YOU MAY LOVE ME: DU UND ICH ... wir drei
Von Evy Winter
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Über dieses E-Book
Was May nicht weiß: Dean ist ein verurteilter Straftäter. Und es hat einen Grund, dass er seine Sozialstunden in genau dieser Einrichtung ableisten muss.
Was passiert, wenn May alles erfährt – aber nicht versteht?
Teil 1 einer Geschichte über bedingungslose Liebe und dunkle Geheimnisse.
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Buchvorschau
YOU MAY LOVE ME - Evy Winter
978-3-96173-116-9
Kapitel 1
Dean
»Die Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt.«
Ein Raunen geht durch den Gerichtssaal und ich atme erleichtert aus.
»Zudem verurteile ich Sie zu zweihundert Sozialstunden in einer Einrichtung für körperlich und geistig Beeinträchtigte und einer Geldstrafe in Höhe von fünftausend Dollar«, fährt die Richterin fort.
Ich schließe kurz die Augen und lasse es sacken. Richterin Pierce lässt Gnade walten, obwohl sie für das Gegenteil bekannt ist. Zu gern wüsste ich, was sie bewogen hat, so milde mit mir ins Gericht zu gehen.
»Mister Summers. Der Umstand, dass Sie nicht vorbestraft sind und ein recht geordnetes Leben führen, hat mich zu diesem nachsichtigen Urteil kommen lassen«, folgt ihre Erläuterung auf dem Fuße. Ihr Blick ist streng, ihre Stimme sanft und dennoch bestimmend. »Dass Sie zum Zeitpunkt der Tat nicht zurechnungsfähig waren und sie zutiefst bereuen, habe ich ebenfalls berücksichtigt. Allerdings ist die Schwere Ihres Vergehens nicht zu verachten. Sie begreifen sicher, warum ich Sie Ihre Sozialstunden in dieser Einrichtung ableisten lasse. Verstoßen Sie gegen Ihre Auflagen, werde ich mein Urteil revidieren müssen. Ich hoffe, dass das nicht nötig sein wird.«
Ich nicke reumütig und frage mich, ob das tatsächlich die alleinigen Gründe für ihr Urteil sind, denn mein Geständnis hat nicht nur bei ihr für zweifelnde Blicke gesorgt. Niemand wollte anfangs glauben, dass ich es war, der diese Tat begangen hatte. Doch kein Mensch ist fehlerlos. Auch ich nicht.
Die Richterin klappt die vor ihr liegende Mappe zu und erhebt sich. Die Verhandlung ist vorbei. Endlich findet dieses Martyrium ein Ende und ich kann es hinter mir lassen – als freier Mann.
Fünftausend Dollar und zweihundert Sozialstunden. Dazu werde ich mein Sparbuch auflösen müssen. Das neue Motorrad wird also leider noch warten müssen, dabei habe ich seit einem Jahr dafür gespart. Doch mir ist bewusst, dass es mich weitaus schlimmer hätte treffen können. In den letzten Wochen hatte ich das Gefühl, unter einem gigantischen Haufen Schutt begraben zu sein, ohne Aussicht auf Rettung. Schutt, den ich selbst ins Rollen gebracht hatte und der mir mehr und mehr die Luft zum Atmen nahm. Doch nun erblicke ich das Tageslicht, kann mich aus meinem selbst geschaufelten Grab befreien und aufatmen …
Ein Ruck an der Schulter reißt mich aus meinen Gedanken.
»Da hast du wirklich Glück gehabt, Kumpel«, meint mein Cousin Bradon. »Mit so einer geringen Strafe hätte ich nicht gerechnet. Du scheinst ihr zu gefallen.« Er zwinkert mir zu und kann sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.
»Kann schon sein. Aber ohne deine Hilfe wäre ich aufgeschmissen gewesen. Also danke noch mal. Ich bin dir eine ganze Menge schuldig.« Ich klopfe ihm seufzend auf die Schulter. Einen Anwalt in der Familie zu haben, ist nicht von Nachteil. Das war mir zuvor schon klar, doch diesmal hat es mich selbst getroffen. Ohne meinen Cousin hätte das hier ganz anders ausgehen können.
Bradon winkt ab. »Ach was. Die Familie verteidige ich doch gerne. Allerdings hoffe ich, dass es für dich das erste und letzte Mal war. Es reicht, ständig für Nick den Retter zu spielen.«
Da kann ich ihm nur zustimmen. Niemand hofft mehr als ich, dass ich nie wieder einen Gerichtssaal von innen sehen muss.
Während Bradon seine Unterlagen zusammenpackt, sehe ich mich erneut in dem großen Saal um, aber er ist tatsächlich nicht gekommen. Bei jeder einzelnen Verhandlung gegen Nick war ich anwesend und habe ihm beigestanden, so gut ich konnte. Die ganze Zeit habe ich darauf gehofft, dass er noch kommen würde, immerhin ist er mein kleiner Bruder. Doch er lässt mich einfach hängen. Vielleicht erwarte ich einfach zu viel von ihm. Anstand, Höflichkeit und Dankbarkeit sind bekanntermaßen nicht seine Stärken, ebenso wenig wie Zurückhaltung und Disziplin. Langsam fange ich an, meine Entscheidung zu hinterfragen, aber dafür ist es jetzt zu spät.
Vor dem imposanten Gerichtsgebäude stehen meine Eltern. Kühl sehen sie mir entgegen, wirken nicht glücklich über das Ende der Geschichte. Ihre Enttäuschung kann auch dieses Urteil nicht wiedergutmachen, und ich verstehe sie. In ihren Augen war ich immer der gute Sohn.
Ein Musterknabe, der bisher nur ein einziges Mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist – bei einer verdammten Mutprobe, als wir gerade erst nach Douglasville gezogen waren. Was daran mutig sein soll, ein PC-Spiel zu klauen, ist mir heute schleierhaft. Mit meinen zwölf Jahren erschien es mir wie eine gute Idee, um Freunde zu finden. Bis auf diese Dummheit war meine Weste also weiß, ganz im Gegensatz zu der meines Bruders. Angefangen bei Diebstahl und Vandalismus bis hin zu Körperverletzung und Drogenmissbrauch findet sich beinahe alles in seinem Führungszeugnis. Mit erst dreiundzwanzig eine reife Leistung. In bestimmten Kreisen, wohlgemerkt.
Einzig und allein Bradons brillanter Verteidigung und dem Wohlwollen der Richter hat er es zu verdanken, bisher noch nicht im Knast gelandet zu sein. Beim nächsten Vergehen wird er für mindestens fünf Jahre einsitzen müssen; die Bewährungsauflagen lassen sich nun mal nicht verhandeln. Ich hoffe wirklich, dass er sich diesmal an die Bewährungsauflagen hält und es schafft, clean zu bleiben. Ich habe schon oft genug versucht, ihm zu helfen, aber er vermurkst es immer wieder. Wie den Schulabschluss. Oder die Ausbildungsstelle in der Kfz-Werkstatt, die unser Vater ihm besorgt hatte. Seine Faulheit und der Umgang mit den falschen Leuten, seinen ›Brüdern‹, wie er sagt, wird ihn eines Tages noch hinter Gitter oder frühzeitig unter die Erde bringen. Beides will ich verhindern, als sein echter Bruder. Von diesen Idioten würde niemand das für ihn tun, was ich getan habe. Daran besteht kein Zweifel, diese Leute kenne ich selbst nur zu gut.
»Dean!«
Ich habe kaum die Stufen hinter mich gebracht, da zieht mein bester Freund Paul mich in eine freundschaftliche Umarmung und klopft mir beherzt auf den Rücken. Sein Gemüt ist ein Spiegelbild des sonnigen, wolkenfreien Himmels. Er wirkt sehr viel glücklicher über den Umstand, mich als freien Mann zu empfangen, als meine werten Eltern. »Alter, das ist gut gelaufen. Glückwunsch!«
Ich ringe mich zu einem müden Lächeln durch. Seit wir damals bei der Mutprobe beide erwischt wurden – wobei ich nur zurückging, um Paul beizustehen –, können wir uns alles anvertrauen. Jetzt aber kann er nur erahnen, wie ich mich im Angesicht meines Vaters fühle.
Ich schaue ihm direkt in die ernsten, dunklen Augen. Er will etwas sagen, ist aber sichtlich darauf bedacht, die richtigen Worte zu finden. Auf die meisten Menschen in seinem Umfeld wirkt er durch die stattliche Figur und den immer finsteren Gesichtsausdruck Angst einflößend. Auf mich hat er diesen Effekt schon lange nicht mehr. Angst hatte ich vor ihm zuletzt als kleiner Junge. Nun fühle ich mich wieder, als hätte ich meine Federmappe nicht geordnet, nur mit dem Unterschied, dass er mich wohl kaum übers Knie legen wird. Dennoch zucke ich zusammen, als die tiefe grollende Stimme ertönt.
»Ich werde dich sicher nicht dafür beglückwünschen, Junge. Aber auch ich bin froh, dass es so ausgegangen ist. Ich gehe davon aus, dass du mich und deine Mutter nicht noch einmal so enttäuschen wirst.«
Kein Hauch einer Gefühlsregung ist auf seinem Gesicht zu erkennen. Meine Mutter tut es ihm gleich. Über die Jahrzehnte sind sich die beiden immer ähnlicher geworden. Neben ihm wirkt sie so klein und zierlich, beinahe zerbrechlich. Ihr Gesicht ist puppenhaft und das Alter sieht man ihr nicht an. Die strenge Haltung und den Hang zu wenigen Worten jedoch hat sie sich eindeutig von ihrem Ehemann abgeschaut. Sie nickt mir nur flüchtig zu, doch in ihren Augen kann ich etwas erkennen … Ich weiß nicht genau, was es ist. Mitleid, Besorgnis oder Wut? Nein, nichts davon. Ihr Blick verrät etwas Wissendes.
»Keine Bange, Dad. So etwas wird nie wieder passieren. Darauf hast du mein Wort.« Nachdenklich schaue ich auf die Straße. Ein Auto nach dem anderen saust an uns vorbei. »Habt ihr was von Nick gehört?« Könnte ihm vielleicht etwas passiert sein?
»Er hat gestern angerufen, hat mal wieder Geld gebraucht. Sonst hat er nichts gesagt«, antwortet meine Mutter und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Sie wankt gefährlich auf ihren hohen Schuhen. »Ich habe ihn daran erinnert, dass heute der Gerichtstermin ist. Ich dachte wirklich, er würde da sein. Aber so ist dein Bruder. Mach dir nichts draus.«
Das sagt sie so leicht daher. Wie sehr mich Nicks Verhalten wirklich verletzt, wird sie nie verstehen.
May
»Beehren Sie uns bald wieder.« Lächelnd nehme ich den Rechnungsbetrag des letzten Gastes entgegen. Und bringen Sie dann mehr Trinkgeld mit, denke ich mir, als ich den mickrigen Dollar für meine freundliche Bedienung entdecke. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag erfahre ich am eigenen Leib, dass die Leute immer geiziger werden, deshalb stecke ich den Schein schnell in die Hosentasche, bevor Donald auf die Idee kommt, mir auch davon noch die Hälfte abzuknöpfen.
»Du musst die Bestellung für den Getränkelieferanten noch durchgeben!«, ruft mir Cecilia zu, während ich meinen Tagesumsatz im Kassensystem eintrage.
»Ich habe jetzt Feierabend. Erledige ich gleich morgen früh.«
»Du sollst es jetzt machen.«
»Sagt wer?«
»Anordnung vom Boss.« Grinsend stakst Cecilia hinter die Theke und dreht mir den Rücken zu. Am liebsten würde ich dieser dämlichen Ziege an die Gurgel springen, aber sie ist schließlich nur die Überbringerin der Botschaft.
Einmal mehr bin ich von Donald enttäuscht, das ist so typisch für ihn. Mein Boss überlässt solche Aufgaben gerne mir, obwohl sie nicht Teil meines Vertrages sind. Angestellt bin ich als Kellnerin – für ihn offenbar eine dehnbare Berufsbezeichnung. Er weiß, wie sehr ich auf diesen Job angewiesen bin und nutzt diesen Umstand schamlos aus. Dennoch hätte es mich schlechter treffen können. Wer behauptet nicht ab und zu, dass sein Vorgesetzter ein Arsch ist? Da gehöre ich bestimmt keiner Minderheit an.
Ich unterdrücke ein Seufzen. Donald hatte mir versprochen, mich heute früher gehen zu lassen, aber mich zu ärgern, bringt mich nicht weiter. Stattdessen mache ich mich an die Arbeit, gehe ins Lager, um die Bestände zu prüfen und gebe die Bestellung telefonisch an den Lieferanten weiter, was eine halbe Stunde später erledigt ist.
Nun muss ich mich beeilen und fülle rasch meine Thermoskanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee aus der hauseigenen Maschine. Einen Muntermacher kann ich jetzt gebrauchen und …
»Du weißt schon, dass du den Kaffee bezahlen musst?« Tapsig tritt Donald durch die Schwingtür zur Restaurantküche.
Super Timing, Chef! »Klar weiß ich das.« Den genervten Tonfall sollte ich mir abgewöhnen, zumindest meinem Chef gegenüber, aber manchmal kann ich einfach nicht aus meiner Haut. Mein Geduldsfaden ist bis zum Äußersten gespannt. Ich bin müde, und wenn ich müde bin, bin ich sehr reizbar. Eilig schraube ich die Kanne zu, zücke den Dollar aus meiner Hosentasche und halte ihm das Geld vor die Nase.
»Stimmt so. Führ deine Frau mal schick zum Essen aus.« Ich zwinkere ihm zu. Nur gut, dass dieser Mann völlig sarkasmusresistent ist. Dann schnappe ich mir meine Tasche und spurte los. Nur schnell weg hier, bevor ihm noch etwas einfällt, das ich erledigen soll.
Die vierzigminütige Fahrt nach Fair Oaks zu meiner Schwester nutze ich, um ein wenig abzuschalten. Eine kleine Ruhepause tut mir gut. June wartet mit Sicherheit schon ungeduldig auf mich, und wenn June ungeduldig ist, verhält es sich ähnlich wie bei mir mit dem Müdesein. Hoffentlich ist sie nicht allzu schlecht gelaunt, denn meine Belastbarkeitsgrenze ist nach zehn Stunden schuften im Peach Side schon um ein Hundertfaches überschritten.
Wenig Schlaf, viel Arbeit, große Verantwortung und keine Freizeit – so sieht mein Leben aus. Und täglich grüßt das Murmeltier. Sechs verflucht lange Jahre halte ich dieses Pensum nun schon. Ob ich das noch lange mitmache, weiß ich nicht, aber ich habe gar keine Wahl. Das Leben ist immerhin kein Wunschkonzert. Schon gar nicht für mich.
Der quietschende Anfang eines schrecklichen Popsongs reißt mich aus den Gedanken. Sofort drücke ich wild auf den Knöpfen meines Autoradios herum, aber kein Sender spielt etwas Vernünftiges. Der CD-Spieler meines in die Jahre gekommenen Fords hat leider Gottes vor ein paar Wochen den Geist aufgegeben. Dieses ganze Gelaber in den Radiosendungen, die Quizfragen und vor allem die Werbung gehen mir sprichwörtlich auf den Sender. Ich betätige noch einmal den Suchlauf, bis mir Bon Jovis It’s my life entgegenschmettert.
Lauthals gröle ich mit, zum Glück hört niemand mein Katzengejammer. Manchmal befürchte ich, man könnte mich für komplett durchgeknallt halten, wenn ich durch die Gegend fahre und Spasmen mein Gesicht heimsuchen, weil ich voller Inbrunst mitsinge. Genau das sind aber die Momente, in denen ich mich wohlfühle. Ganz wie ich selbst, ohne Stress, Geldsorgen oder sonstige Probleme. Und mal ehrlich, das ist immer noch besser, als im Auto in der Nase zu bohren, wenn man sich unbeobachtet fühlt. Genau wie der Kerl, der in diesem Moment in seinem Luxusschlitten neben mir an der Ampel zum Stehen kommt. Angewidert schüttle ich den Kopf und wende mich von dem Nasenbohrer ab. Die Ampel schaltet auf Grün und ich trete das Gaspedal voll durch, um die letzten Kilometer in persönlicher Rekordzeit hinter mich zu bringen.
Endlich erreiche ich Ville Eden am Rande der Stadt.
Wachmann Pete begrüßt mich wie immer mit einem schüchternen Lächeln. »Hallo, May. Hat dich dein Chef mal wieder aufgehalten?«
Ich nicke. »Ja, leider. June ist sicher schon genervt.«
Pete grinst verlegen. »Gut möglich.«
Sein unsicheres Verhalten mir gegenüber amüsiert mich. Es ist ziemlich offensichtlich, dass ich ihm gefalle. Allerdings ist er zu schüchtern, um mich um ein Date zu bitten. Zum Glück. Pete ist einfach nicht mein Typ und ich möchte ihn nicht verletzen. Ich könnte ihn mir gut als Mitglied einer Teenie-Boyband vorstellen, was mich zum nächsten Punkt bringt: Für meinen Geschmack ist Pete viel zu jung. Aber leider ist er momentan der einzige Mann in meinem Umfeld, dem ich einen kleinen Flirt und ein wohlwollendes Augenzwinkern zugestehe.
Mit meiner Unterschrift quittiere ich meine Ankunft. »Na, dann begebe ich mich mal in die Höhle des Löwen. Bis dann, Pete.«
Schnell haste ich über das Gelände zu Junes Wohnblock. Es ist ein herrlich sonniger Tag. Bestimmt sitzt sie mit den anderen draußen und genießt die wärmenden Sonnenstrahlen.
Tatsächlich finde ich sie auf der großzügigen Grünfläche vor dem blau angestrichenen Gebäude, aber sie wirkt ganz und gar nicht genervt. Meine Schwester lächelt und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Das macht sie immer, wenn sie sich über etwas freut. Dabei rubbelt sie mit der Handfläche ihre Nasenspitze, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass sie glücklich ist. Manchmal ist ihre Körpersprache alles, was bleibt, um auf ihren Gemütszustand zu schließen, denn sie redet nur, wenn sie es auch wirklich will.
»Hallo, Schwesterherz.« Sanft drücke ich ihr einen Schmatzer auf die Wange. Sofort wendet sie sich von mir ab und drückt mich weg. June hasst Körperkontakt, selbst wenn er von mir ausgeht. Trotzdem kann ich es nicht lassen. Sie nimmt es mir bekanntermaßen nicht lange übel.
»Tut mir leid. Ist wieder später geworden. Aber wie ich sehe, hast du Spaß.« Vor ihr auf dem Tisch liegen ein Blatt Papier und viele Buntstifte. Malen ist eine ihrer großen Leidenschaften. Ihre Zeichnungen sehen immer gleich aus: ein wildes Gekrakel aus Strichen und Kreisen. Doch wenn June ihr neuestes Werk präsentiert, strahlt sie, als hätte sie den großen Künstlern unserer Zeit Konkurrenz gemacht. Jedes einzelne ihrer Bilder hefte ich in einem Ordner ab, der den Namen ›Junes Meisterwerke‹ trägt. Es sei denn, sie verschenkt ihre Gemälde an andere. Meine Schwester gibt sehr gerne und verlangt im Gegenzug selten etwas. Das macht sie um einiges besser als den Großteil der Menschheit.
»Na, May, doch noch den Weg hierher gefunden?« Nina kommt zu mir und lächelt mich an.
»Ja, tut mir leid. Donald …«
»Jaja, schon klar«, unterbricht sie mich sofort. »Donald mal wieder. Schön, dass du jetzt da bist. Übrigens kannst du dich heute ausschließlich um June kümmern. Seit heute habe ich Unterstützung für die Rasselbande hier.«
Ich runzle die Stirn. »Ach, wirklich?«
Souverän wischt sie sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ja, kaum zu glauben, oder? Ein junger Mann soll mir helfen. Endlich wurden meine Gebete erhört.« Mit gefalteten Händen spricht sie gen Himmel.
Nina Gomez ist eine gute Betreuerin; bei ihr weiß ich June in sehr fürsorglichen Händen. Sie behandelt die Behinderten wie ihre eigenen Kinder, nennt sie liebevoll Kids, obwohl viele von ihnen Erwachsene sind – wie June zum Beispiel. Aus der Gruppe von ursprünglich zehn Leuten, die sie umsorgen sollte, sind mittlerweile zwanzig geworden. Ihre fürsorgliche und geduldige Art beeindruckt mich, daher unterstütze ich sie so oft wie möglich bei der Betreuung. Das heißt, falls nicht gerade andere Aufgaben in der Einrichtung auf mich warten, die ich erledige, um Junes Pflege hier zu finanzieren.
Nina lehnt sich näher zu mir. »Und wenn du mich fragst, ist dieser Typ auch noch äußerst hinreißend«, flüstert sie in mein Ohr.
Weit reiße ich die Augen auf und halte mir gespielt empört die Hand vor den Mund. »Nein, wirklich? Dann scheinen in der Tat all deine Gebete erhört worden zu sein«, erwidere ich kichernd.
»Noch lachst du, aber du wirst schon sehen.« Nina nickt zum Wohnhaus hinüber und hebt die Augenbrauen. »Da! Das ist er. June hat ihn schon voll und ganz für sich vereinnahmt. Sie hat ihn gut im Griff, er hat ihr sogar ihre Jacke geholt.«
»Das sieht ihr ähnlich«, stelle ich lachend fest und folge ihrer Geste mit dem Blick.
Aus dem Wohnhaus kommt ein in der Tat sehr attraktiver Mann geeilt, soweit ich das aus dieser Entfernung beurteilen kann. Er trägt ein weißes Shirt und enge Jeans, in der linken Hand hält er die rosafarbene Strickjacke meiner Schwester. Bei jeder Bewegung kann man das Spiel seiner ausgeprägten Muskulatur bewundern. Dieser Typ muss viel Zeit im Fitnessstudio verbringen, schießt es mir durch den Kopf. Sein Gang ist aufrecht und mit breit geschwellter Brust läuft er über den Rasen zu uns herüber.
Wie ihm befohlen, reicht er June die Strickjacke. »Hier, ich hoffe, das ist die richtige.«
June nickt nur beiläufig und sieht zu mir hoch. »Mein neuer Freund Dean«, erklärt sie mir, grinst dabei wie ein Honigkuchenpferd und widmet sich sogleich wieder ihrem Gemälde.
Höflich strecke ich ihm meine Hand entgegen. »Hallo, ich bin May. Die Schwester dieser Sklaventreiberin.«
»Hi, freut mich sehr«, erwidert er freundlich.
So aus der Nähe kann ich Ninas Aussage vorbehaltlos bestätigen. Das