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YOU MAY LOVE ME: Über alle Grenzen
YOU MAY LOVE ME: Über alle Grenzen
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eBook269 Seiten3 Stunden

YOU MAY LOVE ME: Über alle Grenzen

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Über dieses E-Book

Deans Geständnis über jene Nacht, in der er zum vermeintlichen Straftäter wurde, war erst der Anfang. Seine Vergangenheit birgt weit tiefere Abgründe, die May zutiefst erschüttern. Sie ist zu einer Entscheidung gezwungen, bei der sie selbst nur verlieren kann. Doch um June zu beschützen, ist sie bereit, alles zu opfern.

Dean kann die beiden Frauen in seinem Leben jedoch nicht kampflos aufgeben. Er will May beweisen, dass sie nichts zu befürchten haben. Die Rechnung hat er aber ohne seinen Bruder gemacht, der plötzlich wieder bei ihm auftaucht. Und mit ihm scheinen Mays schlimmsten Befürchtungen wahr zu werden.
Welche Grenzen würdest du überschreiten für die Menschen, die du liebst?

Teil 2 einer Geschichte über bedingungslose Liebe und dunkle Geheimnisse. Über Vertrauen, Familie und böse Vorahnungen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum9. Nov. 2018
ISBN9783961731763
YOU MAY LOVE ME: Über alle Grenzen

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    Buchvorschau

    YOU MAY LOVE ME - Evy Winter

    978-3-96173-176-3

    Kapitel 1

    May

    Bisher wusste ich nur aus Filmen, den Nachrichten oder Geschichtsbüchern, wozu Hass befähigt. In meiner Welt existierte weder Brutalität noch Gewalt; das Leben ist auch so schon schwer genug für manche von uns. Doch jetzt begreife ich, wie nah dieser Hass ist. Er umgibt uns immer und überall, und er kann den Menschen schaden, die ich liebe. Menschen wie June.

    »Nick hätte beinahe diesen behinderten Mann getötet und du … hast ihn geschützt?« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Ich halte die Tränen zurück, bringe es nicht fertig, zu ihm aufzusehen. »Weil du selbst mal einer von ihnen warst?«

    Dean sagt kein Wort, da wir beide die Antwort kennen. Der Mann, der sich immer so liebevoll und fürsorglich verhalten hat – vor allem June und mir gegenüber –, soll sich freiwillig mit so einem rechtsradikalen Pack eingelassen haben? Das kann ich nicht begreifen. Ich will es nicht begreifen.

    Die Cafeteria des Krankenhauses, in der nur noch wir beide sitzen, wirkt trostlos. Genauso sieht es gerade in mir aus. Ich suche nach Antworten, will ihm in die Augen sehen, um darin die Wahrheit zu finden, um zu erfahren, was für ein Mann er wirklich ist. Doch ich habe Angst davor, etwas zu erkennen, das mich unwiederbringlich von ihm trennt.

    »Wie konnte es dazu kommen? Ich meine … ausgerechnet du …«

    Ich schaue auf und sehe auf einmal einen gebrochenen Mann vor mir.

    Dean hebt seinen schimmernden Blick und streift sanft mit dem Daumen über meine Wange. Ich zucke nicht zurück, warte auf seine Erklärung.

    »In meiner Jugend hatte ich nicht viel, worauf ich mich freuen konnte«, beginnt er stockend. »Mein einziger Freund war Paul und seine Eltern ließen ihm wenig Freiheiten. Ich hatte immer das Gefühl, vollkommen allein auf dieser Welt zu sein. Bis ich Dina und Trevor begegnete.«

    Dean nimmt meine Hand und führt sie an seine zitternden Lippen. Liebevoll küsst er jeden einzelnen meiner Fingerknöchel und schmiegt dann seine Wange in meine Handfläche.

    »Auf einmal gab es Menschen, denen ich etwas bedeutete. Das dachte ich zumindest«, spricht er gedankenverloren weiter. »Ich hatte keine Zweifel an dem, was sie mir eintrichterten. Ich habe mich von ihnen manipulieren lassen, war gar nicht mehr in der Lage selbst zu denken.« Er schnaubt abfällig. »Erst als ich etwas tun sollte, was ich unmöglich konnte, schaltete sich mein Verstand wieder ein. Ich bin ausgestiegen, aber Nick steckte mittendrin. Über all die Jahre konnte ich nichts tun, um ihn von The Right Order wegzuholen. Mir blieb nur, auf ihn aufzupassen.« Dean reibt seine Hände an den Oberschenkeln und stützt dann die Ellbogen darauf ab. »Ich habe wirklich geglaubt, dass er diese Organisation nach dem, was er getan hat, endlich infrage stellt und ebenfalls den Ausstieg schafft. Denn ich weiß, mein kleiner Bruder ist genauso wenig ein Neonazi, wie ich es bin.«

    Ich schüttle den Kopf. »Aber warum hat er das dann getan?«

    »Nick ist zu Trevors Schoßhündchen mutiert. Er tut alles, was er von ihm verlangt. Für meinen Bruder ist er mehr als nur ihr Anführer. Trevor ist wie ein Vater für ihn.« Er zuckt die Schultern. »Einige Male hatte ich die Hoffnung, dass Trevor ihn wegen seiner Drogeneskapaden rausschmeißt. Aber dazu kam es nie, obwohl Drogen eigentlich nicht toleriert werden. Ich kann mir selbst nicht erklären, warum Nick für Trevor so wichtig ist.«

    »Wieso hast …«

    »Sie ist wach!«

    Ich starre Paul an, brauche einen Moment, bis seine atemlosen Worte in mein Bewusstsein dringen, mich von Deans Vergangenheit losreißen und wieder ins Hier und Jetzt schleudern. Zeitgleich springen wir beide auf und folgen Paul.

    June ist wach! Das bedeutet, sie hat die langanhaltende Narkose während der Operation verkraftet. Dem Himmel sei Dank! Meine größte Sorge war, sie könne nicht mehr aufwachen, da konnte mir der Arzt noch so oft beteuern, die OP sei gut verlaufen. Nur Deans Geschichte half mir in den vergangenen Stunden des Wartens dabei, nicht völlig durchzudrehen, und auch wenn ich sie bis ins letzte Detail wissen will, ist meine Schwester gerade wichtiger. Nichts ist wichtiger als sie.

    Der Weg zur Intensivstation kommt mir endlos vor, auch wenn wir die Gänge nur so entlanghetzen. Als wir endlich da sind, stoppt uns eine Krankenschwester.

    »Halt. Erst einmal sollte nur einer von Ihnen zu ihr gehen, sie ist noch sehr benommen. Außerdem müssen Sie diesen Mundschutz anlegen und sich gründlich desinfizieren.«

    Sie deutet auf das Waschbecken neben uns. Ich drehe mich zu Dean herum, der mir bedrückt zulächelt und zur Zimmertür zeigt.

    »Los, mach schon. Geh zu ihr und gib ihr einen Kuss von mir. Sag ihr, sie soll gefälligst schnell wieder gesund werden.«

    Ich desinfiziere meine Hände und lege den Mundschutz an, dann nicke ich der Schwester zu und sie öffnet mir die Tür.

    Bei Junes Anblick zieht sich mein Magen schmerzlich zusammen. Haufenweise medizinische Geräte piepsen abwechselnd vor sich hin. Dutzende Schläuche hängen überall an ihrem Körper, ihre Lippen sind völlig ausgetrocknet und die Mundwinkel leicht eingerissen und blutig. Sie ist furchtbar blass und sieht entsetzlich schwach aus. Dieses Gefühl, sie so verwundbar zu sehen und nichts dagegen unternehmen zu können, lässt sich nicht beschreiben. Es ist … grausam, und selbst das beschreibt es nicht im Ansatz.

    Ich trete an ihr Bett heran und streichle sie sanft.

    »Hi, Schwesterherz.«

    Sie fühlt sich kalt an. Vorsichtig hebe ich ihren Unterarm mit einer Hand an, ziehe die Decke mit der anderen darunter hervor und bedecke ihre eisige Haut. June lässt es einfach geschehen und blinzelt ein paarmal. Ich beuge mich zu ihr und küsse sie auf die Stirn. Auch jetzt keine Gegenwehr, wie es normalerweise der Fall wäre. Es muss ihr wirklich sehr schlecht gehen.

    »Den sollte ich dir von Dean geben«, flüstere ich. »Er wartet draußen. Nina und Paul sind auch hier. Sie wollen alle, dass du schnell wieder gesund wirst, Schwesterherz. Wir sind so froh, dass du endlich wach bist.«

    Sie sagt nichts. Selbst ihr Vor-sich-hin-Brabbeln bleibt aus. June ist kraftlos und unheimlich müde, aber sie lebt. Sie ist noch bei mir! In diesem Augenblick begreife ich, dass ich sie vermutlich mehr brauche als sie mich.

    »Tu mir das nie wieder an«, flüstere ich. »Ich kann nicht ohne dich sein. Auch wenn ich nicht immer die beste Schwester für dich bin, ohne dich bin ich nichts. Du darfst mich nicht alleinlassen, June.«

    Sie stößt einen krächzenden Ton aus und schließt die Augen.

    »Brauchst du was? Hast du Schmerzen?«, frage ich besorgt, doch sie reagiert nicht.

    Ihr Atem geht gleichmäßig, genau wie das Piepsen der Geräte. Sie ist eingeschlafen.

    Neben ihrem Bett hat man einen Schlafplatz für mich hergerichtet. An Schlaf ist jedoch nicht zu denken. June hat das Gröbste überstanden und das beruhigt mich, doch es rattern so viele Gedanken durch meinen Schädel, dass ich nicht zur Ruhe kommen könnte. Ich hoffe, es kommt nicht doch noch zu Komplikationen. Bisher kann ich nicht abschätzen, welche Nachwirkungen der Magendurchbruch für June mit sich bringt. Wie lange wird sie hierbleiben müssen? Wird sie regelmäßig Medikamente einnehmen müssen oder braucht ab sofort spezielle Nahrung? Wird sie überhaupt wieder normal essen können? Kann es wieder passieren? Der Arzt wird mir morgen mehr darüber sagen können. Bis dahin versuche ich, mir keine zu großen Sorgen mehr zu machen.

    Ich gehe hinaus, um den anderen zu sagen, dass es June den Umständen entsprechend gut geht. Paul und Nina wirken erleichtert, machen jedoch keine Anstalten, das Krankenhaus zu verlassen.

    »Nina, ich danke dir, dass du die ganze Zeit hier gewesen bist, aber jetzt solltest du nach Hause gehen und dich ausruhen. Die Kids brauchen dich«, sage ich zu ihr. Sie schläft beinahe im Stehen ein.

    Dean klopft seinem besten Freund auf die Schulter. »Bring sie ins Bett und kümmere dich um sie«, sagt Dean zu Paul, der leicht grinst.

    »Das werde ich, auch wenn das gerade leicht versaut geklungen hat.«

    Wir alle lachen zum ersten Mal an diesem Tag und verabschieden uns voneinander.

    Nur Dean will nicht gehen – und ich will auch nicht, dass er geht. Nicht, bevor ich alles weiß. Lückenlos.

    Wir sitzen im Wartebereich vor der Station. Auch jetzt ist niemand außer uns hier, das Krankenhaus wirkt wie ausgestorben. Um etwas Distanz zwischen uns zu bringen, die meinen Kopf klarer machen soll, setze ich mich ihm gegenüber. Das kleine Tischchen, auf dem Broschüren aufgereiht liegen, bietet den nötigen Abstand. Dean sieht mich enttäuscht an. Ich kann an seiner erschlaffenden Körperhaltung sehen, wie weh es ihm tut, dass ich mich von ihm entferne. Auch ich fühle den Schmerz. Aber es ist besser so.

    »Was ist passiert?«, frage ich vorsichtig. »Dass du ausgestiegen bist, meine ich.«

    »Willst du das wirklich wissen?« Seine Stimme ist angsterfüllt und er sieht kopfschüttelnd zu Boden. Seine Furcht ist fast greifbar. Was auch immer es ist, muss schrecklich sein. Und dennoch …

    »Ja. Ich muss es wissen.« Ich schlucke schwer. »Auch wenn es mir nicht gefallen wird.«

    Dean nickt mit hängendem Kopf und faltet abermals die Hände vor dem Gesicht. »Gut. Aber vorher musst du mir etwas versprechen.« Dean holt tief Luft. »Ich habe bisher noch nie darüber gesprochen – mit niemandem. Aus gutem Grund. Du darfst auf keinen Fall damit zur Polizei gehen. Nicht meinetwegen, sondern deinetwegen.« Er ballt die Hände zu Fäusten, begegnet meinem fragenden Blick. »Trevor ist nicht nur ein brutaler Neonazi. Er ist ein Psychopath und Terrorist mit Kontakten, die um die halbe Erdkugel reichen. Also versprich mir, dass du nichts sagen wirst, zu niemandem!«

    Du machst mir Angst!, würde ich am liebsten erwidern. Aber ich tue es nicht. Innerlich bereite ich mich auf eine lange Nacht vor, denn mir ist bewusst, dass alles, was ich bisher weiß, bloß die Spitze des Eisbergs ist. Mir bleibt nur zu hoffen, dass dessen gesamtes Ausmaß meine Liebe zu Dean nicht untergehen lässt, als ich sage: »Okay.«

    Kapitel 2

    Dean … 10 Jahre zuvor

    Ich reinige meine Stiefel gründlich, wie ich es immer tue, bevor ich zu diesen Versammlungen gehe. Akkurat gele ich meine Haare zur Seite und streife die Jacke über. Sie ist mit verschiedensten Symbolen aus der guten alten Zeit versehen.

    Erhobenen Hauptes verlasse ich das Haus. Meine ganze Aufmachung offenbart jedem auf der Straße, welche Meinung ich vertrete. Ich folge nicht nur einem Modetrend, wie es meine Eltern vermuten. Es ist meine Lebenseinstellung. Nur die, die Stärke und den Willen zeigen, für den Erhalt der eigenen Rasse zu kämpfen, alles dafür zu geben und gegebenenfalls zu opfern, werden die Welt zu einer besseren machen.

    The Right Order besteht aus solchen Kämpfern. Ihnen habe ich mich angeschlossen. Sie sind nicht nur Freunde, sie sind meine Brüder und Schwestern. Wir sind eine Gruppe Gleichgesinnter und wollen die alte Ordnung wiederherstellen, denn nur diese wird uns letzten Endes Frieden bringen. Die Mitglieder treten füreinander ein, wie es eine Familie tun sollte. Im Gegenzug wird nichts verlangt als absolute Hingabe für die Sache. Und ich gebe mich ihr hin, vollkommen. Seither überlegt man es sich zweimal, ob man sich mit mir anlegt oder nicht. Denn hinter einem Mitglied von The Right Order stehen Hunderte weitere. Bereit, alles zu tun.

    Auf halber Strecke läuft mir Dina schon entgegen. Sie sieht süß aus in dem engen schwarzen Shirt. Reichlich bunt tätowierte Haut blitzt darunter hervor, das kinnlange schwarze Haar umspielt wild gelockt ihr Gesicht. Die Hosenträger hängen locker über ihren Schultern und auch sie trägt ihre lupenreinen Stiefel. Dina ist das erste Mädchen, das mir wirklich gefällt, weil sie so anders ist. Sie macht ihre eigenen Regeln, was mich maßlos beeindruckt. Mich, der sich immer an die Regeln gehalten, oder es zumindest versucht hat.

    Ihr und ihrem Vater habe ich es zu verdanken, meinen Platz bei The Right Order gefunden zu haben. Sie zeigen mir, dass es Leute gibt, die sich für mich interessieren und die mir zuhören. Dina und Trevor haben mir eine neue Welt gezeigt, zu der ich unbedingt dazugehören will. Ganz egal, was es mich kostet.

    Gerade noch pünktlich betreten wir das Clubhaus. Es ist voll und wir müssen uns nach vorne durchdrängeln, um Trevor richtig verstehen zu können.

    »Wir sollten dem Ganzen ein Ende setzen! Jetzt!«, schreit unser Anführer. »Und genau dort fangen wir an. Wir müssen endlich handeln! Bloßes Gerede beeindruckt niemanden, wenn keine Taten folgen! Wir dürfen uns das nicht bieten lassen! Es ist unsere Stadt und hier regieren wir!«

    Dina presst sich eng an meine Seite, während wir gebannt den Ausführungen von Trevor lauschen, der voll und ganz in seinem Element ist. Ihre dünnen Finger umschlingen fest meinen Unterarm. Je enthusiastischer Trevor redet, desto tiefer gräbt sie ihre Fingerspitzen in mein Fleisch. Kurz schiele ich zu ihr hinüber und muss augenblicklich lächeln. Sie ist dermaßen gefesselt von der Rede, dass sie aufgeregt auf ihrer Unterlippe herumkaut. Sie sieht zu ihm auf, was nicht ausschließlich dem Umstand geschuldet ist, dass Trevor ihr Vater ist. Dina glaubt und vertraut ihm kompromisslos.

    Jedes seiner Worte quittiert sie mit einem heftigen Nicken. Zwischendurch ruft sie »Genau!« und »Du sagst es!«. Dabei ballt sie die Hand zur Faust und boxt in die Luft, als würde sie einen unsichtbaren Gegner k. o. schlagen wollen. Dass ich sie beobachte, merkt sie nicht einmal. Trevors hitzige Reden reißen die Leute immer mit, zumindest die, die so denken wie wir. Dina geht in seinen Worten vollkommen auf. Ich weiß ganz genau, dass alles andere um sie herum in diesem Moment verblasst. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt Trevor, unserem Anführer, und der Sache.

    Vor Dina hatte ich keinen Menschen getroffen, der sich so intensiv für etwas begeistern kann. Es ist ihr völlig egal, was andere von ihr halten. Sie besitzt eine starke Persönlichkeit. Ebenso wie ihr Vater. Beide wissen genau, was sie wollen.

    Ich hingegen wusste lange Zeit nicht, wo mein Platz in dieser Gesellschaft sein soll. Nirgends gehörte ich richtig dazu. Ich war da, kam mir jedoch wie ein Geist vor, von keinem meiner Mitmenschen beachtet oder auch nur wahrgenommen. Immer schon war ich der Außenseiter. Nicht, weil ich es wollte und gerne allein blieb. Die Umstände machten mich dazu.

    Mich fragte niemand danach, ob ich in eine andere Stadt ziehen wollte. Ob ich das einzige Kind sein wollte, dessen Eltern es nie zur Schule brachten. Ob ich an außerschulischen Aktivitäten nicht teilnehmen wollte, weil es sowieso nur Zeit- und Geldverschwendung wäre oder ob ich nur nach Hause kommen wollte, um dann auf ein ständig kreischendes Baby aufzupassen, obwohl ich selbst noch ein Kind war. Nichts davon hatte ich mir ausgesucht.

    Keine Spur von Geborgenheit oder Liebe, die mich erdete, wurde mir entgegengebracht.

    Mein einziger Freund war Paul, doch er war ebenso ein Außenseiter wie ich. Auch diese Freundschaft hatten wir uns nicht wirklich ausgesucht. Sie war mehr oder weniger alles, was uns übrigblieb, um überhaupt einen Freund zu haben.

    Mit den Jahren hatte ich mich an all das gewöhnt. An das Alleinsein genauso wie an das Unsichtbarsein. So sah mein Alltag aus und ich hatte keine Ahnung, wie ich es selbst hätte ändern können. Man könnte sagen, ich war in einer Dauerschleife gefangen. Doch dann begegnete ich Trevor, meinem Boxtrainer … und Dina. Mein tristes Leben änderte sich Schlag auf Schlag zum Guten.

    In ihnen fand ich Menschen, die mich wahrnehmen, mir zuhören, mir Liebe zukommen lassen. Dank dieser Menschen habe ich Freunde gefunden, die diese Freundschaft annehmen, weil sie es wollen, nicht weil sie keine andere Wahl haben. Hier, an Dinas Seite, zwischen all meinen Freunden, habe ich meinen Platz gefunden. Ich gehöre endlich dazu. The Right Order ist meine Familie, weil ich es so will.

    »Wir können auf keinen Fall akzeptieren, dass sich dieses Gesindel breitmacht und unsere Heimat mit ihren Krankheiten verpestet! Wir dürfen keine Schwächen zulassen! Diese Schwuchteln haben hier nichts zu suchen und das werden wir sie in aller Deutlichkeit spüren lassen!«

    Als Trevor mit seiner Rede endet, ertönt tosender Applaus aus den Reihen, in den auch ich verhalten einstimme.

    Dina dreht sich zu mir und grinst beinahe im Kreis.

    »Das wird mega. Denen werden wir zeigen, wo der Hammer hängt. Endlich bewegen wir etwas! Toll, nicht wahr?«, kreischt sie und sieht mich erwartungsvoll an.

    »Ja, toll.«

    Obwohl ich ihr zustimme, Beifall klatsche und lächle, bin ich mir zum ersten Mal nicht im Klaren, wofür ich meine Zustimmung bekunde. Durch meine Gedanken während der Rede war ich abgelenkt, bin aber dennoch sicher, alles verstanden zu haben. Worin dieses ›Handeln‹ bestehen soll, ist mir absolut unklar. Alle anderen Mitglieder scheinen allerdings genau zu wissen, was er damit sagen wollte, und sie wirken geradezu euphorisch.

    Irgendwie ist die Stimmung anders als bei den ruhigen Protestläufen, Demos und Kundgebungen, bei denen ich bisher Schilder hochgehalten und ihre Parolen nachgegrölt hatte. Mich beschleicht das Gefühl, dass Trevor heute nicht so etwas Harmloses meint.

    Seit sechs Monaten bin ich nun schon Mitglied von The Right Order, einer Gemeinschaft, die für eine bessere Welt eintritt. Zu Beginn beeindruckte es mich, dass sie ihr Ziel nicht mit Gewalt, sondern mit Beharrlichkeit und Überzeugung erreichen wollten. Es gab bislang auch keinen Grund, gewaltsam vorzugehen.

    Doch nun, da dieses Hospiz für Aidskranke in unserem kleinen Städtchen Douglasville errichtet wurde und sich die Seuche verbreiten könnte, schürt es den Hass und die Ängste der Mitglieder. Trevor war von Anfang an dagegen, dass sie in unsere Stadt kommen sollten, weshalb er schon vor Beginn des Baus zu Protesten aufrief. Leider erzielten die keine Wirkung.

    Wenn ich aber eine Sache über Trevor weiß, dann dass er kein Nein akzeptiert und niemals aufgibt, um seine Ziele zu erreichen. Was aber hat er jetzt genau vor? Diese Schwuchteln haben hier nichts zu suchen und das werden wir sie in aller Deutlichkeit spüren lassen, sagte er. Wie will er es sie spüren lassen?

    Mir fallen Vorfälle ein, die oft mit The Right Order in Verbindung gebracht wurden, vor allem von der Presse. Vorfälle, bei denen Menschen zu Schaden kamen. Aber Trevor versicherte mir stets, dass wir die Guten sind und nie etwas Unrechtes tun würden.

    Die Gesprächsrunde beginnt, in der jeder ein Thema zur Diskussion bringen kann, das ihm oder

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