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Von all den unglaublichen Dingen
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eBook180 Seiten2 Stunden

Von all den unglaublichen Dingen

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Über dieses E-Book

Wenn ein Kind geboren wird, entsteht ein ganz neues Universum, aber auch Angst und Bangen und Unsicherheit. Ähnlich wie in dem preisgekrönten Prosaband "In was wir uns verlieben" verbindet Roman Simić seine neuen Erzählungen mit einem roten Faden, Dreh- und Angelpunkt ist das Elternsein. Der Maßstab seiner Helden sind die Schritte ihrer Kinder, ihre Mütter und Väter, ihre Zerwürfnisse, ihre Verliebtheiten - wir kennen das alles selbst nur allzu gut. Und wie immer geht es Simić um die Sache des Herzens. Der Mensch steht im Zentrum, aber anders als in seinem Erstling geht es nicht nur um zwei Verliebte, sondern um drei Menschen: Denn die Welt verändert sich, wenn ein Kind kommt.
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum27. Feb. 2014
ISBN9783863910617
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    Buchvorschau

    Von all den unglaublichen Dingen - Roman Simić

    Die Vögel des Diomedes

    1. Eine Sache des Herzens

    Das Mädchen, das jahrelang bei uns putzte, sagte einmal, ohne zu wissen, dass ich mithörte, am Telefon: »Das ist alles eine Sache des Herzens und nur des Herzens«, und brach in Tränen aus; wenigstens hörte es sich da, wo ich mich versteckt hielt, so an. Sosehr ich mich bemühte, seitdem konnte ich sie nicht mehr anders sehen. In allem, was sie tat, ob sie Staub wischte oder das Klo putzte, ich suchte die Sache, das Herz, und vielleicht ist sie genau darum gegangen; ohne Abschied und Erklärung, jede weitere Beschäftigung mit einer einzigen trockenen, unpersönlichen SMS ablehnend.

    Die Frau, die sich auf die Anzeige meldete, war alleinerziehende Mutter; eine Bosnierin mit großen Händen, korpulent, kein bisschen zimperlich und deswegen eine absolut gründliche Putzfrau. Sie brauchte Geld und wollte die Stelle unbedingt bekommen, arbeitete daher schon beim ersten Mal wortlos und schnell, kein Einrichtungsteil, das nicht herumgeschoben, hochgehoben und von allen Seiten mit Lappen oder Wischmopp traktiert wurde. Wollte sie sich das Zimmer vornehmen, in das ich mich jeweils geflüchtet hatte, blieb sie im Türrahmen stehen, aber in ihren Augen standen weder Ungeduld noch Nervosität noch Verachtung. Am Ende saß ich im Kinderzimmer und las, als sie, einen großen gelben Umschlag auf der Hüfte reibend, hereinkam.

    »Das war hinter dem Bücherregal«, sagte sie. »Wollen Sie reinschauen oder soll ich es wegwerfen?«

    Es lag Jahre zurück, aber ich habe das Schriftstück und die unansehnliche Hülle sofort wiedererkannt. Beitrag zur Archäologie der Zukunft stand statt des Absenders darauf, aber ich wusste ja, von wem es war.

    »Lassen Sie es einfach liegen«, sagte ich, und das waren die einzigen Worte, die ich an sie richtete, bis sie fertig war, die Putzmittel wegräumte, die Schuhe anzog und die gelben Gummihandschuhe im Rucksack verstaute.

    »Also. Sie melden sich dann.«

    Ich erinnere mich gut: Es war Frühling, Ende April, vier Jahre, nachdem Šprajcer mir die CD und eine Postkarte aus Palagruža geschickt hatte, seinen Beitrag zu meiner Archäologie der Zukunft. Die Wohnung glänzte, der Umschlag lag auf dem Bett, und ich sah, am Fenster hinter dem zugezogenen Vorhang stehend, der schwerfälligen, stämmigen Frau nach, reizlos, ganz anders als das nervöse, blasse Mädchen, das uns jahrelang die Wohnung geputzt hatte. Ihre Arbeitsweise, jede Bewegung zeugte von Selbstbeherrschung und Gleichmut, aber ich konnte das Herz nicht vergessen: Was hätten wir voneinander erfahren können, und sei es ungewollt.

    »Die Stelle hat leider jemand anders bekommen«, tippte ich und drückte auf Senden.

    Ich sah, wie sie stehen blieb, das Handy herausholte, las und mit gemächlichen, gleichmäßigen Schritten weiterging, ohne sich umzudrehen, als sei sie für eine ernstere, mehrere Nummern größere Welt geschaffen.

    Wirklich, es war eine Sache des Herzens und nur des Herzens.

    Sie bog um die Ecke, und ich sah sie nicht mehr.

    2. Postkarte

    Zwischen 2005 und 2007 schrieb mir Radovan Šprajcer Karten, als würde er quer durch Kroatien Hickelkasten spielen: aus Rijeka, Sisak, Vinkovci und Lički Osik, die Orte wurden mit jeder Ansichtskarte kleiner, bis es sie und ihn und den Boden, von dem er sich hätte melden können, nicht mehr gab. Folgerichtig kam die letzte, reichlich zerknickt, aus Palagruža. Eine rund zweihundert Meter breite und etwas über einen Kilometer lange Insel mit Leuchtturm, weit abgelegen und unbewohnt, ein Fetzen Land mitten in der Adria – nicht mal Šprajcer hätte das noch übertreffen können.

    Wir kannten uns fünfzehn Jahre, aber um ihn zu identifizieren, wären seine Mitteilungen an mich ebenso geeignet wie ich oder sein Personalausweis oder sein Gebiss. Beitrag zur Archäologie der Zukunft statt Absender, Der Mann, der dir vermutlich das Leben rettete statt Unterschrift – alles Wichtige über ihn stand darin, nur eins musste man berücksichtigen: Bei Šprajcer wusste man nie, woran man war, vom Geburtsdatum bis zum Poststempel konnte alles gefälscht sein.

    Nicht mal diese Postkarte war, was sie zu sein schien.

    Zunächst mal war es eine gewöhnliche, ausgebleichte Luftaufnahme der Insel, nachlässig auf ein einmal gefaltetes Stück Pappe geklebt, auf dem »Palagruža« stand. Die Buchstaben waren groß und unordentlich, der Karton mit Klebstoff bekleckert, und im Zentrum von allem, in der improvisierten Papphülle, steckte eine von Fettfingern speckige CD – eine von Šprajcers typischen Müll-Babuschkas.

    Aber es ging nicht nur darum, das Original zu umgehen. Bei Šprajcer hatte man schlicht den Eindruck, die Spur des Betrugs könne in alle Richtungen führen: Von der CD, auf der nur Geräusche waren (unverständliche Stimmen und Lachen, dotzende Bälle, der rollende Kies am Strand, Wellen und Windböen), bis zu Palagruža, das in Šprajcers Version an einen bis zu den Ohren untergetauchten, steinernen Hund erinnerte, während die Internetseiten der Reisebüros und sämtliche Fotografien, die ich später sah, etwas anderes zeigen: einen Grünen Leguan oder einen Komodowaran, ein versinkendes Inselreptil, ein Geschöpf, das nicht nur nichts von einem Hund hat, sondern nicht einmal einem Warmblüter ähnelt!

    Dann wieder denke ich an unsere letzte Begegnung im muffigen Treppenhaus eines dreistöckigen Wohnhauses in der Oberstadt und dass der große Unbekannte die Bühne normalerweise nicht verweint, triefnasig und im billigen schwarzen Anzug mit Schuppen auf dem Revers betritt. Hat mir die Optik einen Streich gespielt, hatte ich die falsche Brille auf, dass ich Šprajcer so sah? War die Entfernung das eigentliche Problem? Aus nächster Nähe wirkte er normal, war jedenfalls nicht ungewöhnlicher als die meisten meiner Bekannten, doch mit wachsendem Abstand wurde Šprajcer immer ätzender.

    Wäre es nach ihm gegangen, wüsste ich jedenfalls nicht, wie es ihm ab Herbst 2004 ergangen war. Über Anstellungen und Wohnorte, Präsens und Futur erging er sich in Andeutungen, und da ich seine Briefe nicht beantwortete, konnte ich auch nicht mehr verlangen. Ganz ehrlich: Es interessierte mich damals nicht. Die Worte, mit denen wir uns getrennt haben, die Abscheu, die sie weckten, der Überdruss waren zu frisch, als dass ich ihn vermisst hätte. Und das Gefühl, dass er mich durchschaute, konnte ich ohnehin nicht abschütteln.

    Ich meine: Šprajcer verließ Zagreb, und das wenige, was ich von ihm wusste, passt auf jeden x-Beliebigen, sogar auf ihn. Von ein paar gemeinsamen Bekannten hörte ich, dass er sich scheiden ließ und wieder heiratete, er soll irgendwo als Lehrer, Informatiker und Fachverkäufer für technische Waren gearbeitet haben, und nichts davon ist ausgeschlossen. Einer behauptete gar felsenfest, er hätte ein Foto von ihm neben der Meldung gesehen, in Slawonien (oder Istrien?) habe der erste Privatdetektiv ein Büro eröffnet, aber als ich es im Internet nachprüfen wollte, fand ich keine Spur davon. Was angesichts des Gegenstands der Recherche nichts heißen muss.

    Trotzdem, ich habe mich beim Anblick von Šprajcers steinernem Hund mit dem Käppchen auf dem Leuchtturm nicht ein einziges Mal im Lauf all der Jahre gefragt, ob der Fetzen Land am Ende nur eine Irreführung mehr, das letzte seiner billigen Wunder ist. Hat er mich mit seinem Palagruža wieder einmal vorgeführt, weil ich zu unbedarft, nicht gewitzt genug oder dumm genug war, oder überschätze ich ihn und die Postkarte ist tatsächlich eine Postkarte und die Geräusche sind nichts als Geräusche und die Evolution des Inseltiers wegen des Aufnahmewinkels oder Photoshop oder ähnlicher Tricks vorangeschritten?

    Materielle Beweise werden überschätzt, das stammt ausgerechnet von der Kubanerin, Šprajcers früherer Frau, einer Archäologin: Alles ist eine Frage der Interpretation.

    Sobald reale Lebenszeichen ausblieben, konnte man Šprajcer nur noch interpretieren. Der steinerne Hund muss, wenn ich es mir recht überlege, von der Pinnwand auf den Tisch gefallen sein, ist von da in eine Kladde oder einen Schnellhefter geraten, von da hinter die Bücherstapel gerutscht und in der staubtrockenen Papierflut untergegangen. Die CD war noch kurzlebiger. Jakov schlief mit ihrer Hilfe mehrmals ein, was der fünfzehnminütigen Aufnahme einer Nacht voller Zikaden eine Zeit lang einen Platz im Regal sicherte – Šprajcers erste und einzige Hit-Single; aber sobald sich das Wunder nicht wiederholte, verlor sich ihre

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