Als Jonte verschwunden war ...: Mami 2080 – Familienroman
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»So, Frau Senne, dann bekomme ich bitte dreiundvierzig Euro und sechzehn Cent von Ihnen.« Die Sprechstundenhilfe schob die Rechnung des Tierarztes für die Impfung einer Katze über den Tresen zu einer älteren Frau hinüber. Diese zückte mit einem halb liebevollen, halb resignierten Seufzer ihr Portemonnaie. »Na ja, dann haben wir jetzt erst mal für ein Jahr Ruhe«, entgegnete sie. Undine Passauer, die junge Frau hinter dem Tresen, nickte verständnisvoll. Sie wusste, dass es nicht allen Besitzern von geliebten Tieren leichtfiel, die Rechnungen des Arztes zu bezahlen, wenn teure Behandlungen oder Impfungen anstanden. Noch ein freundlicher Gruß an Frau Senne und ihre prächtige norwegische Waldkatze »Harvest«, und Undine Passauer beugte sich wieder über ihre Papiere. Bald war Praxisschluss; es saßen nur noch eine junge Frau mit zwei Zwergkaninchen und ein älterer Mann mit einem seidigen Spaniel im Wartezimmer. Sie kannte sowohl die Tiere als auch deren Besitzer und wusste, dass es sich heute nur um Routineangelegenheiten handelte. Jetzt noch rasch die angefangene Liste mit den Medikamenten vervollständigen, und dann war auch schon bald Feierabend. In ihre Arbeit vertieft, hörte Undine nur mit halbem Ohr, dass die Eingangstür geöffnet wurde und sich leichte, schnelle Schritte in den Raum bewegten. Sie blickte erst auf, als eine raue Kinderstimme sagte: »Ich bin Jonte. Kannst du mir helfen?« Vor ihr stand ein kleiner Junge, schätzungsweise fünf Jahre alt. Blonde Strubbelhaare über einem ernsten, nicht so ganz sauberen Kindergesicht. Leuchtende Blauaugen hinter einer runden Brille mit roten Metallbügeln. Ringel-Shirt und Jeans mit Loch auf dem Knie und Tendenz zum Rutschen. Undine begegnete dem Blick des Kleinen, einer Mischung aus Angst und Tränen und grenzenlosem Vertrauen, und war verloren.
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Buchvorschau
Als Jonte verschwunden war ... - Louisa Rosenhagen
Mami
– 2080 –
Als Jonte verschwunden war ...
Unveröffentlichter Roman
Louisa Rosenhagen
»So, Frau Senne, dann bekomme ich bitte dreiundvierzig Euro und sechzehn Cent von Ihnen.« Die Sprechstundenhilfe schob die Rechnung des Tierarztes für die Impfung einer Katze über den Tresen zu einer älteren Frau hinüber. Diese zückte mit einem halb liebevollen, halb resignierten Seufzer ihr Portemonnaie. »Na ja, dann haben wir jetzt erst mal für ein Jahr Ruhe«, entgegnete sie. Undine Passauer, die junge Frau hinter dem Tresen, nickte verständnisvoll. Sie wusste, dass es nicht allen Besitzern von geliebten Tieren leichtfiel, die Rechnungen des Arztes zu bezahlen, wenn teure Behandlungen oder Impfungen anstanden. Noch ein freundlicher Gruß an Frau Senne und ihre prächtige norwegische Waldkatze »Harvest«, und Undine Passauer beugte sich wieder über ihre Papiere. Bald war Praxisschluss; es saßen nur noch eine junge Frau mit zwei Zwergkaninchen und ein älterer Mann mit einem seidigen Spaniel im Wartezimmer. Sie kannte sowohl die Tiere als auch deren Besitzer und wusste, dass es sich heute nur um Routineangelegenheiten handelte. Jetzt noch rasch die angefangene Liste mit den Medikamenten vervollständigen, und dann war auch schon bald Feierabend.
In ihre Arbeit vertieft, hörte Undine nur mit halbem Ohr, dass die Eingangstür geöffnet wurde und sich leichte, schnelle Schritte in den Raum bewegten. Sie blickte erst auf, als eine raue Kinderstimme sagte: »Ich bin Jonte. Kannst du mir helfen?«
Vor ihr stand ein kleiner Junge, schätzungsweise fünf Jahre alt. Blonde Strubbelhaare über einem ernsten, nicht so ganz sauberen Kindergesicht. Leuchtende Blauaugen hinter einer runden Brille mit roten Metallbügeln. Ringel-Shirt und Jeans mit Loch auf dem Knie und Tendenz zum Rutschen. Undine begegnete dem Blick des Kleinen, einer Mischung aus Angst und Tränen und grenzenlosem Vertrauen, und war verloren. Wenn es jemals die berühmte Liebe auf den ersten Blick gegeben hat, dann zwischen ihr und diesem kleinen Jungen. Er wirkte so offen und verletzlich und gleichzeitig stark und entschlossen, dass Undine gar nichts mehr tun konnte: ihr Herz flog ihm ganz einfach zu.
In den Armen hielt Jonte einen kleinen, sehr jungen Hund, der aus einer Wunde an der Flanke blutete. Das Tierchen zitterte und winselte ab und zu kläglich. Undine sprang auf und ging rasch um den Tresen herum zu dem Kind und dem Welpen.
»Was ist denn mit deinem Hund passiert?«, fragte sie, während sie mit einem raschen, fachkundigen Blick den Zustand des kleinen Patienten einzuschätzen versuchte.
»Das ist nicht mein Hund«, sagte Jonte, »den hab’ ich eben gefunden, draußen an der Landstraße. Er hat gejammert und geweint, aber ganz leise, fast hätte ich ihn nicht gehört. Als ich ihn auf den Arm genommen habe, hat er geschrien. Ich wollte ihm doch nicht wehtun! Aber er braucht doch Hilfe, siehst du? Er blutet! Ist es schlimm?« Voller Angst schauten die Kinderaugen zu ihr auf. Undine musste sich zusammenreißen, um jetzt professionell zu bleiben. »Wir werden gleich wissen, was mit dem Tierchen ist«, sagte sie ruhig und wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an die noch Wartenden. »Ein Notfall, ich bitte um Ihr Verständnis!« Die anderen nickten; sie hatten selbst Tiere und wussten um die Nöte eines leidenden Vierbeiners.
Undine brachte Jonte und den Welpen in einen freien Behandlungsraum, signalisierte ihrem Chef »Notfall« und legte den Hund behutsam auf den Untersuchungs-tisch. Das Tier winselte, als es aus Jontes Armen genommen wurde und nicht mehr dessen Körperwärme spürte. Neben der offensichtlichen Verletzung wirkte der Hund unterernährt und vernachlässigt. Undine wagte gar nicht daran zu denken, woher er stammte und was mit seinen Wurfgeschwistern geschehen sein mochte. Sie nahm Jontes Hand und führte sie an das Gesicht des Tieres. »So«, sagte sie leise, »jetzt weiß er, dass du da bist, und muss nicht mehr so furchtbar viel Angst haben.« Dankbar schaute der kleine Junge sie an und konzentrierte sich dann wieder ganz auf das Tierchen, das unter dem Einfluss seiner direkten Nähe tatsächlich ruhiger wurde. Dann kam Dr. Thomas Sander und untersuchte unter Jontes todernstem Blick das jammernde Tier. Der Arzt zog eine Spritze auf und zeigte sie dem Jungen. »Das hier ist etwas gegen die Schmerzen, das geben wir dem Kleinen erstmal, damit es nicht mehr weh tut, siehst du? Leg’ doch bitte wieder deine Hand an sein Gesicht, dann findet er den Piekser nicht so schlimm.« Das Spritzen war in Sekundenschnelle erledigt, und danach führte Thomas Sander ein längeres Gespräch mit dem kleinen Jungen.
»Zuerst einmal: schnauf mal tüchtig durch, mein Kleiner, so schlimm ist es gar nicht mit deinem Hund! Er hat diese Verletzung an der Seite, die muss ich säubern und nähen, und dann ist sein einer Hinterlauf ausgekugelt, den muss ich wieder einrenken. Das ist alles nicht ganz so lustig, deshalb schicken Frau Passauer und ich den Hund gleich ein bisschen schlafen, verstehst du? Weißt du denn schon, was eine Narkose ist?« Jonte nickte ernsthaft. »Sehr schön. Wir richten ihn also wieder her, den kleinen Findelhund, er bekommt noch ein paar Medikamente und vor allem viel zu trinken. Heute Nacht muss er hier bei uns schlafen, damit wir kontrollieren können, wie es ihm geht, und morgen kannst du ihn wieder abholen. Na, hört sich das gut an?« Jonte nickte erleichtert, aber immer noch mit einem Rest von Skepsis. Würde er denn wirklich wieder gesund werden? Dürfte er bei der Operation mit dabei sein? Hätte der Hund hinterher noch starke Schmerzen? Geduldig und einfühlsam beantwortete der Tierarzt die Fragen des Kindes, und dann zeigte Undine dem kleinen Jungen die Box unter der Wärmelampe, wo der Hund die Nacht verbringen konnte.
»Ich hab’ eine Idee«, sagte sie. »Hast du noch etwas anderes zum Überziehen mit?« Jonte zerrte aus seinem kleinen Rucksack ein Sweatshirt hervor. »Prima«, sagte Undine. »Dann zieh doch mal dein T-Shirt aus und leg es in die Box. Wenn dein Hund nachher hier hereinkommt, dann riecht es nach dir, und er fühlt sich nicht einsam. Du kannst ja dein Sweatshirt auf dem Nachhauseweg anziehen. Und falls deine Mama schimpft, weil du dein Shirt hiergelassen hast und ein Hundebaby darauf schläft, sag ihr bitte, dass sie es gewaschen wiederbekommt!« Und von mir aus auch gebügelt, fügte sie in Gedanken hinzu.
Sorgfältig polsterte Jonte die Box mit seinem T-Shirt aus. »Ich hab’ keine Mama«, sagte er ernsthaft. »Papa und ich sind alleine. Aber Oma und Opa sind da.« Zufrieden zupfte er noch eine Ecke zurecht. Undine schaute auf den schmalen Kinderkörper, der so zerbrechlich wirkte, und hätte am liebsten das Sweatshirt genommen, um dieses fremde Kind warm und gut darin einzuhüllen.
Sie riss sich zusammen. »So, Jonte, jetzt sagst du deinem Hund auf Wiedersehen, und dann musst du gehen. Dr. Sander und ich kümmern uns gut um ihn. Wir sehen uns morgen wieder, in Ordnung?«
Die blauen Augen schauten sie eindringlich an. Jetzt werde ich gewogen, dachte Undine, gewogen – und zu leicht befunden? Doch der Kleine nickte und entblößte beim Lächeln eine anrührende Zahnlücke. »In Ordnung. Ich glaube dir, dass er wieder gesund wird! Morgen nach dem Kindergarten komme ich ihn abholen.« Entschlossen zerrte Jonte seinen Pulli über den Kopf, schulterte den Rucksack und marschierte mit einem kurzen Winken hinaus. Undine schwirrte der Kopf, mehr noch allerdings das Herz. Jetzt musste sie bei der OP eines Hundes assistieren, dessen