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Herzenskinder: Die Gründerin der ersten Klinik-Babyklappe erzählt von abgegebenen Kindern, Müttern in Not und geschenkter Zukunft
Herzenskinder: Die Gründerin der ersten Klinik-Babyklappe erzählt von abgegebenen Kindern, Müttern in Not und geschenkter Zukunft
Herzenskinder: Die Gründerin der ersten Klinik-Babyklappe erzählt von abgegebenen Kindern, Müttern in Not und geschenkter Zukunft
eBook259 Seiten3 Stunden

Herzenskinder: Die Gründerin der ersten Klinik-Babyklappe erzählt von abgegebenen Kindern, Müttern in Not und geschenkter Zukunft

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Über dieses E-Book

Gabriele Stangl ist eine warmherzige und tatkräftige Frau, die unzähligen Frauen und Familien in großer Not geholfen hat. Als Seelsorgerin in der Klinik Waldfrieden in Berlin-Zehlendorf hat sie schwangere Frauen begleitet, die keine Unterstützung oder Fürsorge hatten, die verzweifelt und völlig auf sich allein gestellt waren. Und die sie oft abweisen musste.

Zutiefst schockierend sind Berichte von ausgesetzten oder getöteten Säuglingen. Welche Not die Mutter und das Ungeborene im Vorfeld mitmachen, wissen hingegen nur wenige. Vor diesem Hintergrund hat Gabriele Stangl mit einem engagierten Team von Unterstützern im Jahr 2000 die erste Babyklappe in einer Klinik weltweit ins Leben gerufen. Endlich können Mütter ihre Kinder in sichere Hände geben, wenn sie weder ein noch aus wissen!

Lesen Sie von den Schicksalen der Kinder, die Gabriele Stangl entgegen allen Widerständen von Behörden und Politik in Obhut geben und begleiten konnte. Wie haben die Kinder von ihrer Herkunft, von ihrer Bauchmama erfahren und wie hat dies ihr Leben geprägt bei ihrer späteren Familie, ihren Herzmamas? Emotional packend skizziert dieses Buch tatkräftige Unterstützung für die Schwächsten und Hilfsbedürftigen in unserer Gesellschaft.
SpracheDeutsch
Herausgeberadeo
Erscheinungsdatum13. März 2023
ISBN9783863348670
Herzenskinder: Die Gründerin der ersten Klinik-Babyklappe erzählt von abgegebenen Kindern, Müttern in Not und geschenkter Zukunft
Autor

Gabriele Stangl

Gabriele Stangl war von 1996 bis 2017 als Pastorin und Krankenhausseelsorgerin im Krankenhaus Waldfriede (Berlin) tätig, wo sie im Jahr 2000 die erste Babyklappe in einer Klinik weltweit einführte. Dafür erhielt sie 2011 die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie am Rande Berlins und pflegt nach wie vor Kontakt zu vielen ihrer Kinder und Frauen. Foto © Privat

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    Buchvorschau

    Herzenskinder - Gabriele Stangl

    Prolog

    Spätherbst 1998. Traurig schaue ich aus meinem großen Bürofenster. Dort gehen sie, diese zwei lieben Menschen, die noch vor zwei Stunden bei uns im Krankenhaus auf Hilfe gehofft hatten. Ich fühle mich so schwach, so hilflos, so unendlich traurig!

    Der großgewachsene ältere Herr hat den Kragen seines Mantels aufgestellt. Die Kappe, die er trägt, zieht er sich noch ein bisschen tiefer in die Stirn. Eine junge Frau begleitet ihn, viel zu dünn bekleidet für dieses kalte windige Wetter. Noch von Weitem kann ich ihren runden Bauch sehen, den sie mit ihren Händen umfasst, so als wolle sie das Ungeborene in ihrem Leib beschützen. Ich habe sie fortgeschickt – nicht, weil ich es wollte, sondern weil man es mir aufgetragen hatte.

    Meine Traurigkeit schlägt in Wut um: Warum eigentlich? Warum sollte ich sie fortschicken? Ich wollte sie nicht wegschicken! Ist sie nicht ein Mensch wie wir alle, ein Mensch, der Hilfe braucht? Wir hätten sie ihr doch geben können.

    Was konnte ich damals als recht junge Pastorin und Krankenhausseelsorgerin schon ausrichten, wenn es darum ging, auch einmal gegen allgemein geltende Vorschriften zu handeln und zu helfen, einfach aus reiner Menschlichkeit für einen anderen in Not einzutreten?

    Einmal mehr wünschte ich mir, ich könnte etwas ändern an diesen „Vorschriften", die uns vom Staat vorgegeben wurden, die vielleicht gut und richtig sind für die meisten Menschen im Land, aber den Einzelnen und seine Umstände nicht immer ausreichend berücksichtigen.

    „Ich habe diese junge Frau auf der Straße sitzen sehen und sie angesprochen. Sie sah so hilflos aus, so traurig, so mutlos. Sie ist illegal in Deutschland, schwanger und sie hat kein Zuhause. Sie meinte, sie würde bald entbinden. Sie kann und möchte ihren Namen aber nicht nennen.

    Frau Pastorin, sie hat niemanden, der ihr bei der Geburt helfen kann, sie kann das Baby auch nicht behalten! Wissen Sie eigentlich, was mit solchen Frauen und Kindern geschieht? Bitte, das hier ist doch ein christliches Krankenhaus, bitte, helfen Sie ihr! Wir können doch nicht einfach zulassen, dass sie in ihr Unglück läuft."

    Der ältere Mann hatte mich mit wässrigen Augen angesehen. Eine dicke Träne war über seine kalte rote Wange gerollt. Es tat mir in der Seele weh, die beiden so zu sehen.

    „Aber natürlich werden wir Ihnen helfen, hatte ich ihn zu beruhigen versucht, „ich koche Ihnen erst einmal Tee, der wird Sie aufwärmen. Und dann gehe ich auf die Entbindungsstation und werde einen Arzt bitten, Sie sich anzusehen.

    Auf der Treppe hinauf zu den Stationen hatte ich überlegt, wie ich den Arzt davon überzeugen konnte, dass diese schwangere Frau unsere Hilfe brauchte. Schon einige Male hatte ich erlebt, dass meine Meinung nicht unbedingt der Meinung der Ärzte entsprach. Aber hier musste man doch eine Lösung finden können!

    Mein Gespräch mit dem Arzt, den ich in seinem Büro antraf, wurde alles andere als erquicklich. Nachdem ich ihm die Situation geschildert hatte, war er hinter seinem Tisch aufgestanden, hatte mich ernst angeblickt, einmal tief durchgeatmet, die Hände in seinem Arztkittel vergraben und mir dann mit allem Nachdruck gesagt:

    „Schicken Sie sie weg, Frau Stangl. Das ist illegal! Die geltenden Gesetze verbieten es uns, einer Frau, die anonym gebären will, zu helfen. Wenn wir ihr helfen würden, hätten wir die Polizei im Haus, und das wäre sehr abträglich für unseren guten Ruf. Es gibt nun mal Grenzen für unsere Hilfsbereitschaft, bitte verstehen Sie das! Leute wie diese Frau sollten sich vorher überlegen, was auf sie zukommen kann, wenn sie sich so nach Deutschland aufmachen. Schicken Sie die beiden weg, wir können nichts für sie tun."

    „Wir können nichts für sie tun … abträglich für unseren guten Ruf …" Diese Worte rauschten mir noch immer in den Ohren, als ich die Treppen hinunter zu meinem Büro lief. Was ich da zu hören bekommen hatte, war wie eine Ohrfeige für mich. Nichts! Das konnte doch nicht sein! Es ging hier um Leben. Um das Leben zweier Menschen, die unseren Schutz brauchten. Es musste doch eine Lösung geben!

    Es war nicht das erste Mal, dass ich in meiner Arbeit als Seelsorgerin vor großen, schier unüberwindlichen Mauern stand, wenn es darum ging, einer Frau zu helfen, die ungewollt schwanger geworden war. Oder die ihr Kind nicht behalten konnte, weil sie – aus welcher Not heraus auch immer – nicht wusste, wie sie es durchbringen sollte.

    Tage- und wochenlang konnte ich an nichts anderes mehr denken. Das Bild der beiden, die da völlig ohne Hoffnung von dannen zogen, ließ mich nicht mehr los. Ich versuchte herauszufinden, warum es nicht gehen sollte, in diesen Situationen helfend einzugreifen. Die Antwort war jedes Mal die gleiche. Immer wieder hieß es nur: „Da können wir nichts machen."

    Wirklich nicht?

    Nur eine Handvoll Leben

    Und wenn nur ein einziges Kind durch das Hilfsangebot „Babyklappe" gerettet werden würde, so hat sich der ganze Aufwand gelohnt!

    Kinderschwester Antje war in einem Nebenraum des Kinderzimmers verschwunden, das ganz am Anfang des langen Ganges der Geburtshilfe des Krankenhauses untergebracht war, und hatte mich angerufen. Heimlich. Eigentlich hatte sie warten sollen, bis man mehr wusste.

    Dr. Siegbert Heck, der Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe im „Waldfriede", wollte mich erst dann informieren, wenn er sich ganz sicher war, das Kind retten zu können. Aber meine liebe Antje wusste, was mir die Nachricht bedeutete, die sie mir gleich überbringen würde. Und so wollte sie die Erste sein, die mir die Neuigkeit erzählte.

    „Echt …?! Ich hatte mich auf dem Sofa aufgesetzt, auf dem ich schon den ganzen Vormittag gelegen und meine Backe gekühlt hatte. „Antje, das ist ja ganz wunderbar! In dem Moment erinnerte mich ein heftiger Schmerz im Kopf an meine prekäre Lage. „Nein, das kann doch nicht wahr sein! Gerade jetzt, wo ich krankgeschrieben bin! Bitte, liebe Antje, ist Dr. Heck irgendwo in der Nähe? Kannst du ihn mir an den Apparat holen? Das muss er mir sofort ganz genau erzählen!"

    „Aber sag bitte nicht, dass ich dich zuerst angerufen habe. Er wollte es dir selbst sagen."

    „Keine Angst, ich verrate dich nicht. Bring den Apparat einfach zu ihm und sag ihm, ich würde ihn gerne sprechen."

    Wie lange hatte ich auf diesen Moment gewartet! Mir wurde ganz heiß vor lauter Aufregung. Man hatte mir tags zuvor einen eitrigen Backenzahn gezogen, der mir noch immer ordentlich zu schaffen machte, aber es war nicht das Fieber, das diese Hitzewallung verursachte. Das, was man mir soeben mitgeteilt hatte, kam irgendwie so unerwartet und war deshalb besonders schön, sodass mein Schmerz wie weggeblasen schien!

    „Ja, hallo Gabi, schön, dass du anrufst. Ich habe eine Überraschung für dich: Wir haben vor einer halben Stunde unser erstes Baby aus der Babyklappe geholt. Es ist ein kleines Mädchen, dunkle Haare, viel zu früh geboren, nur 32 Grad kalt und leider nicht unbedingt im besten Zustand …!"

    Ein kleines Mädchen! Meine Begeisterung wurde schnell gedämpft durch die Worte: nicht im besten Zustand. Ich kannte Siegbert, er neigte dazu, einen schlimmen Zustand immer etwas freundlich zu schönen, damit man nicht zu tief fallen würde.

    In meine Freude von gerade eben mischte sich nun große Sorge. „Was ist los mit der Kleinen, bitte sag es mir, verschweig mir nichts!"

    „Na ja", er stotterte ein wenig herum. Ich hörte dieses leise, unterdrückte Stöhnen, das er immer von sich gab, wenn er nach Worten suchte. Mit jeder Sekunde, die er nichts sagte, wuchs meine Angst um dieses kleine Wesen.

    Ich war vom Sofa aufgesprungen, die Decke noch immer um mich gewickelt und den Eisbeutel gegen die Schmerzen in der einen, das Telefon in der anderen Hand.

    „Also … sie hat auffällig viele blaue Flecken, ihr linker Arm ist sehr dick, ihr Allgemeinzustand ist schlecht. Sie wiegt nur 1450 Gramm, ist nur Haut und Knochen und ziemlich apathisch, was bei dieser Körpertemperatur aber kein Wunder ist. Sie war wirklich gut angezogen: Unterwäsche, Strampelhöschen, Jäckchen … das ganze Programm halt. Und dann war sie auch noch in einen Fußsack von einem Kinderwagen gehüllt."

    Siegbert versuchte, mir alles so schonend wie möglich zu berichten. Genau wie ich hätte er sich über ein gesundes und kräftiges Baby gefreut, dem man schnell hätte helfen können.

    „Kann ich sie gleich einmal besuchen kommen? Ich kann doch jetzt nicht zu Hause bleiben."

    „Leider hätten wir sie hier in Waldfriede nicht durchbekommen, dafür haben wir nicht das medizinische Equipment. Wir haben sie vor ein paar Minuten auf die Neonatologie des Klinikums Benjamin Franklin verlegen lassen. Tut mir leid, Gabi, dass wir dich nicht gleich benachrichtigen konnten, damit du sie noch siehst. Aber wir hatten alle Hände voll damit zu tun, sie zu stabilisieren!"

    Ich setzte mich, ein wenig kraftlos und mit einem tiefen Seufzen, zurück auf das Sofa. Natürlich konnte ich verstehen, dass jetzt nur das Leben des Kindes zählte.

    „Habt ihr ihr schon einen Namen gegeben?", war meine nächste Frage.

    „Die Hebammen meinten, LISA wäre doch ein schöner Name, und ich dachte mir, WALD für Waldfriede wäre der perfekte Nachname. Bist du damit einverstanden?"

    Damit konnte ich leben, wenngleich ich schon ein bisschen traurig darüber war, dass ich so gar keinen Einfluss mehr auf ihren Namen hatte. Doch das alles war im Moment gar nicht wichtig. Ich wollte jetzt nur mehr bei diesem kleinen Kind sein, das mir schon jetzt so viel bedeutete.

    Meine Backe tat mir überhaupt nicht mehr weh. Was saß ich hier noch herum? Doch wie immer nach solchen Gefühlswallungen schaltete sich doch noch mein Verstand ein und ermahnte mich, dass ich jetzt ja doch nichts für unsere kleine Lisa tun könnte. Besser noch eine Nacht die Backe kühlen, das Fieber senken und erst am nächsten Tag ins Klinikum fahren.

    Dichter, weißer Nebel hing am nächsten Morgen über Berlin. Wie mit diesem Nebel ist es manchmal im Leben, dachte ich mir. Er nimmt uns die Sicht und hüllt alles in dichtes Grau. Doch wenn er sich verzieht, wird es meistens ein strahlend sonniger Tag. Wäre es nicht schön, wenn es im Leben unserer Kleinen genauso würde?

    Ich war mit einer Bekannten ins Krankenhaus gefahren. Sie war am Anfang der Ideen und Planungen für unsere Babyklappe dabei gewesen. Doch schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass es schwierig war, „Nicht-Personal" in ein Krankenhausgeschehen mit einzubinden. Da ich wusste, dass sie sich als leidenschaftliche Mutter genauso über dieses kleine Geschenk freuen würde wie ich, fuhren wir gemeinsam zu Lisa.

    Schon im Aufzug wurde ich ganz nervös. Nur keine Aufregung, versuchte ich mich zu beruhigen, es wird alles gut werden.

    Tausend Gedanken stürmten auf mich ein. Was, wenn sie krank war? Was, wenn man keine Eltern für sie finden würde? Außerdem: Wir hatten zwar darüber gesprochen, wie es wäre, wenn wir die Leistungen eines anderen Krankenhauses in Anspruch nehmen müssten, wie es aber im Einzelfall aussehen würde, konnten wir uns nicht beantworten. Was würde da mit Lisas Behandlung auf uns zukommen?

    Diese Gedanken verflüchtigten sich, als ich vor Lisas Brutkasten stand: Ein kleines, mageres, dennoch hübsches kleines Mädchen, mit einer Haut so dünn wie Pergament, lag da vor uns. Jedes Äderchen war sichtbar, kein Gramm Fett war an ihren Rippen. 1,45 Kilogramm Mensch, aber alles dran, was dran gehört. Eine viel zu große Windel war alles, was sie anhatte. Dieser Umstand ließ sie noch zerbrechlicher aussehen, als sie sowieso schon war. Ihr dicker rechter Arm fiel auf. Was war nur mit diesem kleinen Wurm geschehen? Und diese vielen blauen Flecken! War sie misshandelt worden? Ich wollte mir das gar nicht ausmalen.

    „Darf ich mich vorstellen? Ich bin der behandelnde Arzt der kleinen Lisa. Wir freuen uns, dass wir Ihnen bei diesem kleinen Sonnenschein helfen können."

    Ein freundliches, braun gebranntes Gesicht schaute mir von der gegenüberliegenden Seite des Brutkastens entgegen. Ich hatte nur Augen für Lisa gehabt und nicht mitbekommen, dass zwei weitere Personen den Raum betreten hatten.

    „Das ist Schwester Kerstin. Sie kümmert sich um diesen mageren Spatz." Zwei fröhliche Menschen begleiteten meine Süße vom ersten Tag an. Wie beruhigend!

    Das Gespräch mit dem Kinderarzt und der Kinderschwester der Station brachte Klarheit in unsere Befürchtungen.

    „Dieses Kind muss ein Armvorfall gewesen sein, das heißt, der Arm wurde zuerst geboren. Ein klarer Fall für einen Notkaiserschnitt. Wie die Mutter es geschafft hat, dieses Kind trotzdem auf normalem Wege und dann auch noch alleine zu gebären, wird uns ein Rätsel bleiben. Das Mädchen muss heftig am Arm gezogen worden sein, deshalb dieser dicke Arm. Auch die blauen Flecken zeugen davon, dass es keine leichte Geburt war.

    Dass sie eindeutig in keinem Krankenhaus geboren wurde, zeigt die Versorgung des Nabels. Absolut unprofessionell. Leider kann ich Ihnen nicht sagen, ob sie ihren Arm jemals wird gebrauchen können. Es könnten wichtige Nerven verletzt worden sein. Bis jetzt jedenfalls kann sie ihren Arm nicht bewegen. Darüber hinaus wird sie wohl eine Bluttransfusion brauchen, wenn sich ihre Befunde in den nächsten 24 Stunden nicht bessern."

    Das waren keine guten Nachrichten. Aber sie lebte und man würde alles tun, damit sie die nächsten kritischen Tage gut überstehen würde.

    „Wollen Sie ein wenig mit ihr kuscheln? Sie kann jede Streicheleinheit gut gebrauchen, um wieder gesund zu werden."

    Die Kinderschwester hatte uns die ganze Zeit beobachtet und gesehen, wie liebevoll wir dieses Baby betrachtet hatten. Sie wartete unsere Antwort gar nicht ab. Sie griff in den Brutkasten, stöpselte das Kindchen von den Überwachungsgeräten ab und gab uns zu verstehen, dass wir uns die Hände desinfizieren sollten. Dann legte sie uns das Baby abwechselnd in die Arme.

    Das war mehr, als wir beiden Frauen erhofft hatten. Zärtlich und mit aller Vorsicht hielten wir sie, und wie alle Mütter dieser Welt, zählten wir die Fingerchen, staunten über die vielen Haare und freuten uns, wenn sie das Gesicht verzog und wir in diese Grimassen ihr erstes Lächeln hineininterpretierten. Lisa, unsere liebe kleine Lisa!

    Als wir wieder nach Hause fuhren, ein wenig wie beschwipst vor lauter Glück, brach auf einmal die Sonne mit aller Macht zwischen den noch verbliebenen Wolken hervor und tauchte die Welt in goldenes Licht. Hatte ich nicht gesagt, dass es ein wunderschöner Tag werden würde?

    Lisa wuchs, nahm zu und gedieh. Sie war ein regelrechtes Energiebündel. Sie wollte leben. Alles, was ihr fehlte, war Zeit: Zeit, um zu wachsen und zuzunehmen. Zeit, um sich altersgerecht zu entwickeln. Aber die bekam sie. Insgesamt waren es 40 Tage, die sie im Klinikum verbrachte, dann ging es nach Hause.

    Ja, wirklich, es ging nach Hause! Ein junges und sehr liebes Ehepaar stand eines Tages vor ihrem Bettchen, als ich Lisa besuchen wollte. Sie strahlten über das ganze Gesicht, als sie mir erzählten, dass sie die Adoptiveltern der kleine Lisa wären. Sie hatten sich für eine Adoption beworben, mussten lange Zeit warten und nun war es endlich so weit, dass sie eine Tochter ihr Eigen nennen durften.

    Dass sie nicht wussten, woher sie kam und wer ihre Eltern waren, spielte für sie keine entscheidende Rolle. Lisa brauchte Eltern und sie wollten eine kleine Lisa. Sie hatten sich gefunden und würden sich von nun an nicht mehr loslassen …

    Es gab so viel Liebe, die von nun an an Lisa weitergegeben werden durfte. Lisa, die bei ihren Eltern nun Luisa hieß.

    Wahrheit und Liebe – ein unschlagbares Team!

    Ich kann versichern, dass ich die Adoptiveltern der Kinder allesamt als rundum liebevolle, sehr gut zum Kind passende und umsichtige Menschen erlebt habe. Man wird nicht nur durch den Umstand, ein Kind geboren zu haben, zur Mutter. Eine Mutter wird man im täglichen Zusammenleben mit diesem Kind. Es gibt nichts, was eine Adoptivmutter nicht genauso gut könnte wie eine biologische Mutter: Sie tröstet, sie motiviert, sie verbindet und hört zu. Sie geht mit einem durch Freud und Leid, durch dick und dünn. Mutter zu sein, hat nicht zwingend damit zu tun, dass man dieses Kind, das man begleitet und liebt, neun Monate im eigenen Leib ausgetragen hat!

    Zwei Dinge machen ein Kind stark – und hiermit meine ich jedes Kind. Es sind dies: Liebe und Wahrheit. Über Liebe müssen wir uns nicht unterhalten, das versteht jeder. Mit der Wahrheit, nun, da gehen die Meinungen manchmal auseinander.

    Früher, sicher jedoch auch noch in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, meinte man, dass man das Kind schonen müsse und ihm nicht erzählen solle, dass es nicht das leibliche Kind ist. Kam es dann doch heraus – schlimmstenfalls durch einen gehässigen Nachbarn oder einen falschen Freund –, war das Desaster groß. Das Kind fühlte sich zu Recht betrogen und belogen. Die Basis für sein Leben wurde ihm unter den Füßen weggezogen. Übler geht es kaum.

    Es war mir deshalb immer sehr wichtig, mit den Adoptiveltern darüber zu reden, dass sie ihrem Kind von Anfang an die Wahrheit über seine Herkunft altersgerecht erzählen sollten. Da sprachen wir von „Bauchmüttern und „Herzensmüttern, von dem Vorrecht, zwei Mütter haben zu dürfen, die jede auf ihre Art das Kind lieben und geliebt haben. Bei der einen Mutter ist das Kind im Bauch gewachsen, bei der anderen im Herzen!

    Die Adoptivfamilien berichteten mir von lieb gewonnenen Ritualen, die bei ihnen praktiziert wurden: So erfuhr ich von Familien, die mit ihrem Adoptivkind jeden Abend auch für die Bauchmama beten, damit es ihr gut geht. Sie haben Schachteln bunt beklebt und in ihnen liegen Briefe an die abgebende Mutter, Locken, ein Milchzahn, Schokoriegel, Selbstgebasteltes und selbst gemalte Bilder und viele, viele Fotos. Sie ist ein Teil der Familie, denn ihr verdanken sie es, dass sie nun miteinander leben dürfen.

    „Das wird alles anders, sobald das Kind in die Pubertät kommt", höre ich so oft. Das kann sehr gut sein! Aber ich möchte zu bedenken geben, dass die Probleme mit den eigenen Kindern in der Pubertät und darüber hinaus auch kein Honigschlecken sind. Diese Zeit ist nun mal schwierig, aber mit Liebe und Wahrheit als Grundstein in ihrem Leben geht auch diese Zeit vorbei.

    Ob sie es in der biologischen Familie so gut gehabt hätten wie in der Adoptivfamilie? Wer weiß! Wenn eine Frau in die Situation kommt, ihr Kind nicht behalten zu können, müssen entscheidende Dinge in ihrem Leben nicht stimmen. Was immer der Grund ist, das Kind hätte es wahrscheinlich nicht leicht gehabt. Aus eigener Erfahrung mit diesen Müttern weiß ich, dass das Kind oft zum großen Problem geworden wäre.

    Wie das bei Luisa gewesen wäre, nun, das weiß niemand. Aber wie sich ihre Geschichte fortgesetzt hat, davon weiß ich zu berichten:

    Das Wiedersehen

    Hopsend, fröhlich und selbstbewusst kam das kleine Mädchen mit den langen, blonden Haaren über den Krankenhaushof auf die Pforte zu. In der einen Hand hatte sie eine Tragetasche für ein Baby, in der anderen Hand schwang sie in großen Armkreisen einen Blumenstrauß. Der sollte für mich sein, wie sich sehr schnell herausstellte.

    Sie war zart für ihr Alter, aber der Schalk blitzte ihr aus den blauen Augen und sie verströmte Charme aus allen verfügbaren Knopflöchern. Man konnte gar nicht anders, als ihr entgegenzulachen.

    „Ich bin die Luisa und du bist die Frau Stangl, nicht wahr? Ich bin hier bei dir in der Babyklappe gewesen, ich war dein erstes Babyklappenkind."

    Na, damit war doch schon einmal alles gesagt, die Sache war ganz klar!

    „Freut mich sehr, dich kennenzulernen, und ich darf sagen, dass du richtig groß geworden bist, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe!"

    Daran war jedes Wort wahr. Sie stapfte die Treppen hinauf

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