltern und Eltern, obwohl nach den Dokumenten Deutsche, waren gut integriert. Was die Beherrschung der tschechischen Sprache betrifft ohnehin und sonst auch. Mein Großvater arbeitete als Agronom in der Bezirksstadt Nejdek. Die Großeltern hofften, dass er zu der Gruppe der «Unentbehrlichen» gehören würde, kein «Odsun» also.

    Dem war aber nicht so. Warum die Entscheidung, die Familie müsse doch abgeschoben werden, ungewöhnlich spät kam, erfuhren meine Eltern nie. Die Überlegung – nur eine Vermutung, weiter nichts – lief darauf hinaus, dass jemand von den zugewanderten Tschechen ein Auge auf die Stelle des Großvaters geworfen hatte, denn sein Posten wurde auffallend schnell wiederbesetzt.

    Der Befehl lautete: Spätestens Ende September fünfundvierzig müsse das Haus geräumt und sauber geputzt zur Übergabe bereitstehen, denn ab diesem Zeitpunkt kommen zur Besichtigung die ersten tschechischen Familien. Ende Oktober werde die Schlüsselübergabe stattfinden, entweder an die neuen Besitzer oder, falls sich keine Interessenten melden würden, an die Gemeindeverwaltung.

    Christa, meine Mutter, weinte, meine liebe Großmutter Annemarie auch, und ebenfalls die damals fünfundsechzigjährige Urgroßmutter Berta, die am meisten. Der Großvater tobte, einmal betrank er sich, dann schwieg er einige Tage hartnäckig.

    Das Haus sollte aber – das war die gute Nachricht – nicht abgerissen oder enteignet werden, die Großeltern durften es verkaufen; sogar das Recht, einen Käufer selbst zu finden, wurde ihnen überraschenderweise eingeräumt.

    Die Großmutter Annemarie, die schnellste und aktivste von allen, packte sofort an. Sie annoncierte in den Karlsbader und Prager Zeitungen. Es meldeten sich einige tschechische Familien, leider gaben die meisten bald auf. Zuletzt fanden nur zwei Hausbesichtigungen statt. Zum Vertragsabschluss kam es mit Blažeks aus Žatec.

    Mit dieser Familie hatten meine Großeltern ausgesprochen Glück. Eine schnelle Einigung über den Preis des Hauses und auch keine Terminunklarheiten – so hat mir meine Mutter die damalige Situation beschrieben. Sie bekommt heute noch feuchte Augen, wenn sie von den alten Blažeks spricht.

    Völlig unerwartete Sorgen brachte allerdings Berta, die Großmutter meiner Mama; sie weigerte sich nämlich auszuziehen. Nein, nein, nicht jetzt, vielleicht später, war ihre Entscheidung; und bald kam hinzu – wenn man mich dazu zwingt, bringe ich mich um.

    Bleiben also.

    Seitens der Behörden gab es erstaunlicherweise keine Einwände – Berta sprach tschechisch fast gleich gut wie deutsch – und Blažeks machten zur Überraschung und Freude meiner Großeltern mit, eine Ausnahmeregelung aus der Masaryk-Zeit machte es möglich. Berta bekam bei Blažeks ein eigenes Zimmer mit Waschbecken im zweiten Stock. Ohne Einverständnis und Mitwirken dieser tschechischen Familie wäre da eine äußerst schwierige Situation entstanden, das war den Großeltern klar. Als man zuhause von den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gesprochen hatte, hörte ich zum ersten Mal den Namen Tomáš Garrigue Masaryk.

    Berta, achtzehnhundertachtzig geboren, lebte bei Blažeks über ein Jahr. Inzwischen etablierten sich die Großeltern in Bayern ganz gut; der Großvater fand zum Beispiel bald eine Stelle im Büro eines landwirtschaftlichen Betriebes.

    Und auch da hatten sie, das wiederholte meine Großmutter oft, viel Glück: Etwa ein Jahr nach ihrer Abschiebung konnten sie Berta bei Blažeks abholen – ein wichtiges Kapitel im Leben unserer Familie; Berta leistete jetzt keinen Widerstand. Die Sehnsucht nach der eigenen Sippe war bei ihr offensichtlich größer als die Angst vor dem Verlassen des vertrauten Dorfes, dem Umzug und der fremden Umgebung.

    Die Pflichten meines Berufslebens und die Ansprüche der Familie haben in der letzten Woche vorübergehend zugenommen, volle drei Tage kam ich nicht zum Schreiben. Heute galt es also, mich zuerst ein bisschen einzulesen, um den Faden zu finden. Manches musste ich wieder streichen; ja, die Unklarheit, welche Angaben Sie benötigen, Herr Durbach, ist momentan noch groß.

    Fast zu groß. Sie ist so ausgeprägt, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt weiterberichten will.

    Ehrlich gesagt, in diesem Augenblick eher nicht. Ich müsste in erster Linie doch wissen, ob es notwendig ist und wer das eigentlich braucht. Wissen Sie es? Vielleicht. Aber Sie sind vermutlich der Einzige. Kurz: Mir fehlen die Lust und die richtige Motivation … zu irgendetwas. Wobei, genauer betrachtet, die fehlen mir in letzter Zeit ganz allgemein. Meine Mutter, neunundsechzig, ein fitter und noch sehr aktiver Mensch, meint schon seit langem – da bist du, Laura, nicht die Einzige, so fühlen heutzutage viele Leute … ich glaube, uns geht’s zu gut.

    Ja, ja, ich meckere. Das Meckern hilft nicht immer, aber oft, ich bin halt ein ausgesprochener Meckertyp. Diesen Zug von mir stellte man bereits in der Schule fest; nicht so schlimm, ich nahm es unaufgeregt und sachlich zur Kenntnis.

    Ich habe bereits die zweite Pause eingeschaltet und mache nun doch weiter; nicht aber aus Überzeugung, dass es besonders wichtig wäre, was ich da schreibe. Im Augenblick ist mir für das Weiterberichten bloß der eine Grund bewusst: Ich habe es versprochen und ich erreiche jetzt niemanden, der mich von diesem Versprechen befreien könnte.

    Meine Familie lebte also in Bayern. Zuerst eine Wohnung, dann ein gemietetes Reihenhaus mit Garten-Sitzplatz, nach etwa zehn Jahren der Kauf eines gemütlichen Einfamilienhauses. Dieser Lebensabschnitt soll allerdings nicht im Vordergrund meines Schreibens stehen, deshalb zurück nach Vojtyn und zu Blažeks.

    Die Dankbarkeit spielte bei meinen Großeltern eine große Rolle. Aber bitte, nicht nur! Sympathie, ähnliche Interessen – offensichtlich stimmte bei den beiden Familien auch die Chemie. Am Anfang konnte meine Großmutter ohne Probleme über die Grenze reisen, danach gab es einen unschönen Papierkrieg und viele Erschwernisse.

    Mama war bei unserer Abschiebung nach Deutschland etwa fünf Jahre alt, und sie verstand die Bindung ihrer Mutter an das ehemalige Elternhaus in Vojtyn nicht; sie war zeitweise regelrecht eifersüchtig und lehnte es ab, in das ehemalige Sudetenland mitzureisen. Erst viel später sah sie manches anders, mit Milena, der Tochter der Familie Blažek, fand sogar ein lauer Briefwechsel statt.

    Aber: Das Reisen über die Grenze war nach etwa zwei weiteren Jahren nicht mehr möglich. Klar, es gab ab und zu auch Ausnahmen. Meine Mutter – im Unterschied zu ihrer Mama – akzeptierte es ohne Tränen.

    Zum ersten Mal fuhr ich mit Mama nach Vojtyn im Jahre neunzig, knapp ein halbes Jahr nach dem Mauerfall. Ich freute mich.

    Mamm hatte die erste Reise über die ehemalige Stacheldrahtgrenze schon drei Monate vorher alleine unternommen, und ihre Berichte darüber weckten meine Neugier; nicht übertrieben stark, und doch spürbar. Das Tal und das Haus kannte ich bereits von den vielen Schwarzweißfotos und ich wusste auch, dass Milena – Frau Blažek Junior, neuerdings Frau Mandlíková – einen Sohn hatte. Pavel.

    Jetzt muss ich selbst kurz rechnen, Herr Durbach. Wie alt war ich damals? Siebzehn, nicht ganz. Aber bereits zwei oder drei Mal heftig verliebt gewesen, zugegeben, nie sehr lange.

    Schöne Tage! Ich war froh, die viel besungene alte Heimat meiner Mutter endlich mit eigenen Augen zu sehen. Kleine Bäche,

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