KLEINE BLUTSTROPFEN: Der Krimi-Klassiker aus Schottland!
Von Bill Knox
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Sammy Bells Unterkunft war alles andere als luxuriös, aber wenn man an Gefängniszellen gewöhnt ist, vermisste man wohl keinen Komfort. Der größte Teil der Wand war von bunten Pin-up-Girls bedeckt, aus den verschiedensten Magazinen ausgeschnitten. Der betreffende Fotograf hatte wohl auch das winzigste Kleidungsstück bei seinen Modellen als unnötig erachtet.
Die Einrichtung war spartanisch einfach. Eine eiserne Bettstelle mit rauen, grauen Armeedecken nahm den meisten Platz ein. Ein alter Bierkasten diente als Nachttisch, darauf standen ein Kofferradio und ein Aschenbecher. Die Kochplatte war hinter dem Bett angebracht, und daneben befand sich ein kleines Regal, in dem Geschirr und andere Kleinigkeiten aufbewahrt wurden. Ein großer eiserner Spind hatte offensichtlich als Kleiderschrank gedient. Die Innenseiten der Türen waren ebenfalls mit Pin-up-Girls vollgeklebt. Der ganze Raum war sauber aufgeräumt - auch das lernte man wohl im Gefängnis, bis es zur festen Gewohnheit wird...
Der Roman Kleine Blutstropfen von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1999) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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KLEINE BLUTSTROPFEN - Bill Knox
Das Buch
Sammy Bells Unterkunft war alles andere als luxuriös, aber wenn man an Gefängniszellen gewöhnt ist, vermisste man wohl keinen Komfort. Der größte Teil der Wand war von bunten Pin-up-Girls bedeckt, aus den verschiedensten Magazinen ausgeschnitten. Der betreffende Fotograf hatte wohl auch das winzigste Kleidungsstück bei seinen Modellen als unnötig erachtet.
Die Einrichtung war spartanisch einfach. Eine eiserne Bettstelle mit rauen, grauen Armeedecken nahm den meisten Platz ein. Ein alter Bierkasten diente als Nachttisch, darauf standen ein Kofferradio und ein Aschenbecher. Die Kochplatte war hinter dem Bett angebracht, und daneben befand sich ein kleines Regal, in dem Geschirr und andere Kleinigkeiten aufbewahrt wurden. Ein großer eiserner Spind hatte offensichtlich als Kleiderschrank gedient. Die Innenseiten der Türen waren ebenfalls mit Pin-up-Girls vollgeklebt. Der ganze Raum war sauber aufgeräumt - auch das lernte man wohl im Gefängnis, bis es zur festen Gewohnheit wird...
Der Roman Kleine Blutstropfen von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1999) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
KLEINE BLUTSTROPFEN
Erstes Kapitel
Tätigkeitsbericht. Constable Matthew MacDonald. Wagen IT, Verkehrsabteilung.
Am Donnerstag, dem 22. April, 23.48 Uhr, erhielt ich von der Funkzentrale den Einsatzbefehl, zur South Salisbury Road zu fahren und dem bereits dort befindlichen Revierbeamten Unterstützung zu leisten. Ein toter Zivilist lag auf der Westseite der Straße, fünf zehn Meter nördlich des Eingangs zur Maschinenfabrik. Constable John Murray war den Revierbeamten bei der Suche nach Zeugen behilflich. Es konnten keine ausfindig gemacht werden. Straße am Tatort nur schwach beleuchtet. Augenscheinlich schien der Tote das Opfer eines Verkehrsunfalls zu sein. Mehrere Verletzungen, deutliche Reifenabdrücke auf dem Regenmantel. Bei näherer Inspektion wurden allerdings verschiedene Feststellungen gemacht, die mich veranlassten, die Kriminalbereitschaft zu verständigen. Sergeant Moss vom Polizeiamt Millside erschien um 0.29 Uhr am Tatort.
Phil Moss fröstelte und schob die Hände tief in die Taschen seines ausgebeulten Tweedanzugs. Er dachte sehnsüchtig an seine dicke Wolljacke, die im Büro hing. Im April, kurz nach Mitternacht, ist in Schottland nicht viel vom Frühling zu spüren.
»Tut mir leid, dass ich Sie aus dem Bett holen musste, Colin«, entschuldigte er sich. »Aber als ich herkam und sah, was Constable MacDonald veranlasst hatte, mich zu holen - nun, ich musste Sie ganz einfach verständigen!«
»Schon gut!« Inspektor Colin Thane, Chef der Kriminalpolizei beim Polizeiamt Millside, schob seinen grauen Filzhut in den Nacken und betrachtete die Szene. Der Funkwagen stand einige Meter entfernt. Seine Scheinwerfer waren auf den Punkt der Straße gerichtet, wo ein formloses, von einer grauen Plane verhülltes Bündel lag. Die Plane war ein wenig zu kurz - ein Fuß ragte darunter hervor, und zwischen Socke und Hosenbein schimmerte nacktes Fleisch.
Die South Salisbury Road mit den parallel zur Straße laufenden Eisenbahngeleisen lag verlassen da. Straße und Geleise wurden durch eine rote Ziegelmauer getrennt. Hinter der Mauer befand sich einer von Glasgows größten Verschiebebahnhöfen. Das Tüchern einer Diesellokomotive drang durch die klare Frostluft herüber, und das Aufprallen der Puffer beim Rangieren. An der Ostseite der Teerstraße ragte der schwarze Schatten einer Maschinenfabrik gegen den Himmel, zu beiden Seiten flankiert von anderen Industriebauten. In der Maschinenfabrik war ein Nachtwächter. Er hatte weder etwas gesehen noch gehört.
»Ich habe fünfzig Meter weiter in beiden Richtungen einen Beamten postiert«, erklärte Sergeant Moss. »Um diese Zeit ist zwar kaum mit Verkehr zu rechnen, aber ich hielt es trotzdem für angebracht, den Tatort abzusichern.« Ihn fröstelte erneut.
»Ist Ihnen kalt, Phil?« Thane grinste. Er fühlte sich wohl in seinem dicken Mantel. »Sie kennen doch unser altes Sprichwort: Wintersachen hab’ dabei, bis vorbei der Monat Mai.«
Der Sergeant brummte unwillig und scharrte mit den Füßen. »In den letzten drei Tagen war es ziemlich warm. Wie konnte ich ahnen, dass es heute Nacht plötzlich wieder Winter wird? Wo wollen Sie anfangen?«
»Zunächst möchte ich mir den Toten ansehen. Haben Sie ihn schon identifizieren können?« Sie traten zu der reglosen Gestalt unter der grauen Plane, wobei sie darauf achteten, nicht in den Kreidekreis zu geraten, der auf die Straße gezeichnet war.
Moss schüttelte den Kopf. »Er hatte keine Papiere bei sich. Nur Schlüssel, Geld, Taschenmesser und die üblichen Kleinigkeiten. Aber sein Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich muss den Mann schon mal irgendwo gesehen haben, aber es ist ziemlich schwierig...«
Thane hob vorsichtig die Ecke der Plane auf und verzog den Mund. »Hm, da ist nicht mehr viel zu erkennen.« Er deckte den Toten wieder zu. Ein Rad des Wagens musste über die untere Gesichtshälfte des Mannes gegangen sein. Augen und Stirn waren überraschenderweise unverletzt. Thane wandte sich um. »Wo ist MacDonald?«
»Sir?« Der uniformierte Beamte stand dicht neben dem Inspektor. Constable MacDonald war ein stämmiger, bedächtiger Hochländer, der schon seit jenen Tagen einen Funkwagen fuhr, als man damit begann, dieses neumodische Spielzeug in den Dienst der Polizei zu stellen.
»Sie haben gute Arbeit geleistet«, sagte Thane grimmig. »Und wo ist die Stelle?«
»Gleich da drüben, Sir.« Sorgfältig auf den Kreidekreis achtend, folgten ihm die beiden Kriminalbeamten einige Schritte die Straße entlang. MacDonald richtete seinen Handscheinwerfer nach unten. Kleine, rote, durch den Frost geronnene Blutstropfen bildeten eine unregelmäßige Spur. Die Tropfen waren rund, doch eine winzige, fast unsichtbare Kerbe wies nach Norden, weg von dem Toten.
»Und die anderen?« Thane richtete sich auf, und MacDonald führte die beiden Kriminalbeamten die Straße zurück, an dem Toten vorbei bis kurz vor den Funkwagen. Auch hier war eine Spur aus Blutstropfen, nur mit dem Unterschied, dass deren winzige Kerben nach Süden zeigten.
»Das wäre es, Sir«, sagte MacDonald und zögerte kurz, »Die Art, wie er zugerichtet ist, gefällt mir nicht. Wir bekommen ja eine Menge Verkehrstote zu Gesicht, aber dieser hier Er wiegte den Kopf. »Wie durch die Mangel gedreht,«
Phil Moss räusperte sich. »Ein Stück weiter unten sind ein paar schwache Reifenspuren, aber so undeutlich, dass sie uns nicht viel weiterhelfen werden.«
»Danke, Sir.« Der Funkstreifenbeamte nahm die Zigarette, die ihm von Thane angeboten wurde, und reichte den beiden Männern von der Kripo Feuer. Abergläubisch, wie diese Hochländer sind, blies er das Streichholz aus, nahm ein neues aus der Schachtel und zündete sich daran die eigene Zigarette an. Dann schob er die abgebrannten Zündhölzer in die Schachtel zurück.
Thane blies den Rauch weit von sich. Auf dem Dach des Funkwagens hatte sich weißer Reif gebildet. Es schien noch kälter zu werden.
»So, und nun schießen Sie mal los«, forderte der Inspektor den Constable auf.
MacDonald zögerte kurz. Er schien seine Worte sorgfältig zu überlegen. »Ich habe mich damals mit diesem Problem beschäftigt - damals, als die Wagen noch bedeutend mehr Öl verloren als heute. An der Form der öltropfen konnte man erkennen, in welche Richtung der betreffende Wagen gefahren war. Es ist folgendermaßen...« Er runzelte die Stirn. Zweierlei Kräfte wirken auf die fallenden Tropfen ein - die eine infolge der Schwerkraft nach unten, die andere durch die Geschwindigkeit des Wagens nach vorn. Auf diese Weise entstehen die winzigen Zacken: Nun, bei einem Verkehrsunfall erwartet man natürlicherweise Blutspuren zu sehen. Wenn jemand unter ein Fahrzeug gerät, wird er in den meisten Fällen mitgeschleift. Auf diese Weise kann eine Blutspur zum Opfer hin und vom Opfer wegführen. Die Spur, die vom Opfer wegführt, entsteht dadurch, dass das am Wagenboden haftende Blut auf die Straße tropft.« Das Gesicht des Constables verfinsterte sich. »Aber ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, dass eine Blutspur in zwei entgegengesetzte Richtungen weist.«
Thane nickte und wechselte einen kurzen Blick mit Moss. Der Mann war tatsächlich von einem Auto getötet worden - aber der Wagen war über ihn hinweggerollt, hatte angehalten und war dann vorsätzlich rückwärts noch einmal über ihn hinweggefahren. Irgendetwas vermisste Thane allerdings bei dieser Geschichte, aber er kam nicht darauf, was es war. Auf jeden Fall handelte es sich um Mord. Mit einem leisen Seufzer ließ er die letzte schwache Hoffnung auf ein freies Wochenende, das er mit Fischen hatte verbringen wollen, fahren.
Ein Wagen näherte sich und hielt bei dem Polizeiposten an. Dann heulte der Motor wieder auf, und gleich darauf hielt das Auto neben dem Inspektor. Ein Mann nahm eine kleine Tasche vom Rücksitz und stieg aus.
»Heute Nacht gibt’s anscheinend keine Langeweile«, sagte er lind trat in den Lichtkegel des Scheinwerfers. Es war Dr. Williams, der Polizeiarzt. »Drüben im Gallowgate war eine Messerstecherei. Und was haben wir hier, Colin?« Er stieß Moss mit seinem Zeigefinger vor die Brust. »Ihnen scheint kalt zu sein.«
»Hundekalt!« Moss erschauerte unwillkürlich und zog die Schultern ein.
Dr. Williams lächelte. »Na ja, Sie kennen ja das Sprichwort: Wintersachen hab' dabei...«
»...bis vorbei der Monat Mai. Ich weiß«, bestätigte Phil Moss säuerlich. Er empfand eine wachsende Abneigung gegen diese alte schottische Volksweisheit.
Der Polizeiarzt zog die Lederhandschuhe aus und stopfte sie in die Manteltasche, dann trat er zu dem Toten. Er stellte die Tasche neben sich, hockte sich nieder und zog die Plane zurück. Er pfiff leise durch die Zähne. »Wie ist das passiert? Ist er von einem Panzer überrollt worden?«
»Verändern Sie bitte nichts, Doktor«, mahnte Thane. »Wir warten auf den Erkennungsdienst.«
Dr. Williams betrachtete den Toten mit fachlichem Interesse. Er nahm eine kleine Taschenlampe zu Hilfe. »Ich habe eine Thermosflasche mit Kaffee im Wagen«, rief er über die Schulter. »Mögen Sie etwas, wenn ich hier fertig bin?« Schließlich erhob er sich und ließ die Tasche zuschnappen. »So, das wär’s im Augenblick. Ich muss ihn mir später noch genauer ansehen, aber ich möchte schon jetzt sagen, dass er auf der Stelle tot gewesen ist. Beckenbruch, Brustkorb eingedrückt, schwere innere Verletzungen. Und dann natürlich der Kopf. Dürfte vor ungefähr zwei Stunden passiert sein.«
Thane rechnete blitzschnell. Der Mord musste also ungefähr eine halbe Stunde vor Auffindung des Toten durch den Revierbeamten begangen worden sein. Eine stille Seitenstraße im Industriebezirk, die nach Eintritt der Dunkelheit kaum benutzt wurde. Die nächsten Wohnhäuser lagen mehrere hundert Meter entfernt auf der anderen Seite der Eisenbahngeleise.
Dr. Williams war inzwischen von Moss zu den Blutspuren geführt worden. Er fand sie sehr interessant.
»Sie haben wirklich die Augen offengehalten, MacDonald.« Er nickte dem Constable anerkennend zu. Der Mann wurde verlegen und errötete leicht, aber das bemerkte niemand, da in diesem Augenblick ein weiterer Wagen eintraf. Das fahrbare Laboratorium des Erkennungsdienstes war ein großer sandfarbener Kastenwagen, der sich äußerlich durch nichts von jedem anderen Lieferwagen unterschied.
»Wirklich eine Zumutung, einen Mann in meinem Alter um diese Zeit aus dem Bett zu holen!«, beschwerte sich der barhäuptige Chef der Neuankömmlinge. »Lohnt es sich wenigstens?«
»Mord mittels Kraftwagen«, erklärte Thane. Er war erleichtert, dass Dan Laurence selbst gekommen war. Der Leiter der Kriminaltechnischen Untersuchungsanstalt war ein stets unordentlich wirkender Hüne, der geradewegs von einem einsamen Gutshof zu kommen schien. Doch wenn es sich um gerichtliche Probleme handelte, bewies er augenblicklich seinen messerscharfen Verstand.
»Mit einem Wagen, wie?«, brummte er. »Hm. Mal was anderes.« Er nickte dem Polizeiarzt zu. »Hat man Sie auch aus dem Bett geholt?« Dann fiel sein Blick auf Phil Moss. »Und wie geht’s unserem Sergeant?«
Moss murmelte etwas Unverständliches.
»Ihnen muss doch kalt sein! Wo haben Sie denn Ihren Mantel, Mann? Kennen Sie unser altes Sprichwort nicht
»Er hat es bereits zu hören bekommen«, fiel ihm Thane rasch ins Wort, um eine eventuelle Explosion zu verhindern.
»Na ja, zweifellos.« Chefinspektor Laurence rieb sich die Hände. »Was liegt nun im Einzelnen vor, Colin?«
Thane erläuterte mit wenigen Sätzen die Situation. Laurence lauschte, ohne ihn zu unterbrechen, dann nickte er brummend. Er wandte sich an seine Leute, drei eifrige junge Kriminalwachtmeister. »So, dann wollen wir anfangen. Zuerst die Fotos. Willie. Johnny, Sie können ihm mit dem Blitzgerät zur Hand gehen. Zuerst den Toten, dann einige Nahaufnahmen von den Blutspuren. Aber dass mir die Bilder scharf werden!«
Willie lächelte nachsichtig, drehte sich um und zwinkerte seinem Kollegen zu.
Laurence wandte sich an den letzten des Trios und kratzte sich seinen Wuschelkopf. »Frank, Sie müssen die Fingerabdrücke abnehmen. Ich fürchte, das ist keine schöne Arbeit, aber es hilft nichts. Wenn Sie damit fertig sind...« Er drehte sich zu Thane um. »He, Colin, könnten Sie mir kurz Ihren Wagen zur Verfügung stellen? Die Fingerabdrücke müssen ja sofort ausgewertet werden. Solange wir nicht wissen, wer es ist, können Sie ohnehin nichts unternehmen.«
Thane nickte zustimmend. »Bitte, nehmen Sie ihn nur.«
Dr. Williams stand schweigend daneben und beobachtete den Fotografen. »Dan«, sagte er plötzlich mit unbeteiligter Stimme. »Lassen Sie doch auch ein paar Nahaufnahmen von den Beinen machen. Es kommt darauf an, die genaue Lage festzuhalten.«
Wie alle anderen, blickte auch Thane den Arzt erstaunt an.
Dr. Williams unterdrückte ein Gähnen. »Sie haben da einen ganz schönen Fall erwischt, Colin. Dieser Mann ist keinem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. Er wurde auf die Straße gelegt, wahrscheinlich in bewusstlosem Zustand, und dann überfahren.«
Phil Moss kaute an der Unterlippe, und sogar Dan Laurence zeigte deutliche Überraschung.
»Sind Sie sicher?«, fragte Thane.
Der Polizeiarzt nickte. »Absolut sicher. Die ganze Zeit über musste ich darüber nachdenken. Sehen Sie, Colin, wenn er von irgendeinem Fahrzeug umgefahren worden wäre, müsste er Beinverletzungen haben. Das ist immer der Fall. Meist werden diese Verletzungen durch die Stoßstange verursacht. Es ist nicht unbedingt nötig, dass die Beine gebrochen sind, aber es gibt zumindest Abschürfungen. Die Beine dieses Toten weisen nicht die Spur einer Verletzung auf.«
Thane schnippte mit den Fingern. Das war es, was er vorhin vermisst hatte! Dieser Mann war überfahren worden, aber trotzdem fehlten die üblichen Glassplitter von einem zerbrochenen Scheinwerfer, Lackteilchen oder heruntergefallener Dreck vom Kotflügel. Derartige Spuren waren bei einem solchen Unfall stets zu finden.
Dr. Williams unterdrückte erneut ein Gähnen. »Da haben Sie einen ganz schönen Fall erwischt«, wiederholte er. »Schon mehr anderthalb Fälle.« Er gähnte nun ganz offen. »Mein Bett winkt. Aber ich glaube, ich werde mir den Schlaf noch eine Weile verkneifen. Ich will mir den Toten noch einmal kurz im Leichenschauhaus ansehen. Die Obduktion kann bis morgen früh warten.« Plötzlich kam ihm eine Idee. »Hat jemand Appetit auf heißen Kaffee?«
Zu den anderen kleinen Vergünstigungen, die der Inspektor, eines Polizeiamtes genießt, gehört auch ein eigener Übernachtungsraum. Er besteht aus einem Feldbett und einem Waschbecken, zwei Einrichtungen, die allerdings praktisch zum Büro gehören. Um vier Uhr morgens war das Bett immer noch leer, aber Thane war immerhin schon einen Schritt weitergekommen. Er wusste jetzt, wer der Tote war.
Die Beamten der Nachtschicht im Präsidium hatten rasche Arbeit geleistet. Obwohl die Einzelfingerabdrucksammlung 150.000 Karteikarten umfasste, gelang die Identifikation auf Grund der Klassifikation schon nach kurzer Zeit. Eines der mit den zehn Einzelfingerabdrücken der rechten und linken Hand versehenen Karteiblätter konnte nun als erledigt abgelegt werden.
Der Tote hieß Sammy Bell. Ein Beamter hatte die Strafkartei nach Bell durchgesehen und festgestellt, dass es drei davon mit dem Vornamen Samuel gab. An Hand der Indexnummer auf der Fingerabdruckkarte war allerdings mühelos der richtige herausgefunden worden.
Sammy war kein Spezialist gewesen. Diebstahl, Betrug, Körperverletzungen hatten zu einer längeren Reihe von Vorstrafen geführt. Er war dreißig Jahre alt gewesen. Vor sieben Monaten war er aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er seine letzte Strafe wegen Einbruchs abgesessen hatte.
Phil Moss, noch immer durchfroren und müde, befasste sich mit der einzigen schwachen Spur, die über Sammy Bells Leben Auskunft geben konnte: die Adresse, die unter der Rubrik Angehörige stand. Er machte sich auf den Weg.
Schlaftrunken öffnete der einzige Bruder des Toten die Tür seiner Dachwohnung. Er zeigte kaum eine Gefühlsregung, als er von Sammys Ableben hörte. Vince Bell war Klempner, und nach Auskunft des zuständigen Reviers ein anständiger und durchaus ehrenwerter Bürger.
»Klar tut es mir leid, dass es den armen Kerl nun erwischt hat«, brummte er. »Schließlich war er ja mein Bruder, nicht? Aber vor zwei Jahren hab ich ihn hier rausgeschmissen, weil er sich am Haushaltsgeld meiner Frau vergreifen wollte. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gesehen oder gehört, und das war auch mein Wunsch