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Kristallhart - Das verborgene Land: Die Antarktischen Mysterien
Kristallhart - Das verborgene Land: Die Antarktischen Mysterien
Kristallhart - Das verborgene Land: Die Antarktischen Mysterien
eBook440 Seiten5 Stunden

Kristallhart - Das verborgene Land: Die Antarktischen Mysterien

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Über dieses E-Book

Im Jahr 2044 arbeitet eine Gruppe Jugendlicher für mehrere Monate auf der Neumayer-Forschungsstation in der Antarktis. Sie alle besitzen ein außergewöhnliches Immunsystem, das sie Pandemie und Weltkrieg überleben ließ. Die Ereignisse überschlagen sich, als Anna, eine von ihnen, mit dem Transport eines gefährlichen Mikroorganismus beauftragt und in eine internationale Verschwörung verwickelt wird. Als die Sechszehnjährige mit ihrem Roboter Pumpernickel auf der höchsten Stelle des Kontinents strandet, ahnt sie nicht, was sich unter der dicken Eisschicht verbirgt. Dass man ihr dicht auf den Versen ist und dass nicht alle ihre Verfolger Gutes im Sinne führen, ahnt Anna noch nicht...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Jan. 2024
ISBN9783828038127
Kristallhart - Das verborgene Land: Die Antarktischen Mysterien

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    Buchvorschau

    Kristallhart - Das verborgene Land - Joachim Rürup

    Kurzinhalt

    Plötzlich finden sich Anna und ihr Roboter Pumpernickel mitten in der Antarktis wieder. Etwas Fremdartiges hat sie, kraft eines Portalsprungs, in unmittelbarer Nähe von Dom Argus stranden lassen, der höchsten Stelle des geheimnisvollen Kontinents. Eine viele Millionen Jahre alte und bis zu vier Kilometer dicke Eisschicht bedeckt ein verborgenes Land.

    Im Jahr 2044 arbeitet eine Gruppe Jugendlicher für mehrere Monate auf der Neumayer-Forschungsstation. Sie alle besitzen ein außergewöhnliches Immunsystem, das sie Pandemie und Weltkrieg überleben ließ. Anna, eine von ihnen, wird in eine internationale Verschwörung verwickelt und gerät in tödliche Gefahr. Mitten in einer faszinierenden wie lebensfeindlichen Umgebung, die gleichzeitig ein Zentrum wissenschaftlicher Forschung ist, wird sie zum Spielball einer unbekannten Macht.

    Anna ahnt nicht, dass sie einen gefährlichen Mikroorganismus transportieren soll, den Sazikov, der Leiter der russischen Wostok-Station, die sich oberhalb des gleichnamigen subglazialen Sees befindet, für ihre Tante Karen bestimmt hat. Gleichzeitig sucht in politischer Mission Liu Wei, ein hoher Parteifunktionär aus Peking, die verlassene chinesische Forschungsstation Kunlun am Dom A auf und wird, mit amerikanischer Unterstützung, zum Südpol geflogen. Der Copilot Bill, der von schrecklichen Alpträumen heimgesucht wird, versucht die junge Frau zu warnen. Aber da ist es schon zu spät. IceCube, der gigantische im gefrorenen Boden installierte Neutrinodetektor, hat ein deutliches Signal aufgezeichnet und sogleich erscheinen am Himmel die unheimlichen Doppellinsen wieder, die mit ihren waghalsigen Flugmanövern über der Antarktis ihr Unwesen treiben.

    Besorgt um den Verbleib der Bioprobe versucht Karen, die Situation zu retten. Zusammen mit dem ukrainischstämmigen Geophysiker Mowtschan bieten sie den Amerikanern ihre Hilfe an.

    Eine Gruppe von Wissenschaftlern macht sich zum McMurdo-Sund auf, als man dort rätselhafte Aktivitäten im Vulkan Mt. Erebus registriert. Im legendären Gallaghers Pub lernen sie Down kennen, die südkoreanische Spezialistin für künstliche Intelligenz, die ihnen wertvolle Unterstützung anbietet. Unter Einsatz eines hochentwickelten Androiden, der vom koreanischen Unternehmen Ingan Industries in der antarktischen Jang-Bogo-Zentrale entwickelt wurde, gelangen die Wissenschaftler in ein weitverzweigtes unterirdisches Höhlensystem.

    Hier erwarten sie eine überraschende Erkenntnis und das kybernetische Wesen Yeqr22, das viele Millionen Jahre lang im ewigen Eis existierte und für das Überleben der menschlichen Zivilisation von enormer Bedeutung ist.

    TEIL I

    ANTARKTISCHE MYSTERIEN

    1. KAPITEL

    Millionen Jahre Eis

    „Es ist Sommer!"

    Anna war sich bewusst, dass diese Aussage der Wahrheit entsprach. Doch sie wehrte sich emotional dagegen. Für sie hatte Sommer bisher eine völlig andere Bedeutung gehabt. Er war heiß und man sehnte sich nach einer Erfrischung. Glücklich war der, der im Meer baden konnte und nicht drohte zu ertrinken, weil er in Minutenschnelle im Wasser erfror. Zwar strahlte heute die Sonne hoch am Firmament, aber nach Sommer fühlte es sich nun wirklich nicht an, ganz im Gegenteil. Da konnte man zufrieden sein, wenn man nicht von einem Schneesturm erstickt oder von einem Orkan hinweggefegt wurde.

    Anna tat ein paar Schritte. Immer wenn sie sich bewegte, erklang ein schrilles, kreischendes Geräusch. Der harsche Untergrund sorgte für eine ungewollte akustische Begleitung, die für ihre Fortbewegungsart charakteristisch war. Millionen kleiner Eiskristalle schienen unter ihren Boots zu protestieren, um nicht zerquetscht zu werden. Jeder Fußgänger musste sich daran gewöhnen, wenn er unterwegs war. So hörte sich die Antarktis an. Hier draußen war es fast unheimlich klar, als hätte der Frost allen Schmutz der Welt beseitigt. Erwartungsvoll atmete sie tief ein und bereute es im gleichen Moment schon wieder. Die eisige Luft gelangte in ihre Lungen und löste einen quälenden Schmerz aus, weil ihre Bronchien sich heftig zusammenzogen. Es erschien ihr, als würde sie augenblicklich erstarren müssen, so tief drang die Kälte in sie ein. Hier konnte man plötzlich aufhören zu existieren, immer das gleiche Bild vor Augen, bis in alle Ewigkeit.

    Die junge Frau versuchte im Gegenlicht der blendenden Sonne eine Gestalt auf dem Eis zu erkennen, aber ihre Lider blinzelten unaufhörlich und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie versuchte die Schutzbrille aufzusetzen, was mit den dicken Handschuhen kaum möglich war. Prompt fielen sie ihr auf den harschen Boden, so dass sie lautstark fluchte. Peinlich berührt schaute sie sich um und wollte feststellen, wer sie vielleicht bei ihrem Missgeschick beobachtet hatte. Doch da war eigentlich niemand außer ihrem kleinen, dürren Begleiter, der nicht zählte, weil er kein menschliches Lebewesen war.

    Anna befand sich im Queen-Maud-Land, einem Teil der Antarktis, der im Norden des rätselhaften Kontinents lag. Die Norweger hatten dieses Gebiet nach ihrer Königin benannt. War die Monarchin jemals hier gewesen?

    Wohl kaum. Denn vor Ort war es lebensfeindlich und nicht selten stürzte jemand in der vereisten Landschaft und brach sich die Knochen. Das hielten dauerhaft nur Pinguine und Robben aus. Ihre Kolonien konnte man an der Schelfeisgrenze beobachten, einen halben Tagesausflug mit dem Motorschlitten entfernt von dem Ort, an dem sie nun zuhause war.

    Man gelangte recht einfach zu diesen komischen Tieren, die überall auf der Welt Sympathie genossen, weil sie lustige Bewegungen vollzogen und trotzdem in der Lage waren, den ungeheuren Naturgewalten zu trotzen. Tourismus war hier verboten, denn Menschen waren unwissend und gleichsam rücksichtslos, was den dauerhaften Umgang mit einem noch intakten Ökosystem betraf. Sie besaßen kein Gefühl für elementare Fehler, die sie unzweifelhaft begehen würden, wenn man sie unbeaufsichtigt machen ließe, was sie wollten. Die Antarktis sollte möglichst sauber bleiben und so lebten hier nur etwa 5000 Wissenschaftler, abgesehen von dem einen oder anderen militärischen Stützpunkt, der in der Regel vom jeweiligen Land, das ihn errichtet hatte, geleugnet wurde.

    Anna gehörte also offiziell zu einer wissenschaftlichen Expedition und so galt es als Ausnahme, an dem steinigen Strand spazieren gehen zu dürfen, der von den besagten komischen Tieren bevölkert war. Ungeheure Massen hielten sich hier auf und einige Individuen verfolgten die wenigen menschlichen Fußgänger, um sie ebenfalls zu studieren. Man konnte sogar Kontakt zu ihnen aufnehmen, falls man dafür den entsprechenden Gleichmut entwickelt hatte und akzeptierte, dass man hier Gast und in der Minderheit war.

    Doch so mancher Küstenabschnitt fiel steil ins Meer ab und eine unüberwindliche weiße Mauer aus Eis verbot die sichere Landung mit einem Boot. Hier schoben sich breite Gletscherströme ins Meer, kaum wahrnehmbar, so langsam und doch stetig verlief dieser Vorgang. Als spektakulär konnte man den Geburtsort der frostigen Giganten bezeichnen, die sich von hier aus auf eine lange Reise machten. Riesige Trümmer stürzten ins Meer und ließen den Aufenthalt an der Schelfeiskante lebensgefährlich werden. Begleitet von einer bedrohlichen Geräuschkulisse wagten sich nur verwegene Dokumentarfilmer in die Nähe dieser Gletscherzungen, die unaufhörlich kalbten und doch nie versiegten.

    Es war faszinierend, wie groß die Eisberge wirklich waren. Sie trieben vor der Küste, die ihre Topographie jahreszeitlich änderte, dahin und begrüßten die Menschen, die nicht eingeflogen wurden, sondern eine zumeist wilde Seereise hinter sich gebracht hatten. Eine seltsame Melancholie überkam den Betrachter beim Anblick der gefrorenen Berge, jeder in seiner Gestalt einzigartig. Handelte es sich doch um einen eisigen Gruß an die Welt und gleichzeitig, aufgrund ihrer Vergänglichkeit, um eine kaum zu übersehende Warnung. Mit der Entdeckung des Südpols 1911 durch den berühmten Amundsen war nicht nur Geschichte geschrieben worden, sondern die Welt hatte auch erfahren, wie gefährlich groß und fürchterlich einsam es in der Antarktis war. Gab es hier trotzdem etwas zu holen?

    Vor mehr als einem Jahrhundert hatten in den 1920er Jahren mehrere nach dem Transportschiff Norvegia benannte und vom Schiffseigner Lars Christensen finanzierte Expeditionen stattgefunden. Sie dienten zunächst der Erkundung aussichtsreicher Walfanggründe, aber später auch der Inbesitznahme neuer Gebiete auf dem geheimnisvollen Kontinent. Man war an Rohstoffen interessiert und wollte sich die potentiellen Schürfrechte sichern.

    Anfang der 1930er Jahre wurde eine Operation unter Führung von Hjalmer Riiser Larsen gestartet, die als Aufgabe hatte, das neue antarktische Land mit dem Flugzeug zu erkunden und zu kartieren. Als Pilot Amundsens bekannt und zu den Männern an Bord der Norge gehörend, jenes berühmten Luftschiffs, dem nachweislich der erste Nordpolüberflug gelungen war, war er der richtige Mann für diese Aufgabe. Doch erst am 14. Januar 1939 annektierte Norwegen offiziell das bezeichnete Gebiet in der Antarktis. Gerade noch rechtzeitig, denn fünf Tage später erreichte die deutsche Expedition der Schwabenland Queen-Maud-Land. Unter der Leitung von Alfred Ritscher wurde in den folgenden Wochen mit den Flugbooten, mittels Dampfkatapult vom Schiff aus gestartet, eine riesige Fläche von 600 000 Quadratkilometern durch 11 000 detaillierte Luftaufnahmen dokumentiert und später „Neuschwabenland" getauft.

    Folglich beanspruchte das Deutsche Reich diesen Teil der Antarktis, erkannte Norwegens Rechte über das Gebiet nicht an und verlor schließlich alles wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Trotzdem blieb das Recht der Namensgebung und so verewigte sich Ritscher mit einem nach ihm benannten Hochplateau.

    Viele Jahrzehnte später, Anfang der 1980er Jahre, beschloss die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, eine ständige Forschungsstation zu errichten, deren Nachfolger immer weiter ausgebaut wurden. Man hatte gelernt, im ewigen Eis zu leben und selbst die düsteren Monate mental zu überstehen, zu denen am 70. südlichen Breitengrad neun Wochen Nacht, also völlige Lichtlosigkeit, zählten. Auch andere Staaten ließen sich im Queen-Maud-Land nieder und so entstanden 1957/58 anlässlich des Internationalen Geophysikalischen Jahres neben Japans Showa und der belgischen Station namens König Baudouin im Laufe der Zeit Norwegens Troll- und Tor-Station, die südafrikanische SANAE-, die russische Novalazarevskaya-, Schwedens Wasa-, Finnlands Aboa- und Indiens Maitri-Station.

    Die deutsche Neumayer IV lag unweit der Atka-Bucht auf dem Ekström-Schelfeis, nah der Küste. Sie driftete, wie schon ihre Vorgänger I bis III, innerhalb eines Jahres ungefähr 150 Meter Richtung Meer und würde so irgendwann auch nicht mehr bewohnbar sein. Von Neumayer IV rund 220 Kilometer südöstlich entfernt befand sich die SANAE-Station Südafrikas, erbaut auf einem sogenannten Nunatak, einem isolierten, über der Oberfläche eines Gletschers aufragenden Berg, dem Vesleskarvet, an der Westseite des Ahlmann-Ridge.

    Die Troll-Station der Norweger war fast 400 Kilometer entfernt und auf einem schneefreien Hang aus massivem Fels, dem Jutulsessen, errichtet, der zu den Gjelsvik-Bergen gehörte, einer 50 Kilometer langen Berggruppe westlich des Mühlig-Hofmann-Gebirges in Fimbulheim. Manchmal wurde Anna ganz schwindlig von den merkwürdigen Namen, die auf die norwegischen, aber auch auf die deutschen Entdecker zurückzuführen waren. So nahm Fimbulheim Bezug auf den Fimbulwinter aus der nordischen Mythologie, der besonders lang und kalt war und eines der vier apokalyptischen Ereignisse vor Ragnarök, dem Untergang der Götter, darstellte.

    Die vielen deutschen Bezeichnungen auf der Landkarte, wie das Wohlthatmassiv, kamen ihr hingegen komisch vor. Irgendwie passten sie nicht zusammen. Die zweite norwegische Einrichtung, die Tor-Station im Mühlig-Hofmann-Gebirge, lag am Svarthamaren in einem eisfreien Bereich des Berges, der bei Ornithologen für seine weltweit größte Brutkolonie von Antarktissturmvögeln bekannt war. Queen-Maud-Land war mächtig. Viel weiter im Osten, über 700 Kilometer von Neumayer IV entfernt, befanden sich indische und russische Forschungseinrichtungen. Wie ein UFO aus einem Science-Fiction-Roman, einer silbrig schimmernden Untertasse gleich, lag die belgische Princes-Elisabeth-Station an einer Felskante. Sie wurde während des Internationalen Polarjahres 2007–2008 gebaut und 2009 in Betrieb genommen.

    Auf einem Granitrücken in der Nähe des Nunatak Utsteinen errichtet, war sie die erste emissionsfreie Basis, die mit Solar- und Windenergie betrieben wurde. Konstante Windgeschwindigkeiten von 125 km/h und Böen von über 300 km/h erforderten robuste Windanlagen. Insgesamt neun wurden verbaut. Wie die 380 Quadratmeter Solarmodule erzeugten sie um die 50 kWh. Das war beeindruckend und zukunftsweisend.

    Heute war dieses 35 Jahre alte Gebäude fast ein Museum und Bestandteil einer viel größeren Einrichtung. Beim Orvinfjella, zwischen Mühlig-Hofmann-Gebirge im Westen und Wohlthatmassiv im Osten gelegen, handelte es sich um eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende, bis zu 35 Kilometer lange Gruppe von Gebirgszügen. Im Westen waren das die Filchner- und Drygalskiberge, im Osten das Kurze- und das Conradgebirge. Die Fotos und Videoaufnahmen, die Expeditionen im Fundus der geographischen Fortbildungskurse hinterlassen hatten, waren absolut fantastisch. Beeindruckend ragten Türme, Pfeiler und Zacken aus dem Eispanzer.

    Als wären es die gigantischen Zähne eines riesigen versteinerten prähistorischen Raubtiers, durchbohrten die Gipfel eines untergegangenen Reichs das kilometerdicke Inlandeis. Blassrötlich bis rotbraun waren die imposanten Felsformationen, die man so schnell nicht wieder vergaß und die in Anna eine unerklärliche Sehnsucht entstehen ließen, einen Drang, sich dorthin aufzumachen, um eine längst verlassene Welt zu erkunden. Doch es hatte noch keine Gelegenheit dazu gegeben. Anna hatte sich eingehend mit den geographischen Verhältnissen auseinandergesetzt, mehrere kurze Ausflüge mit dem Motorschlitten gemacht und den Wissenschaftlern bei ihrer Arbeit assistiert.

    Die Kälte hatte sie ständig geplagt, doch sie war standhaft geblieben und dafür jedes Mal mit einem kleinen Abenteuer belohnt worden. In eine reale Gefahr war sie bisher nie geraten. Doch diesmal war alles anders, nämlich unerträglich langweilig. Von Neumayer IV rund 550 Kilometer in südöstlicher Richtung entfernt lag die zweite deutsche Station, Kohnen, fast genau auf dem Schnittpunkt des Nullmeridians von Greenwich mit dem 75. südlichen Breitengrad. Sie war zu Beginn des neuen Jahrtausends als logistische Basis für Eiskernbohrungen im Rahmen des European Ice Core Drilling Projects (EPICA) sowie für Flugzugexpeditionen zum Inlandeisplateau errichtet worden.

    Kohnen war jetzt im Sommer mit einer kleinen Gruppe besetzt und wurde mit einem Konvoi versorgt, der bei akzeptablen Witterungsverhältnissen gut eine Woche für den Transport benötigte. Entlang dieser Versorgungslinie waren sie auch heute unterwegs und hatten immerhin bald 70 Kilometer zurückgelegt, was schon viel war. Aber das markante Ritscherhochland, das westlich des Gletschers Jutulstraumen lag, hatten sie noch lange nicht erreicht.

    Ihre Karte zeigte im Westen die Kraulberge, im Südwesten die Heimefrontfjella, im Süden Kirwanveggen und im zentralen Teil den Ahlmannrücken und das Borgmassiv. Das Ritscherhochland erstreckte sich bis zum Kirwanveggen, der Kirwanwand, einer markanten Geländestufe von 140 Kilometern Länge, gekennzeichnet durch Klippen und Felsvorsprünge, die von Gletschern und steilen Eishängen durchsetzt waren. Ein unwegsames Gebiet.

    Anna kannte diese geologischen Formationen nur aus dem Bildmaterial diverser Schulungsprogramme. In der Regel waren Expeditionen dorthin für die Jugendlichen verboten. Bisher war noch niemand von ihnen auch nur bis zum nördlichen Ende des Ritscherhochlandes gelangt, wo sich eine auffällige Geländestufe, die Neumayersteilwand, befand. Es war auch heute nicht ihr Ziel, sondern sie mussten irgendwo weit vorher eine im frostigen Eis schwer zu findende Messstation erreichen.

    „Natürlich, es ist Sommer! Die Kriterien für die jahreszeitliche Einteilung sind die astronomischen Verhältnisse, die vorliegen, und nicht allein die Temperaturen!"

    Die künstliche Stimme war klar und deutlich zu vernehmen, obwohl ein schnarrendes Nebengeräusch sie begleitete. Ein defekter von insgesamt drei aktiven Lautsprechern war daran schuld. Die Reparatur wurde seit geraumer Zeit wegen fehlender Ersatzteile ausgesetzt. Wäre es die Hydraulik gewesen, die hätte erneuert werden müssen, hätte man umgehend reagiert. Doch so war man von dem Nachschub aus Chile oder Argentinien abhängig; eine Versorgungsroute, die nicht immer verlässlich war.

    Jenseits des Polarkreises wurde es niemals „Sommer". Heute herrschten angenehme Temperaturn um –12 °C. Eine Ausnahme, die durchschnittlichen Werte waren um die –20 °C oder tiefer. Es war eigentlich immer kalt und man gewöhnte sich nicht daran. Anna konnte ein Lied davon singen, denn sie hatte sich in der Eiswüste notgedrungen einleben müssen.

    Sie schaute sich um. Jetzt, nachdem sie die Sicherheitsbrille trug, hatte sie einen klaren, tränenfreien Blick. Die merkwürdige Gestalt, die sie vorher nur unscharf gesehen hatte, war ein Roboter, der sie begleitete. Er war glücklicherweise darauf programmiert, ihr das Leben in der Ödnis zu erleichtern. Trotzdem ging er ihr manchmal gehörig auf die Nerven.

    Sie sah ihn missbilligend an und schüttelte mit dem Kopf. Wie er da wieder vor ihr stand, ein metallisches Rieseninsekt in einem gelbschwarzen Panzer, übersät mit Schrammen und Beulen. Er trug deutliche Spuren von Beschädigungen, die auf sein Alter hindeuteten. Es mussten jetzt bald zwei Dutzend Jahre sein. Er hatte leichte Schwierigkeiten, auf dem eisigen Untergrund zu gehen. Einer seiner vier Füße rutschte immer wieder weg. Schnee allein stellte für seine Bewegungsalgorithmen kein Problem dar, es sei denn, er war zu tief. Doch Eis war noch immer eine Herausforderung. Ein Blick in die Geschichte genügte, um festzustellen, dass es eine Generation von Wissenschaftlern erfordert hatte, die notwendige Software für eine effektive Fortbewegung zu entwickeln.

    Fast 30 Jahre hatte es in Anspruch genommen, einen selbstständig agierenden Roboter zu konstruieren, der problemlos Treppen steigen und sich im unwegsamen Gelände sicher und schnell fortbewegen konnte. Immer wieder hatte man vielversprechende Kandidaten einer strengen Auswahl und weiteren harten Prüfungen unterworfen, die sie fast zerstört hätten. Kostspielig waren die Versuche verlaufen und vielfacher Schaden war entstanden, aus dem man schlussendlich klug geworden war.

    „Die Antarktis ist Scheiße!"

    Der Trotz sprach aus ihrer Stimme. Mit ihren 16 Jahren stand sie an der Schwelle zum Erwachsenwerden, war kein Kind mehr und hatte als Jugendliche viele schreckliche Dinge erlebt. Die Welt, so wie sie sie einst gekannt hatte, war Vergangenheit, ihre Familie hatte sie verloren.

    Oft war es ihr erschienen, als würde es keine Zukunft geben. Verlassene Städte, ausgebrannte Wohnhäuser waren nur einige Beispiele einer teilweise kollabierten Zivilisation, die im allerletzten Moment noch Rettung erfahren hatte. Viele nahezu ausweglose Situationen hatte sie durchgemacht, war für Wochen allein in einer sterbenden Welt gewesen. Trotzdem hatte sie nie aufgegeben und zählte damit zu den Überlebenden.

    „Ich kann keine tierischen Exkremente erkennen, lediglich das für die Antarktis typische Landschaftsbild und bekannte geologische Strukturen. Wir befinden uns exakt auf den gewünschten Koordinaten."

    „Pumpernickel, sei ruhig!"

    Anna hatte ihrem „Begleiter, wie man ihn auf der Akademie bezeichnet hatte, einen eigenwilligen Namen verliehen. Sie wusste nicht einmal, wie diese besondere Brotsorte wirklich schmeckte. Sie hatte Pumpernickel nie probiert. Trotzdem empfand sie den Namen als irgendwie geeignet. Auf den ersten Blick sah ihr kleiner Freund abstoßend aus, war unattraktiv wie das merkwürdige, harte Nahrungsmittel aus ihrer Heimat. Pumpernickel war ein hässliches Insekt mit sechs Extremitäten, vier dürren Beinen und zwei am Kopf lokalisierten kürzeren Greifarmen. Roboter seiner Baureihe sahen nicht gerade gefällig aus, hatten sogar etwas Gefährliches an sich, was durchaus beabsichtigt war. Sie wurden zunächst für diverse Arbeiten unter schwierigen Bedingungen eingesetzt, waren im industriellen Umfeld beim Bau und der Wartung von Industrieanlagen geschätzt, doch begleiteten ihre Herren auch als eine Art Bodyguard oder Schutzengel und waren als Baureihe G, für Guardian, bekannt. Die vierbeinige Alternative hingegen war vielerorts erfolgreicher, allen voran „Spot, einer der ersten Roboter, die Geschichte geschrieben hatten.

    Spot stammte aus der Roboterschmiede Boston Dynamics, deren Videos im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts das gesamte Internetpublikum begeisterten und regelmäßig viral gingen. Seine beeindruckenden Bewegungsabläufe ließen ihn sogar zum Tänzer avancieren, so gut waren seine Koordinationsfähigkeiten und so elegant sah es aus, wenn er loslegte. Spot war aber auch deshalb so beliebt, weil er an einen großen, treuen Hund erinnerte.

    Ursprünglich hatte Boston Dynamics für das amerikanische Militär Entwicklungsarbeit geleistet. Schließlich wurde es zwar von Google erworben, sein Management entwickelte aber nie ein wirtschaftlich lukratives Konzept, so dass man es einige Zeit darauf zunächst an ein japanisches Unternehmen und schließlich an den koreanischen Industrieriesen Hyundai veräußerte, der auch eine geeignete Aufgabe für Spot finden sollte.

    Der in Großproduktion gegangene mechanische Menschenfreund blieb seinem Hundecharme zwar treu, wurde aber zum „Inspektor" befördert. So konnte er als Sicherheitsarbeitskraft in gefährlichen Bereichen von Industrieanlagen eingesetzt werden. Spot hatte viele Konkurrenten, allen voran freundlich aussehende Äquivalente aus Japan und den schwarzen Robodog aus China. Entscheidend für seinen Erfolg waren Herstellung und Verkauf, die immer am Ende einer technischen Neuentwicklung stehen mussten, damit diese sich rentierte.

    Die ersten Modelle der insektenartigen Roboter waren schon zu Beginn bis Mitte der 20er Jahre des zweiten Jahrtausends in einer Zeit zunehmender internationaler Konflikte entwickelt und noch vor der großen Pandemie Ende der 30er Jahre gebaut worden. Die Welt war damals von Monat zu Monat bedrohlicher geworden. Nach jahrzehntelanger Entspannung wurde wieder aufgerüstet und zu den Waffen gegriffen, nachdem man lange mit deren Einsatz nur gedroht hatte. Diese Jahre wurden historisch als Phase des Niedergangs betrachtet, gekennzeichnet durch die großasiatische Zentralmacht China und ihren Verbündeten, die Russische Konföderation. Sie waren in einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf gegen den Westen, gebildet aus USA, Kanada und den europäischen Staaten, getreten. Der erbitterte Kampf um die knappen Ressourcen des blauen Planten war offen entbrannt und Krieg bedeutete primär Annexion neuer Gebiete mit Waffengewalt. Darüber hinaus drohte die Erde zu vermüllen, so dass ihre Bevölkerung in immer größer werdender Armut lebte. Es war aber auch die Zeit bedeutender Visionäre, wie des charismatischen Elon Musk. Sie leiteten gewaltige technische Revolutionen ein, wie die Raumfahrt mit wiederverwendbaren Raketen, die Besiedelung von Mond und Mars, erste Habitate oder die Erfindung leistungsstarker Akkumulatoren für Elektrofahrzeuge. Die Mensch-Maschine-Interface-Revolution mit Bioimplantaten erzielte gewaltige Fortschritte; nicht zu vergessen die Konstruktion humanoider Roboter.

    Mit einer effektiven KI ausgestattet hatten sie stabil zu laufen gelernt und erzielten ebenfalls gewaltige Fortschritte. Gleichzeitig wurden Roboter konstruiert, die an große vierbeinige Lastentiere erinnerten. Bald existierten auch insektenartigen Einheiten, die flink und flexibel einsetzbar waren. Sie alle waren bedrohlich und erzeugten Angst im Auge des Betrachters. Der Schritt zu militärischen Kampfeinheiten war dann nicht weit und deren Einsatz logisch zwingend. So zogen im Herbst 2036, nur wenige Monate, bevor die schreckliche Pandemie zu wüten begann, erste Robotersoldaten in die umkämpften Kriegsgebiete, immun gegen die biologischen Waffen, die bereits zum Einsatz gekommen waren. Zum Entsetzen aller brach dann eine der schrecklichsten und tödlichsten Krankheiten der Menschheitsgeschichte aus, deren zielgerichtete Mutation sich schließlich zu einer weltweiten Geißel entwickeln sollte. Ihr gegenüber wirkten die saisonal immer wieder auftretenden Covidvirus-Epidemien regelrecht harmlos. Die Rote Pest vernichtete fast 20 % der Weltbevölkerung und stoppte schließlich sogar das Machtstreben der ausgezehrten militärischen Machtblöcke.

    Der Große Friede von Moskau, der am 23. Mai 2039 besiegelt wurde, beendete den Dritten Weltkrieg. Die Infrastruktur vieler Landstriche war komplett zerstört worden. Viele verlassene oder ausgestorbene Orte befanden sich nun auf der Landkarte, in denen nicht nur die Viren gewütet hatten. Im Jahr darauf gelang es dann endlich einem internationalen Konsortium aus vereinten Forschungslaboratorien, ein neuartiges Medikament zu entwickeln, mit dem jede Virusinfektion beherrschbar wurde, so dass man langfristig den Sieg über die Rote Pest davontrug.

    Man hatte diese Bezeichnung gewählt, weil der Erreger zu starken Blutungen führte. Eigentlich hätte Anna glücklich sein müssen. Sie hatte die Pandemie überlebt, war nicht wie ihre Eltern, Freunde und Verwandten verstorben, sondern zählte zu den 0,005 % der Menschheit, die eine natürliche Immunität besaßen. Das hatte sie für die Forschung wichtig werden lassen, denn sie verfügte über ein ausgesprochen effektives Immunsystem, weitaus leistungsfähiger als das normaler Menschen. Heranwachsende mit ihren genetischen Vorteilen waren vom Deutschen Bund gesucht und kaserniert worden. Man wollte sich eingehend mit ihnen beschäftigen. Da es sich bei den Jugendlichen ausnahmslos um Waisen handelte und sie nicht volljährig waren, fanden sie so zwangsweise eine neue Heimat unter behördlicher Kontrolle.

    Sie lebten fortan in der Nähe wissenschaftlicher Einrichtungen, hauptsächlich aus dem medizinischen und biochemischen Bereich, und standen für Untersuchungen mehr oder minder freiwillig zur Verfügung. Außerdem hatte Annas Tante, eine einflussreiche Wissenschaftsmanagerin, ihre Finger mit im Spiel, als man Anna eine einmalige Gelegenheit bot, die sie kaum hätte ausschlagen können: die Antarktis und der Einsatz in der Spitzenforschung. Das bedeutete eine sichere Zukunft für Anna, falls es ihr gelang, sich auf der Neumayer-Station zu profilieren, auf der sie nun zumindest vorübergehend leben musste. Zusammen mit elf Leidensgenossen war sie reichlich unbequem untergebracht worden und hatte viel zu lernen.

    Doch wo war sie gerade in diesem Moment?

    Sie sah sich verzweifelt um. Am Ende der Welt oder besser „in der Mitte von Nirgendwo" im Jahr 2044. Und es war Sommer. Helle Nächte, unendliche Tage, eisige Kälte. Pumpernickel nervte.

    Die Rote Pest hatte die erwachsene Bevölkerung erschreckend stark dezimiert, so dass der nachfolgenden Generation die geeigneten Familienbande fehlten, die ihnen Schutz boten und sie auf Schritt und Tritt durchs Leben begleiten konnten. Auf der anderen Seite waren die technologischen Fortschritte in der Konstruktion von Robotern im letzten Jahrzehnt bemerkenswert erfolgreich gewesen. Ihre Anzahl auf Erden war durch die beschleunigte industrielle Produktion überproportional stark vorangeschritten, so dass ab 2034 sogar die Herstellung menschenähnlicher und aufrecht gehender sogenannter Androiden für den Einsatz im zivilen Sektor möglich geworden war. Es existierten bereits weltweit über 8000 Individuen, mehr als ein Fünftel waren Kriegsveteranen, für die man nun neue Aufgaben zu finden gezwungen war.

    Hinzu kamen nahezu hunderttausend mehr oder minder einsatzfähige autarke Einheiten, die vielen Spots und Pumpernickels dieser Welt, die nicht mehr in Industrieanlagen herumkrabbeln konnten, will diese zerstört waren. Die meisten Roboter halfen bei der Urbanisierung und dem Wiederaufbau, wurden zur Räumung von Trümmern und zur Sicherung gefährlicher Gebiete eingesetzt, denn ganz ohne radioaktive Verseuchung war der Krieg nicht verlaufen.

    Es verblieben aber immer noch weltweit gut zwanzigtausend teilweise herrenlose Maschinen, die man umprogrammierte und mit einer hinreichenden KI versorgte, so dass sie wieder Bodyguard-Funktionen erfüllen konnten. Doch auch diese große Masse konnte die fehlenden Erwachsenen nicht ersetzen, weil es bezogen auf die Waisen immer noch viel zu wenige Beschützer gab und diese viel zu kostspielig waren. Trotzdem hatte man aufgrund großzügiger Spenden und staatlicher Unterstützung einige der Androiden für die Betreuung von Vollwaisen, insbesondere als Koordinatoren für den Betrieb der Sammel- und Schulungszentren, hergestellt, die sich auch der jungen Erwachsenen annahmen, deren Immunsystem so überaus interessant war.

    Anna war an der Akademie, wie man die ATWH, die Akademie für Technik- und Wissenschaftslehre in Hamburg, kurz bezeichnete, dreien von ihnen begegnet, bevor man sie in Richtung Antarktis verschifft hatte. Diese Androiden waren mit einer revolutionären künstlichen Intelligenz ausgestattet worden, so dass sie eigenständig denken und situationsbedingt handeln konnten.

    Einer von ihnen, der als Lehrer eingesetzt wurde, hatte sie zwangsweise auf den siebten Kontinent begleitet. ACSOI 25 (Artificial Completely Self-Organized Individual No. 25) war ihnen eine große Hilfe in vielen Lebensfragen und die Jugendlichen akzeptierten ihn sogar als ihren Mentor. ACSOI 25 lebte jetzt mit den Gestrandeten in der Neumayer-Station zusammen, die man wieder voll in Betrieb genommen und als spartanisches Wohnheim für Heranwachsende ausgebaut hatte. Daneben existierte vor allen Dingen der naturwissenschaftliche Betrieb, der auch während der Pandemie nie ganz eingestellt worden war. Mit anderen Worten, Forschung und Lehre waren hier eine neue Symbiose eingegangen.

    „Ich möchte gern wissen, was wir an diesem Ort wirklich zu suchen haben!"

    Pumpernickel ging mit Hilfe seiner spinnenartigen Beine ein Stück vor und zurück, was im Auge des Betrachters so wirkte, als wäre der Roboter um eine Antwort verlegen. Doch tatsächlich verschaffte sich seine KI nur etwas Zeit für gezielte Überlegungen. Er konnte zwar nicht so schnell denken wie ein Android, war aber immer noch fix genug, dass er seine Aufgaben zum Schutz der Jugendlichen erfolgreich wahrnehmen konnte.

    „Hier befindet sich irgendwo die Messeinrichtung, deren Daten wir auszulesen haben!"

    Die Antarktika besaß eine Fläche von etwa 14 Millionen Quadratkilometern und war fast vollständig von einem Eispanzer bedeckt, der an der dicksten Stelle nahezu fünf Kilometer maß und ein Eisvolumen besaß, das etwa neunmal so groß war wie das des grönländischen Eisschilds. Aufgrund der weltweiten Erwärmung war sein Abschmelzen in der Lage, den Meeresspiegel über 50 Meter ansteigen zu lassen, was eine schreckliche Bedrohung für die Menschheit darstellte. Gemittelte Daten von Satellitenbeobachtungen aus 25 Jahren lieferten erschreckende Zahlen von bis zu 4000 Tonnen pro Sekunde an geschmolzenem Eis. Diese riesigen Mengen Wassers nahmen beständig zu und betrugen in den 20er Jahren bereits kaum vorstellbare 7000 Tonnen pro Sekunde. Doch es wurde immer dramatischer. Ein massives Problem, das in den fast hundert Forschungs- und Messstationen akribisch untersucht wurde. Einrichtungen dieser Art waren über den gesamten Kontinent verteilt, den man in zwei große Regionen teilte: West- und Ostantarktika.

    Geographisch wurden beide durch das Transantarktische Gebirge getrennt. Bis zu 350 Kilometer lange Talsenken lagen im Süden der Weddell-Ross-Gletscherscheide. Der Westen besaß eine zerklüftete und in mehrere Halbinseln gegliederte Küstenlandschaft.

    Sein Klima war vom Meer geprägt, weshalb die Temperaturen nicht so niedrig wie im Osten fielen, was im Winter zu extremen Werten von unter –80 °C führte. Neben Pinguinen und Robben waren lediglich Wissenschaftler ständige Bewohner. Nun hatte die Akademie eine Gruppe Jugendlicher hierher verfrachtet, die die einsamen Geister bei ihrer wichtigen Arbeit unterstützen sollten. So hieß es jedenfalls offiziell. Man konnte annehmen, dass es schönere Orte für sie hätte geben können, doch die menschliche Zivilisation hatte stark gelitten und gerade die globalen Zentren mit ihren ehemals dichtbevölkerten Gebieten waren vom Krieg gezeichnet, vielfach bombardiert, verfallen und teilweise verwahrlost. Sie konnten von den spärlich gesäten Sicherheitskräften nur notgedrungen unter Kontrolle gehalten werden. Mit anderen Worten, es waren erbärmliche Zeiten. So waren die USA in drei Teilbereiche gegliedert, die nahezu unabhängig voneinander verwaltet wurden.

    Grob gesagt gab es den industriell starken Nordwesten und Norden, der sich bis Washington am Pazifik entlang der kanadischen Grenze erstreckte, den Mittleren Westen mit den pazifischen Staaten einschließlich Kalifornien, Arizona und New Mexico sowie den Süden und Südwesten von North Carolina bis Oklahoma und Texas. Sie alle bildeten eine gewisse Balance, die sich auch in der Bundesregierung in Washington D. C. widerspiegelte, die kein einzelnes Staatsoberhaupt mehr kannte.

    Die drei einzelnen Sektoren wählten eine Art Präsidenten-Triumvirat und lagen wirtschaftlich hinter dem autokratisch regierten Russland und dem kommunistischen China, gefolgt vom Vereinten Korea, dem kaiserlichen Japan und dem arabisch-mohammedanischen Konglomerat, zurück. Australien und Neuseeland hatten eine ozeanische Union gebildet, die daran arbeitete, Teile Südostasiens und seiner Handelszentren, wie Singapur und Malaysia, einzugliedern.

    Eine europäische Union existierte nur noch auf dem Papier. Frankreich und England waren wirtschaftlich geschwächt. Der Deutsche Bund betrachtete sich als legitimer Nachfolger der ehemaligen Republik und bestand jetzt aus vier lokalen Regierungen. Sie zu einer gemeinsamen politischen Haltung zu bewegen, war schwierig. Multinationale Strukturen waren größtenteils zerfallen, so auch ehemalige riesige Wirtschaftsunternehmen und Banken. Die Handvoll, die verblieben waren, besaßen hingegen fast uneingeschränkte politische Macht.

    Zu ihnen zählte Ingan (인간) Industries, ursprünglich ein amerikanisch-südkoreanisches Unternehmen, im Solarenergiesektor tätig und schließlich als Know-how-Führer in der Robotik und der KI-Systementwicklung. Nach dem großen internationalen Kollaps hatte sich Ingan Industries aufgrund seines riesigen Kapitalvermögens besonders schnell am Weltmarkt erholt. Das Logo I2, das auch für intelligence increase stand, kannte jedes Kind.

    „Hier irgendwo muss die technische Einrichtung liegen." Pumpernickel fuhr seine Sensoren aus und hatte plötzlich Kontakt. Keine zehn Meter von ihnen entfernt lag ihr Ziel im Eis verborgen. Die Fahne, die ursprünglich die Stelle markiert hatte, war längst verschwunden. Wind und Witterung hatten sie wahrscheinlich vernichtet. Anna hatte von ihrem Ausflug bereits die Nase voll.

    Nicht dass es ihr in der Station besser gefallen hätte, aber die Enge dort nahm sie gern in Kauf anstelle dieser deprimierenden Ödnis, die sie gerade zu durchqueren hatten. Sie hatte sich etwas Faszinierendes erhofft.

    Dabei besaß Neumayer IV keine schlechte Lage. Ausflüge an die Schelfeisgrenze waren für die Jugendlichen ein anfänglicher Spaß gewesen, ein Unternehmen, das sie ausnahmslos alle fasziniert hatte. Doch als im Zuge der Eingliederung die ersten Aufgaben verteilt wurden und sie sich nützlich machen sollten, begehrte der eine oder andere auf, hatte keine Lust mehr oder machte abfällige Bemerkungen. Die Wissenschaftler störte diese Verhaltensweise natürlich. Sie waren ein interessiertes Publikum und Anerkennung gewöhnt und mussten sich nicht einer Bande von Ignoranten gegenüber behaupten.

    „Ich rufe die Daten ab."

    Die Forscher waren erbost über ihre zusätzlichen Aufgaben der Betreuung und Ausbildung der Jugendlichen und

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