Zwischen Schuld und Neuanfang: Sophienlust - Die nächste Generation 98 – Familienroman
Von Anna Sonngarten
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Über dieses E-Book
Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt.
Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren.
Die Kinderärztin Dr. Anja Frey schaute konzentriert in die Patientenakte des kleinen Jan. Eine beeindruckende Anzahl von Krankheiten stand dort aufgelistet. Sie schaute über ihren Monitor hinweg auf den blonden achtjährigen Jungen, der neben seiner Tante saß und unbeteiligt aus dem Fenster sah, während Sibylle Hartmann ihre Handtasche fest im Griff hielt. Dr. Anja Frey kannte Sibylle Hartmann und ihren Neffen seit vielen Jahren. Und genauso lange schon versuchte die Kinderärztin Frau Hartmann davon zu überzeugen, dass Jan gesund war. Denn so lang die Patientenakte auch war, nichts davon hatte das aufgeweckte Kind wirklich. Aufgelistet waren nur Verdachtsdiagnosen, die sich nach einer ausführlichen Untersuchung in nichts aufgelöst hatten. Eingebildete Krankheiten, die Sibylle glaubte, an ihrem Neffen erkannt zu haben, die er aber in der Realität nicht hatte. Jan war gesund. Anfangs war Dr. Frey der Überbesorgtheit von Sibylle Hartmann mit großem Verständnis begegnet. Das Kind hatte im Alter von zwei Jahren seine Mutter verloren und Sibylle hatte als älteste Schwester, die selbst keine Kinder bekommen konnte, den Jungen als Pflegekind zu sich genommen. Natürlich war Sibylle anfangs unsicher und hatte viele Fragen, aber nach einer Trennung von ihrem Lebensgefährten hatte sich diese Überbesorgtheit verstärkt. Der kleine Jan war kerngesund. Sibylle war krank. Diese Einsicht erlangte die Kinderärztin in dem Moment, als Sibylle sie darum bat, ein Attest für Jan auszustellen. »Jan soll vom Sportunterricht befreit werden. Er hat doch Asthma.
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Buchvorschau
Zwischen Schuld und Neuanfang - Anna Sonngarten
Sophienlust - Die nächste Generation
– 98 –
Zwischen Schuld und Neuanfang
Unveröffentlichter Roman
Anna Sonngarten
Die Kinderärztin Dr. Anja Frey schaute konzentriert in die Patientenakte des kleinen Jan. Eine beeindruckende Anzahl von Krankheiten stand dort aufgelistet. Sie schaute über ihren Monitor hinweg auf den blonden achtjährigen Jungen, der neben seiner Tante saß und unbeteiligt aus dem Fenster sah, während Sibylle Hartmann ihre Handtasche fest im Griff hielt. Dr. Anja Frey kannte Sibylle Hartmann und ihren Neffen seit vielen Jahren. Und genauso lange schon versuchte die Kinderärztin Frau Hartmann davon zu überzeugen, dass Jan gesund war. Denn so lang die Patientenakte auch war, nichts davon hatte das aufgeweckte Kind wirklich. Aufgelistet waren nur Verdachtsdiagnosen, die sich nach einer ausführlichen Untersuchung in nichts aufgelöst hatten. Eingebildete Krankheiten, die Sibylle glaubte, an ihrem Neffen erkannt zu haben, die er aber in der Realität nicht hatte. Jan war gesund. Anfangs war Dr. Frey der Überbesorgtheit von Sibylle Hartmann mit großem Verständnis begegnet. Das Kind hatte im Alter von zwei Jahren seine Mutter verloren und Sibylle hatte als älteste Schwester, die selbst keine Kinder bekommen konnte, den Jungen als Pflegekind zu sich genommen. Natürlich war Sibylle anfangs unsicher und hatte viele Fragen, aber nach einer Trennung von ihrem Lebensgefährten hatte sich diese Überbesorgtheit verstärkt. Der kleine Jan war kerngesund. Sibylle war krank. Diese Einsicht erlangte die Kinderärztin in dem Moment, als Sibylle sie darum bat, ein Attest für Jan auszustellen.
»Jan soll vom Sportunterricht befreit werden. Er hat doch Asthma. Er kann doch nicht mit den anderen Kindern um die Wette rennen«, sagte Sibylle überzeugt und schaute ihren Neffen an, der aber lieber weiter aus dem Fenster sah und mit den Füßen scharrte.
»Frau Hartmann, Jan hat kein Asthma. Das haben wir doch schon längst untersucht. Er hat auch keine Neurodermitis, kein ADHS, keinen Herzfehler, keine Rachitis, keine Leukämie oder sonst etwas, dass Sie beunruhigen müsste. Jan ist ein ganz normaler Junge und sollte unbedingt am Sportunterricht teilnehmen, damit das auch so bleibt.« Frau Dr. Frey hatte das noch nie so deutlich formuliert. Aber sie wollte jetzt Klartext reden. Sie fuhr fort.
»Jan braucht wie jedes Kind unbedingt Bewegung. Er muss Erfahrungen sammeln, seine Grenzen austesten. Dabei darf er auch mal hinfallen und sich Schrammen zuziehen. Das ist ganz normal und notwendig. Sie packen den Jungen in Watte, Frau Hartmann.«
Sibylle sah die Ärztin unverwandt an und knetete ihre Handtasche. Sie war eine Frau Ende Dreißig, die schon bessere Tage erlebt und auch schon besser ausgesehen hatte. Sie hätte noch gut aussehen können, aber so wie sie jetzt vor Dr. Frey saß, wirkte sie verbittert und auch etwas verhärmt. Frau Dr. Frey seufzte.
»Sprechen Sie doch mal mit Ihrem Hausarzt. Vielleicht würde Ihnen eine Kur guttun. So geht es nicht weiter, Frau Hartmann«, sagte die Kinderärztin und ließ dabei offen, was so nicht weitergehen dürfe. Sibylle Hartmann schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Und wer sorgt dann für Jan? Mein Ex-Lebensgefährte lebt inzwischen mit seiner neuen Familie in einer anderen Stadt. Meine kleine Schwester Franzi macht Karriere. Sie hat nie Zeit.«
»Dafür würde sich eine Lösung finden, Frau Hartmann. Sie kennen doch sicher das Kinderheim Sophienlust. Das liegt doch ganz in unserer Nähe. Ich kenne den Besitzer Dominik von Wellentin-Schoenecker und seine Mutter Denise. Ich könnte …«
»Auf gar keinen Fall. Jan kommt doch nicht in ein Kinderheim«, unterbrach Sibylle die Kinderärztin erbost, während Jan zum ersten Mal Interesse an dem Gespräch zeigte. Mit großen blauen Augen sah er hoffnungsvoll zu seiner Kinderärztin auf. Doch Sibylle stand abrupt auf, nahm Jan fast grob am Arm und zog ihn mit sich. Der Junge warf der Kinderärztin einen letzten fast verzweifelten Blick zu. Dr. Anja Frey spürte wie ihr dieser Blick durch Mark und Bein ging. Aber was konnte sie tun? Sie wollte diesen Fall nicht auf sich beruhen lassen, aber das Wartezimmer war voll und zuerst musste sie ihre anderen kleinen Patienten versorgen. Sie machte sich einen Vermerk in Jans Akte, der sie daran erinnern sollte, mit dem Jugendamt Kontakt aufzunehmen. Frau Hartmann brauchte Hilfe. Allein kam sie aus dieser Spirale der Überbesorgtheit nicht heraus, die dazu führte, einem gesunden Jungen immer neue Krankheiten anzudichten, die ihn vor eingebildeten Gefahren bewahren sollte.
*
Sibylle Hartmann setzte Jan an der Schule ab. Am liebsten hätte sie ihn zu Hause gelassen, aber er hatte schon zu viele Fehlstunden in diesem ersten Halbjahr. Für jede weitere Fehlstunde würde sie ein Attest vorlegen müssen, hatte Jans klassenlehrerein gesagt. Für die ersten beiden Sportstunden, die Jan verpasst hatte, reichte der Nachweis, dass er heute bei der Kinderärztin in der Sprechstunde gewesen war. Sibylle schaute Jan hinterher, bis ihn das Schulgebäude verschluckt hatte. Jan hatte sich nicht mehr zu ihr umgedreht, aber der Junge spürte den Blick seiner Tante im Rücken. Schon wieder hatte er den Sportunterricht verpasst. Dabei liebte er die unbeschwerten Stunden in der Sporthalle, wo er rennen und klettern durfte und dafür auch noch gelobt wurde. Er war immer wieder aufs Neue davon überrascht, dass ihn der Sportlehrer anfeuerte und ihn nicht vor möglichen Risiken warnte. Dass er ihm alles zutraute und ihn nicht davon abhielt, etwas auszuprobieren. Jan stellte seine Schultasche vor der Klassentür ab. Gerade hatte es zur Pause geläutet und seine Mitschüler strömten aus der Sporthalle. Er sah auch Heidi, die in seine Klasse ging. Er wusste, dass die lustige blonde Heidi in Sophienlust lebte, und ihm fiel der Vorschlag der Kinderärztin wieder ein. In den Augen seiner Tante war es das Schlimmste, was einem Kind passieren konnte, wenn es in einem Kinderheim leben musste. Das hatte Tante Sibylle ihm immer wieder erzählt. Deshalb war es für Sibylle auch keine Frage gewesen, ihn bei sich aufzunehmen, als seine Mutter starb. Jan war verwirrt. Wenn es so schlimm war, in einem Heim zu leben, warum war Heidi dann so fröhlich und er oft so traurig. Jan fühlte eine Unstimmigkeit, die er sich nicht erklären konnte. Sibylle tat alles für ihn. Sie wollte ihn beschützen. Ihm sollte nichts passieren. Das war schon in Ordnung. Aber es passierte auch sonst einfach gar nichts. Er hatte keine Freunde und durfte das Haus nicht ohne seine Tante verlassen. Sibylle wollte aber am liebsten immer zu Hause bleiben. Sie fuhren einmal im Monat nach Maibach zum Einkaufen. Wenn alle Schränke bis zum Bersten gefüllt waren, war Tante Sibylle zufrieden.
»So das hätten wir geschafft. Jetzt müssen wir nirgendwo mehr hin.« Diesen Satz wiederholte seine Tante dann jedes Mal. Jan verstand das nicht. Andere Kinder erzählten von ihren Erlebnissen, von Ausflügen, von Kindergeburtstagen. Jan war immer zu Hause. Manchmal puzzelten Tante Sibylle und er zusammen, oder sie las ihm etwas vor, aber oft schauten sie nur fern.
»Hallo Jan, wo warst du denn heute?«, fragte Heidi, die Jans Weg gekreuzt hatte.
»Beim Kinderarzt«, antwortete der Junge gleichmütig.
»Warum? Bist du krank?«, wollte Heidi wissen.
»Eigentlich nicht. Also die Frau Doktor glaubt, dass ich gesund bin, aber meine Tante meint, dass ich Asthma habe«, nuschelte Jan schnell daher. Er wollte die Sache nicht vertiefen, aber auch nicht unfreundlich zu Heidi sein. Heidi stutzte kurz, weil sie nicht wusste, was sie dazu sagen sollte. Doch unbekümmert wie sie war, forderte sie Jan auf, mit ihr auf die Kletterspinne zu klettern.
»Kommst du mit. Ich kann jetzt schon ganz nach oben klettern«, sagte sie stolz und rannte los. Jan folgte ihr und mit jedem Meter, den sich die beiden in die Höhe hangelten, vergaß der Junge seine Sorgen. Heidi war klasse. Er mochte sie von den Mädchen am liebsten.
*
Noch vor Schulbeginn wollte der Hausmeister die Papiercontainer zur Abholung bereitstellen. Eine Routinetätigkeit, die seine Aufmerksamkeit kaum beanspruchte. Merkwürdigerweise stand ein ausrangierter Stuhl vor dem Container, den der Hausmeister beim Sperrmüll abgestellt hatte. Als er den blauen Container aus der Ecke zog, hörte er dann ein Geräusch wie ein Kollern, dass zu dem mutmaßlichen Inhalt des Containers nicht passte.