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Ring der Welten 1: Das Labyrinth der Narren
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Ring der Welten 1: Das Labyrinth der Narren
eBook277 Seiten3 Stunden

Ring der Welten 1: Das Labyrinth der Narren

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Über dieses E-Book

Das Jahr 2168 bringt wenig Hoffnung für die Menschheit. Das Masterplankalendarium zur Rettung und Umgestaltung der Welt lässt die Menschen leiden. Naila Elisar, die junge Analytikerin der ParaCybernitk-Abteilung von Subworld, beklagt den Tod ihres Leiters und Vorgesetzten Arthur Lassalle. Er trägt ein Ringimplantat in seinem Kopf, so geheimnisvoll und mysteriös, so perfekt eingearbeitet in die Strukturen seines Hirns, wie keine ihr bekannte Bewusstseinsergänzung zuvor. Lassalle gehörte einst zur Elite der "Vereinigten Central Staaten", die in diesem verdammt heißen Jahr 2168 immer noch gnadenlos die Welt beherrscht, muss Elisar erkennen. Sie will herausfinden was dahintersteckt. Und so beginnt eine Reise durch die versunkenen Träume und enttäuschten Hoffnungen einer erschöpften Zivilisation, die sich noch immer nicht gefunden hat, aber sich noch nicht aufgeben will.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Jan. 2016
ISBN9783738054750
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    Buchvorschau

    Ring der Welten 1 - Klaus D. Koepp

    Prolog

    Jahrmillionen existierte die Erde als intaktes, aber unbewusstes Paradies, auf der alles Leben nur dem Reigen der Evolution auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel unterworfen war. In einem lebendigen Universum aber musste alle Unberührtheit irgendwann einmal ein Ende finden und so nahmen vor Jahrtausenden die Pigkmegden, eine uralte, hoch entwickelte Spezies, den blauen Planeten in ihre Obhut.

    Die Pigkmegden waren, wie alle sich selbst erkennenden Wesen, auf der Suche nach dem Sinn des Universums und allen Lebens, und es war ihnen in vielen Generationen und Jahrtausenden des Suchens gelungen, die so genannte Biomatrix nachzuweisen, eine versteckte Realitätsebene hinter den Dingen, bestehend aus Myriaden Bewusstheiten, die mit größter Wahrscheinlichkeit das Leben im Universum betreuen, ordnen und erneuern. Aber warum und mit welchem Ziel?

    Die Pigkmegden hatten damals begonnen, bestimmte Aspekte der Biomatrix zu entschlüsseln. Der dritte Planet des Sonnensystems, die Erde, übernahm dabei als lebendes Laboratorium eine wichtige Aufgabe.

    Unter den Hominiden-Vorgängern des Menschen hatten sich bescheidene Kulturpraktiken herausgebildet. Die Pigkmegden nutzten diese primitive Evolutionsstufe der Erdenbewohner, um ein Langzeitexperiment zu starten. Sie veränderten an der bedeutendsten Population des entstehenden Homo sapiens die DNA und integrierten ein Ring-Modul mit einem synthetischen mGen im Erbgut, das bestimmte Charaktermutationen zuließ, um herauszufinden, wie sich dieser Eingriff, als Element der Biomatrix, im Lauf der Jahrtausende auf die kulturelle Entwicklung der Menschheit auswirkt.

    Um dieses Experiment für die Nachkommen der sich rasant entwickelnden Menschheit zu belegen, schufen sie einen verbotenen Garten mit einem jungen Weltenbaum, aus dem sich Früchte, Blumen und vieler Art Gewächse im Sinne des Rings entfalteten, um ihn der Erde und seinen Bewohnern als sinnbildlichen Schlüssel der kommenden Gesellschaft zu hinterlassen, damit es der Menschheit irgendwann einmal gelingen werde, sich vollständig selbst zu erkennen und damit das mGen als Charaktermutation zu entschlüsseln.

    Die Jahre vergingen und die Nachkommen der Pigkmegden hatten eine ringförmige Raumstation im Orbit der Erde stationiert, die über viele Zeitalter hinweg den Planeten umkreiste. Die Menschen sahen in diesem Objekt am Himmel das Sinnbild einer höheren Macht und den Wohnort der Götter, bis die Allmächtigen ihr Wallhall verlassen mussten und die Raumstation ins Meer stürzte. Von da an mischten sich die Götter unter die Menschen und herrschten über sie.

    Das Gen-Projekt der Pigkmegden aber war längst in Vergessenheit geraten. Der Garten verwilderte und der Weltenbaum wurde von der Natur vereinnahmt. Die Pflanzen zerstreuten sich über die ganze Welt.

    In den ewigen Geschichten der Menschheit aber lebte dieser einzigartige Garten weiter und wurde zu dem Mythos, der das Entstehen der Menschheit in den alten Schriften lebendig hielt. Man versuchte, den Garten und seine Heiligtümer immer wieder neu erstehen zu lassen, um die magischen Kräfte zu beleben, die man diesem vergangenen, paradiesischen Ort nachsagte. Macht, Unsterblichkeit und das Wohlwollen der Götter sollten damit verbunden sein.

    So entwickelten sich aus diesen Erzählungen die Kulturen und Religionen der Völker bis auf den heutigen Tag.

    Aus dem Origin: Das Buch der Möglichkeiten

    1. Der 23. Sektor

    Es nieselte seit Tagen schwarze, schmierige Fäden vom Himmel. Nebelschwaden hatten sich zwischen den Stahlskeletten der Hochhausgiganten festgesetzt. Ein Schleier aus Dunst und Nässe lag über der Stadt. Die Elemente der Natur nagten an den Resten der Zivilisation. Überall tropfte es und in den Trümmerschluchten faulte der Müll oder was davon noch übrig war. Flechten, Baumfarne und kleine Orchideen drängten aus dem Dunkel der Steine und überwucherten die bizarren Ruinenfelder. Efeu kroch über bemooste Betonträger. Ansammlungen von Nesselsträuchern, Ginster und seltenen Pflanzenmutationen verwandelten brachliegende Areale in biotope Verwucherungen. Die Natur hatte begonnen, verwesende Territorien zurückzuerobern in diesem heißen Jahr 2168 der alten Zeitrechnung.

    Wie aus einer eiternden Wunde ergoss sich das faulig gelbe Abwasser der Unterweltkanäle über das aufgerissene Straßenpflaster. Rattenrudel flüchteten sich auf die Gehsteige, um über die Kadaver der letzten Nacht herzufallen. Ausgebrannte Fahrzeugwracks standen als verwachsene und verwurzelte Reliefs am Straßenrand und rotteten vor sich hin. Die Ödnis der Straße, dem Verfall preisgegeben.

    Einige schiefe Hütten lehnten sich unter einem abgebrochenen Teil der Hochstraße aneinander an. Zwei schattenhafte Wesen hatten in diesen Ghetto-Verschlägen Unterschlupf gefunden. Die Körper der beiden Gestalten steckten mitsamt ihren Köpfen in Kleidungsstücken aus kompliziert miteinander verknüpften Lederresten. Ihre Gesichtsmasken, als Teil ihrer Kopfbedeckung, ließen sie wie vermenschlichte Reptilien erscheinen. Brust- und Rückenteile wurden von elegant verknoteten Riemenstücken zusammengehalten. Die Handschuhe verschmolzen mit den Ärmeln und reichten bis unter die Schulterblätter. Sie trugen Schaftstiefel, die bis zu den Knien von einer grauen Schlammschicht bedeckt waren. Durch die überdimensionalen elektronischen Halbkugelgläser ihrer Schutzbrillen behielten die beiden die Umgebung im Auge und warteten im Dunst der Straße auf kommende Ereignisse.

    Immer wenn Arthur Ed Lassalle die Augenlider schloss, zitterten ganz leicht seine Brauen. Spuren eines Ausschlags wurden sichtbar. Erst vor wenigen Stunden hatte das Blut in seinem Körper zu „kochen" begonnen. Winzige Adern waren geplatzt und die blutenden Gerinnsel hatten sich über Teile seines Körpers ausgebreitet. Das fortgeschrittene Stadium des Ausschlags und der Zustand seines Leibes bestätigten ihm, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Aber er biss die Zähne zusammen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.

    Naila Elisar, die zweite Person unter den Brückenverschlägen, ahnte nichts von Artur Lassalles akutem Todeskampf. Sie registrierte zwar Lassalles schlechte Verfassung, um dann aber gleich wieder ihre Aufmerksamkeit dem fernen Horizont der Hauptstraße zuzuwenden. Natürlich war ihr bekannt, dass die GNS-Erreger, diese Pest des 23. Sektors, überall Opfer forderten. Aber es gab keine Aussicht auf Heilung dieser Seuche.

    In der Ferne, irgendwo in den Kontrollzonen des Zwischensektors, löste sich jetzt ein Zug tosender Maschinen aus dem Dunst der Sperrbollwerke. Arthur Lassalle zählte an die zwanzig dieser gepanzerten Kolosse, die Saurocks genannt wurden, und die sich nun gemächlich, wie stählerne Saurier, über den Schutt der Straße wälzten und sich dem verfallenen Zentrum dieses verwilderten Stadtteils näherten.

    Diese kriechenden Festungen befanden sich in erbärmlichem Zustand. Die Stahlplatten der vollständig gepanzerten Räder verbanden nur noch wenige Verankerungen und jede Erschütterung ließ sie erzittern. Die meisten Gefechtstürme der Stahlgiganten hatte der Rost zerfressen. Durch die elektronische Kommandozentrale rauschte der Wind. Die Fahrzeuge hatten längst ihre Aufgabe in den Zeiten der großen Aufstände erfüllt. Jetzt präsentierten sie sich als schrottreife Monstren, die niemand mehr zu fürchten brauchte. Die Ungetüme bogen schwerfällig in den Lexus Boulevard ein und bildeten auf der Corus Plaza eine geschlossene Formation. Aus der Luft wurde der Zug von zwei fast lautlos

    dahinschwebenden unbemannten Kampfdrohnen begleitet, den „Blackdevils", wie sie von den Sektorianern respektvoll genannt wurden. Arthur Lassalle warf Naila Elisar einen kurzen Blick zu und beide zogen sich in das Dunkel der Hütte zurück.

    Die beiden erlebten diesen Aufmarsch als vertrautes Ritual. Lassalle überprüfte mit zittrigen Händen nochmals seine Ausrüstung. Die Distanzwaffen, Schockgranaten und Nebelwerfer befanden sich alle an den richtigen Stellen am Körper, um im Ernstfall griffbereit zu sein. Elisar prüfte routinemäßig ihre Sonden und schloss das Metallgitter unter ihrem Schutzanzug. Auf der Corus Plaza hatten inzwischen die Wächter der Saurocks in ihren martialischen Kampfanzügen und den eindrucksvollen Paradewaffen im Anschlag ein Karree gebildet. Auf Befehl des Kommandanten wurden die Schotts heruntergelassen und eine Horde von verwahrlosten Gestalten taumelte über die Rampen der Fahrzeuge. Misslungene Kreaturen aus den Laborkammern von Scientropoli. Menschliche Mutationen mit abnormen Auswüchsen, verdrahtete Primaten mit verformten Schädeln und zitternden oder vollständig amputierten Gliedmaßen, aschfahle, doppelköpfige Chimären mit zu Fratzen erstarrten Gesichtern unter kahlen Schädeln und toten Augen. Ungeheuerliche Laboriten, animalische Flügelwesen, verkrüppelte Zwerge, unvollkommene Menschentiere, eine wilde, schreiende Horde der verrücktesten Geschöpfe. Sie alle drängten sich um den leeren Marmorsockel eines verschwundenen Helden, mürrisch beäugt von den übellaunigen Wächtern der Saurocks.

    Der Regen hatte etwas nachgelassen. In den Trümmern, Löchern, Spalten und Kellern ringsumher wurde es lebendig. Im Dschungel hinter der Corus Plaza, der früher einmal so etwas wie ein Vergnügungspark gewesen war, füllte sich das Dickicht mit aufmerksamen Beobachtern. Die Neuankömmlinge auf der Plaza wußten nicht, wo sie sich befanden und dennoch spürten sie die Nähe der unbekannten Meute. Das Lauern, Flüstern und Kriechen wirkte auf eine besondere Art bedrohlich. Das Gesindel des 23. Sektors zeigte sich immer dann, wenn es galt, Beute zu machen. Sie hatten erbärmlichen Hunger und dieser Hunger machte sie zu Tieren, die um ihr Überleben kämpften. Für Sekunden entstand eine unwirkliche Stille auf der Plaza. Einige Straßenzüge entfernt stürzte donnernd, wie ein böses Omen, eine der letzten ausgebrannten Häuserfassaden in sich zusammen.

    Die Laboriten begannen auch sogleich die Umgebung des Platzes zu erkunden. Vergeblich versuchten die über ihnen schwebenden Drohnen mit ihren starken Scheinwerfern die Masse in Schach zu halten. Der Kommandant des Zuges sah seine Aufgabe aber bald als erfüllt an und drängte seine Leute zum Aufbruch. Nachdem die Wächter sich wieder in ihre düsteren Schrotthaufen verkrochen hatten, verschwanden die Kolosse auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren. Die Blackdevils drehten ab und überließen die Horde ihrem Schicksal.

    Die Neuankömmlinge sahen sich nun einer unbekannten Gefahr ausgesetzt und drängten sich wieder instinktiv aneinander. Sie reagierten wie scheue Tiere in einem fremden Revier, in dem sie ihre Gegner, die Rangordnung und die ungeschriebenen Gesetze des Geheges, nicht kannten. Dann brach aus dem Trümmerdickicht ein ohrenbetäubendes Geschrei los.

    Nun zeigte sich, gerade noch rechtzeitig, ein weiterer Trupp auf der Plaza. Als abgerissene, langhaarige Gestalten in schmutzigen Kampfanzügen, mit automatischen Maschinenbigs, Laserwaffen und archaischen Highspeed-Armbrüsten bewaffnet, krochen die schrulligen Aktivisten der TASP 21 aus den Unterweltarealen hervor. Die Gesichtsmasken mit den abgedunkelten Gläsern schützten ihre lichtscheuen Augen vor ungewohnter Helligkeit. In einer langen Reihe umstellten sie demonstrativ das Lager der Laboriten, um die militanten Horden der Straßenkinder von Mord und Totschlag abzuhalten. Die TASP 21 versuchte im Auftrag des Regionalkommandos von Newark zumindest in Teilen des 23. Sektors eine scheinbare Ordnung aufrecht zu erhalten. Die TASP-Truppen wurden von den kriegerischen Kinderhorden verhöhnt, weil sie ihr Gewaltpotential nie ganz ausspielten. Sie töteten die grausamsten Kinder nur im äußersten Notfall und das wurde ihnen hier im Niemandsland der lebenden Untoten als Schwäche ausgelegt.

    TASP 21 hieß ein mehrteiliges, monumentales Endzeitepos, das während der Kulturschock-Ära auf allen maßgeblichen I Net Plattformen zu sehen war. In diesem Storyuniversum kämpften einige aufrechte Bürgerrebellen um die letzten demokratischen Errungenschaften einer ansonsten verwahrlosten Zivilisation. Um diese Serie entstand damals eine fanatische Fangemeinde, die sich mit den Figuren, Techniken und Lebensinhalten der Serie identifizierte. Nachdem TASP 21 über Jahre hinweg in allen Medien seiner Zeit präsent gewesen war, vertraten Psychologen und Medienanalytiker die Ansicht, dass sich die Sehnsüchte einer ganzen Epoche in dieser Serie spiegelten. Die Schöpfer der Serie wurden mit der Zeit von den Fans verklärt und zu mythischen Figuren, die Schauspieler zu ikonisierten Helden und Vorbildern für einen Lebensstil und ein Lebensgefühl, das den Leuten Heimat und Sicherheit versprach in einer ansonsten gefährdeten Welt. Die neuen visuellen Medien-Systeme der „Giga-Medjas" erlaubten es bald darauf, mit allen Sinnen in diese künstliche Welt einzutauchen. Die heutige TASP 21 versuchte diesen Lebensstil zu konservieren und lebte weiterhin von und mit den einstigen Ideen, Apparaturen und Ritualen der Serie. Die nachgebauten Szenarien aus TASP 21 dienten ihnen mit ihren weit verzweigten Ober- und Untergrundbereichen als mediale Festung.

    Naila Elisar und Arthur Lassalle hatten die Vorbereitungen für ihren Einsatz abgeschlossen. Sie fühlten sich als Teil der Operation der TASP und hatten die Aufgabe, die seltenen Neuro-Implantierungen der Laboriten zu dokumentieren und „Prachtexemplare"dieser transhumanistischen Wesen auszusortieren. Die beiden gehörten aber zur ParaCybernetik-Abteilung und damit zum größten von Menschen geschaffenen Überlebensnetzwerk im Untergrund des 23. Sektors, das sich Subworld nannte.

    Die ParaCybernetik-Abt. von Subworld war dabei, ungewöhnliche Vorgänge und Entwicklungen in den Hauptsektoren der mächtigen, weltumspannenden Großmacht der Vereinigten Central Staaten und ihrer Forschungsmetropole Scientropoli zu beobachten, um die Sicherheitslage von Subworld noch besser beurteilen zu können. Wichtiges Anschauungsmaterial dazu lieferten die verschiedenen Restimplantate der Versuchsmenschen, die hier im isolierten 23. Sektor entsorgt wurden, nachdem sie ihre Aufgabe in den Labors von Scientropoli erfüllt hatten.

    Elisar eilte in Richtung Corus Plaza voran, gefolgt von Lassalle. Die beiden kreuzten das Spalier der TASP und drangen in die aufgescheuchte Laboritengruppe ein. Ihre Reptilienanzüge lösten einige Unruhe unter den invaliden Gestalten aus. Die meisten dieser Kreaturen hatten in ihrer bisherigen erbärmlichen Existenz nie das Tageslicht gesehen. Viele konnten nicht sprechen, waren blind oder taub. Aber fast alle Menschenwesen der Labors besaßen die Standardimplantate, mit denen bestimmte Reize, Reaktionen und Impulse der Nervenzellen, oder was sonst von Interesse war, gemessen werden konnten.

    Lassalle und Elisar begannen, die Körper der Versuchsmenschen mit ihren Sonden abzutasten und Bestandteile der Schädel mit lichtstarken Fotonern optisch zu dokumentieren. Ihnen begegneten neugierige, lebendige Augen, aber auch feindselig lauernde Blicke. Indem sie mit ruhigen Worten auf die Masse einredeten, hofften sie, die Unruhe unter den Laboriten einzudämmen. Jemand versuchte Naila Elisar in den Arm zu beißen, andere Laboriten brachen plötzlich in irres Lachen aus. Lassalle wurde bespuckt, angeschrien, angekotzt. Wieder andere Menschenwesen ergaben sich apathisch in ihr Schicksal und nickten nur stumm vor sich hin. Naila Elisar untersuchte eine ungewöhnliche Sippe. Alle sechs Kinder sahen auf den ersten Blick vollkommen gleich aus und bewegten im Takt ihre Köpfe und Körper wie in einer perfekten Choreografie. Ein haariger, zahnloser Greis hatte Lassalles Beine umfangen und ließ nicht mehr los. Er verteidigte seine Beute mit allen Mitteln. Lassalle befreite sich mit seinem Shocker. Der kleine Greis schrie fürchterlich. Der rund dreihundertköpfige Laboriten-Haufen reagierte sofort mit wildem Geheul. Plötzlich war ein Gemeinschaftsgefühl unter ihnen entstanden. Lassalle zog allen Zorn auf sich und er bereute seine Maßnahme im selben Augenblick. Das gesamte Volk brüllte los, hunderte Arme reckten sich nach ihm, hunderte Körper wollten sich auf ihn stürzen. Elisar wurde niedergerungen und stürzte in den Schlamm.

    Das war das Signal zum Eingreifen für die TASP 21. Sie knüppelten wahrlos auf die armseligen Geschöpfe ein. Ein Jammern und Heulen setzte ein. Blutüberströmte Gesichter verzerrten sich vor Schmerz, Körper wälzten sich im Schlamm. Der Haufen der Laboriten rückte noch enger zusammen und erst als die TASP noch einige Warnschüsse abgegeben hatte und sich eine von Elisar versprühte narkotisierende Wolke über der Menge ausgebreitet hatte, beruhigte sich die Lage wieder.

    Tasp-Ikone Jonny Skoops nutzte wie immer die Gelegenheit für einen seiner unverzichtbaren Auftritte. Er stieg auf den leeren Sockel des Denkmals, breitete die Arme aus und versuchte mit einer Serie von abscheulichen Flüchen und aberwitzigen Grimassen die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken. Er liebte diese Art der Selbstinszenierung. Eine gewisse theatralische Begabung konnte man ihm dabei nicht absprechen.

    „Maul halten, ihr Idioten! ... Schweigt still! ... Nun hört endlich auf mit der Schnatterei, verdammt noch mal!" Scoops machte eine Pause, baute sich zu voller Größe auf, rückte sein verbogenes Monokel zurecht und zeigte eindrucksvoll seine letzten beiden Zähne.

    „Tja, meine geliebten Kreaturen, das ersehnte Paradies ist euch erspart geblieben. Ihr seit hier im letzten toten Winkel dieser gierigen, verfluchten Welt angekommen. Schaut euch um, wir existieren nicht mehr in den offiziellen Netzen des INet. Die Mächtigen haben uns entmündigt. Euch gibt es nicht, mich gibt es nicht. Seit dieser verdammte Sektor, dieser kleine, verworfene Kontinent, versiegelt wurde, sind wir ein großer schwarzer Fleck in allen Kartografien und Verzeichnissen. Wir sind ein Geschwür, das es nicht geben darf und das verborgen bleiben muss in den Annalen der Herrschenden. Das Masterplankalendarium hat uns zu Aussätzigen gemacht. Wir sind getilgt worden aus dem Bewusstsein der Lebenden, bevor wir es selbst gemerkt haben und wir dürfen hier krepieren wie die letzten Dreckskerle!"

    Scoops brüllte, keuchte, schnappte nach Luft. Die Atemschutzmaske auf seiner Brust baumelte wild herum. Er klopfte seine Uniform mit den vielen Beuteln und Taschen nach einem unbekannten Gegenstand ab, hustete wie ein Tier und reckte schließlich seine Hände, wie nach einem letzten Halt suchend, in den Himmel.

    „Aber es gibt etwas, das uns trotzdem am Leben hält. Eine Idee, eine einsame Hoffnung, die uns nicht loslässt ... Ich will euch deshalb eine Geschichte erzählen. Es mag unglaublich klingen, aber es verkehrten einmal vor langer Zeit Fahrzeuge hier unter uns im Untergrund. Das ganze Labyrinth unter meinen Füßen ist einst aus Abwasserkanälen, Luftschächten und Transportwegen entstanden. Eine Welt unter der Erde. Als irgendwann die Versorgungsnetze aufgegeben wurden, entstanden daraus Zufluchtsstätten für die vielen Lahmen und Ausgestoßenen, die nirgends mehr geduldet wurden, so wie ihr. Das ist sehr, sehr lange her. Dann folgten, nach den Perioden der Wirtschaftskrisen, Glaubenskämpfe, Naturkatastrophen und Hungersnöte, die großen Säuberungsaktionen und die Schächte füllten sich weiter mit Menschen, Material und Ideen. Es entstanden neue Vorratslager, Gänge, Stockwerke und Labyrinthe. Man verwandelte Bunker in Kühlhäuser, machte aus Kanälen Kraftwerke. Die Typen buddelten damals wie die Verrückten. Oberirdisch geriet alles aus den Fugen. Die Situation wurde politisch und sozial unerträglich. Wer oben in Schwierigkeiten geriet, tauchte ab. Im Untergrund existierten einige soziale Netze durch ein strenges Ordnungssystem weiter. Das Leben in der oberen und der unteren Welt bekam durch die Errichtung der Sektoren einen Riss. Es dauerte eine Generation, aber über diesen geringen Zeitraum hinweg gab es schon einen kulturellen Bruch in den Verbindungen von oben nach unten. Unterschiedliche Gesellschaften und Wertesysteme bildeten sich heraus. Wir erfuhren durch das INet, dass es Kontakte zu außerirdischen Intelligenzen gegeben hatte und von den Erfolgen des Mars-Projektes. Wir schöpften neue Hoffnung, dass es bald wieder zu einer Initiative kommen könnte, die uns aus unserem elenden Untergrunddasein erlösen würde. Aber dann wurden die Sperrbollwerke um den 23. Sektor herum errichtet und wir blieben das, was wir waren, die Ausgeschlossenen. Und heute? Heute setzen die Vereinigten Central Staaten alles daran, neuen Lebensraum auf dem Mars zu schaffen, während sie gleichzeitig die alte Erde in eine Müllhalde verwandeln."

    Jonny Scoops ließ sich immer mehr von seinen wütenden Worten mitreißen. Er fantasierte sich in eine andere Welt hinein. Obwohl die wenigsten Laboriten begriffen, was Scoops da von sich gab, spürten sie doch seine Energie und seine Ernsthaftigkeit. Er ließ sich Zeit, machte Pausen, um die Spannung zu steigern, rang unter der Anspannung jeder Gesichtsfalte nach den passenden Worten und versuchte mit entschlossenem Blick und enormer Stimmgewalt die Ausgestoßenen neugierig zu machen und zu begeistern.

    „Wir sind nicht die naiven Spinner, wie man vielleicht vermuten könnte. Wir wussten immer über fast alles Bescheid, was da draußen vor sich ging. Das INet machte die Welt für uns lebendig. Es ist überall präsent, als Droge, Illusionsmaschine und als Paradies der Lügen und Eitelkeiten. Ein Zirkus der Zerstreuung und Verschwendung, wie wir es nennen. Aber es gab immer Zweifel über den wahren Zustand der Welt da draußen. Wir rekonstruierten die alten Speichermedien und dieses Puzzle ergab schließlich ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit als es uns das INet widerspiegelte. Wir wissen, dass wir für lange Zeit verdammt sind zu Entbehrungen, Elend und Tod. Aber wir wissen auch, dass die Erreger nicht alle Sektoren befallen haben, dass es ein ganz außergewöhnlich reiches Leben gibt, das wir nie kennengelernt haben und nie kennen lernen werden. Wir aber bleiben immer nur die verabscheuungswürdigen Narren."

    Jetzt veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Scoops schien für einen Moment zu lächeln. Seine Stimme klang weich, leise und einschmeichelnd. Wie ein entrückter Prophet aus fernen Gestaden ließ er das Volk an seinen Weisheiten teilhaben.

    „Die Tasp-Chroniken und ihre unsterblichen Figuren sind für uns Heimat geworden ... Wie der große Mime John Merlin mit seinen Gesichtszügen spielen konnte, wenn er über eine Idee philosophierte, das macht ihm so schnell keiner nach. Und was für ausgefeilte Methoden Wolf O`Brian und Susan Everett anwandten, um auch in den brenzligsten Augenblicken die Situation unter Kontrolle zu bekommen, dass ist unübertroffen. Diese Menschen, das waren wir selbst. Mit ihrem Modell eines CyberCreators haben sie etwas in uns wachgerufen, das unserem erbärmlichen Dasein einen

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