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Mallorquinische Träume: Kriminalroman
Mallorquinische Träume: Kriminalroman
Mallorquinische Träume: Kriminalroman
eBook397 Seiten4 Stunden

Mallorquinische Träume: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Turbulente Zeiten auf Mallorca. Der einjährige Sohn des Fabrikantenehepaars Franken wird entführt, seine Babysitterin ermordet. Tatverdächtig ist ein kürzlich aus der Haft entlassener Gewaltverbrecher, der vor zehn Jahren aufgrund der Zeugenaussage von Frankens Bruder verurteilt worden war. Redakteur Helmut Bahn vom Dürener Tageblatt wird mit der Übergabe des Lösegeldes beauftragt, die auf Mallorca stattfinden soll. Dort versucht Bahn zugleich, mithilfe seiner Freunde das Verbrechen aufzuklären. Dabei zieht es immer mehr Verdächtige nach Mallorca …
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum1. Nov. 2016
ISBN9783734994425
Mallorquinische Träume: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Mallorquinische Träume - Kurt Lehmkuhl

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-digital.de

    Gmeiner Digital

    Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

    © 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75/20 95-0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlagbild: © © Annett Vauteck – istock.com

    Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

    ISBN 978-3-7349-9442-5

    1. Kapitel

    Anne spürte die Hand in ihrem Nacken und wollte schreien.

    Doch sie kam nicht dazu.

    »Nimm’s nicht persönlich, Mädchen«, hörte sie eine kalte, laute Stimme. Dann griff eine zweite Hand fest und schmerzhaft in ihr Haar und riss ihren Kopf mit einem brutalen Ruck nach hinten.

    Mit einem grässlichen Knacken brach das Genick.

    Tot sank Anne auf die Couch zurück.

    Viele ihrer Klassenkameradinnen hatten Anne um den Job beneidet. Jetzt waren sie heilfroh, dass sie diese einträgliche Tätigkeit nicht ausgeübt hatten; trotz des vielen Geldes, das es dafür gab. 50 Euro auf die Hand bekam die Schülerin jedes Mal, wenn sie in der Villa der Familie Franken übernachtete und Babysitterin für den knapp einjährigen Sprössling der Unternehmerfamilie spielte.

    Schon wenige Monate nach der Geburt von Uwe hatte die Gymnasiastin zunächst tagsüber stundenweise, dann später auch abends und zuletzt sogar über Nacht die Aufsicht und Betreuung des Säuglings übernommen. Durch ihre Mutter, die als Putzfrau im Privathaushalt der Franken arbeitete, war die 17-Jährige an die lukrative Beschäftigung gekommen, mit der sie ihr Taschengeld verdiente.

    So hatte Anne miterlebt, wie der Junge langsam heranwuchs, sie begeisterte sich mit den Eltern an seinen ersten Lauten und freute sich über das lachende Gesicht, mit dem er sie begrüßte, wenn sie ihn auf den Arm nahm und durch die geräumige Villa trug.

    Das Mädchen besaß das uneingeschränkte Vertrauen von Uwes Eltern und Anne war fest entschlossen, dieses Vertrauen niemals zu enttäuschen oder gar zu missbrauchen. Es wäre für sie ein Leichtes gewesen, mehr Vorteile aus ihrer Tätigkeit als Kindermädchen herauszuholen. Sie hatte freie Hand in dem großen, prächtigen Haus des jungen Unternehmers nahe der Rur. Sie konnte während der Abwesenheit der Bewohner mit deren stillschweigender Duldung tun und lassen, was sie wollte: in der Sauna schwitzen, im Swimmingpool baden oder im Fitnesskeller Gymnastik betreiben. Wahrscheinlich hätte niemand etwas bemerkt oder gesagt, wenn sie sich aus den Weinvorräten oder von den Champagnerflaschen in der üppig gefüllten Vorratskammer bedient hätte.

    Anne kam überhaupt nicht der Gedanke, ihre vertrauensvolle Anstellung für diese verlockenden Annehmlichkeiten auszunutzen.

    Die Welt der Franken, das war nicht ihre Welt. Das war die Welt der Reichen, in die sie gelegentlich hineinschnuppern durfte, aber zu der sie nicht gehörte. Anne war froh, die betreuende Arbeit zu haben, die ihr viel Geld einbrachte, und sie wollte alles tun, um diese Tätigkeit noch lange zu behalten. Sie war eine ehrliche Haut und sie hatte in ihrer kleinbürgerlichen Familie gelernt, bescheiden zu sein.

    Kurz nach sieben war Anne am Freitagabend vereinbarungsgemäß zur ruhig gelegenen Doktor-Overhues-Allee gekommen und hatte von der stets besorgten Helena Franken die letzten Anweisungen erhalten, wie sie Uwe zu behandeln hatte. Der Kleine hatte Anne sabbelnd angestrahlt und mit den Händchen nach ihren langen, braunen Haaren gegrapscht.

    Matthias Franken hatte ihr, wie immer, im Voraus die 50 Euro als Vergütung gegeben, ehe er drängelnd mit seiner Frau davonfuhr. Zu einer Spätsommerparty, die Freunde in Köln veranstalteten, wollten sie, so hatte er Anne erklärt. Dort würden sie auch übernachten. Er hatte Anne eine Telefonnummer aufgeschrieben, unter der er und Helena zu erreichen wären für den Fall, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sollte.

    Aber was sollte schon passieren?

    Schon oft war das Ehepaar über Nacht fortgeblieben und ebenso oft hatte Anne auf Uwe aufgepasst. Und wie immer stand Anne mit Uwe auf dem Arm im Hauseingang und winkte den beiden nach, bis sie im Mercedes an der Straßenecke verschwanden. Sie würden sich telefonisch melden, bevor sie am nächsten Morgen in Köln wieder abfuhren, hatte Matthias Franken noch zu Anne gesagt.

    Aufatmend trat Anne hinter die schwere Haustür. Der Abschied war nach dem immer gleichen Zeremoniell abgelaufen. Helena hatte ihren Sohn ein ums andere Mal geherzt, als sei es ein Abschied auf ewig, Matthias hatte mit wachsender Nervosität auf die Abfahrt gedrängt und Anne, wie immer, mit einem Augenzwinkern gebeten, nicht die Alarmanlage auszuschalten.

    »Keine Bange«, hatte Anne gut gelaunt versichert, »unser Goldstück kommt uns schon nicht weg.« Sie passte gerne auf Uwe auf und verzichtete dafür bereitwillig auf eine Fete am Abend, zu der sie von Freundinnen eingeladen worden war.

    Das Mädchen trug das Kleinkind in das Wohnzimmer und legte es in einen großen Laufstall, in dem Uwe sofort nach Spielbällen haschte. Anne griff in ihre Schultasche und holte ein Buch heraus. Sie wollte die Zeit und die Gelegenheit nutzen, um sich für die Englischklausur vorzubereiten, die sie am Montag schreiben sollte.

    Uwe war ein ausgesprochen genügsames und pflegeleichtes Kind. Es schien, als warte er geduldig, bis Anne die Zeit fand, sich mit ihm zu beschäftigten. Er lachte übers ganze Gesicht, als sich das Mädchen schließlich über ihn beugte und ihn anhob.

    »Jetzt wird gebadet«, verkündete sie verheißungsvoll und Uwe brabbelte begeistert mit.

    Er planschte frohgestimmt in der Plastikwanne und zog nur kurz einen Schmollmund, als Anne ihn abtrocknete. Geschickt legte ihm das Mädchen auf der Wickelkommode die Einmalwindel um und den bereitliegenden Schlafanzug. Dann trug Anne ihn in die Küche, in der schon in einer Warmhaltekanne die Flasche mit der Kindernahrung bereitstand. Gierig nuckelte Uwe den Flascheninhalt bis zum letzten Tropfen, anschließend rülpste er laut vernehmlich und brachte damit Anne zum Lachen. »Ab ins Bett und schlafen!«, sagte sie fidel und trug Uwe ins Kinderzimmer. Dort war bereits die Couch vorbereitet, auf der Anne die Nacht verbringen würde.

    Uwe machte keine Mühe. Kaum hatte Anne ihn gebettet, da schloss er bereits, rhythmisch an seinem Nuckel saugend, müde die Augen.

    Anne blieb einige Minuten neben seinem Bettchen sitzen, ehe sie wieder ins Wohnzimmer ging und sich erneut ihrer Englischlektion widmete.

    Das Telefon unterbrach ihre konzentrierte Lerntätigkeit. Es war schon 23 Uhr, wie Anne erstaunt mit einem Blick auf die Standuhr erkannte. Immer um 23 Uhr rief Helena Franken an, insofern verunsicherte dieser Anruf das Mädchen nicht. Der pünktliche Kontrollanruf der stets verängstigten Mutter gehörte auch zum Ritual des Kinderhütens.

    Alles sei in Ordnung, bestätigte Anne der Frau, deren Besorgnis sie nicht verstand. ›Wie kann man sich bloß so anstellen?‹, dachte sich Anne, während sie mit dem schnurlosen Telefon ins Kinderzimmer ging. Uwe schlief tief und fest und atmete in gleichmäßigen Zügen.

    »Ihr Sohn ist das glücklichste Kind auf der Welt«, sagte sie beruhigend ins Mikrofon, »er freut sich schon darauf, Sie morgen früh wiederzusehen, Frau Franken.«

    Die Schülerin nahm den Anruf zum Anlass, die Arbeit für die Schule zu beenden. Nach der telefonischen Kontrolle würde es ruhig bleiben in der Nacht. Anne zog sich um und legte sich leise auf die Couch. Sie lauschte den gleichmäßigen Atemzügen von Uwe und schloss die Augen.

    Den kurzen Gedanken, die Haustüre nicht verriegelt zu haben, verwarf sie wieder. Daran dachte sie jedes Mal vor dem Einschlafen und jedes Mal war die Tür verschlossen gewesen. Warum sollte es ausgerechnet jetzt anders sein?

    Zunächst glaubte Anne, zu träumen, als sie die flüsternde Stimme hörte. Doch spätestens, als das grelle Licht der starken Taschenlampe sie schmerzhaft blendete, wusste sie, dass sie wach war. Erschrocken fuhr das Mädchen hoch und hielt sich schützend den Arm vor die Augen.

    Anne spürte die Hand in ihrem Nacken und wollte schreien. Doch sie kam nicht dazu.

    »Nimm’s nicht persönlich, Mädchen«, hörte sie eine kalte, laute Stimme. Dann griff eine zweite Hand fest und schmerzhaft in ihr Haar und riss ihren Kopf mit einem brutalen Ruck nach hinten.

    Mit einem grässlichen Knacken brach das Genick.

    Tot sank Anne auf die Couch zurück.

    2. Kapitel

    Nie wieder! Das hatte sich Thomas Thielen geschworen. Nie wieder würde er im Knast landen. Diesen Schwur hatte er zwar schon mehrmals geleistet und immer wieder gebrochen, aber dieses Mal würde er ihn einhalten. ›Nie wieder Knast‹, schwor er sich. Lieber würde er sich umbringen.

    Fast ein Drittel seines Lebens hatte der gedrungene, kräftige Mann hinter Gittern verbracht wegen verschiedener Gewaltdelikte: Raub, Körperverletzung und zuletzt wegen Totschlags. Zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe hatte ihn das Gericht verurteilt, zehn Jahre hatte er in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach abgesessen, dann hatte ihn die Gefängnisleitung gehen lassen. Wegen guter Führung, hatte es geheißen, und wegen seiner guten sozialen Entwicklung.

    Das Abschlussgespräch mit dem Gefängnispsychologen, dessen Gutachten letztlich ausschlaggebend für die vorzeitige Freilassung gewesen war, stieß Thielen trotz aller Dankbarkeit, die er dem Mann entgegenzubringen hatte, immer noch bitter auf. »Sie sind reif für das Leben in der Gesellschaft«, hatte ihm der Seelendoktor mit vermeintlich voller Überzeugungskraft gesagt. »Ich bin mir absolut sicher, dass Sie Ihren Weg durchs Leben finden und gehen werden.« Und dabei hatte er ihn angelächelt und ihm mit beiden Händen beim Abschied die Rechte geschüttelt, dass Thielen schon befürchtete, im Schwulentreff gelandet zu sein.

    Thielen wusste nicht, ob er wegen des salbungsvollen Zuspruchs lachen oder weinen sollte. »Wohin soll ich denn? Wer nimmt denn schon einen Knacki wie mich? Mit meinen Vorstrafen. Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung. Anfang fünfzig. Was soll ich machen?«, hatte er gefragt und der Psychologe hatte nur bedauernd mit den Schultern gezuckt, ohne eine hilfreiche Antwort geben zu können. Es werde sich finden, hatte er als erbärmlich schwachen Trost parat. »Sie schaffen das schon«, hatte er fast trotzig Thielen mit auf den Weg gegeben, wobei er wahrscheinlich noch weniger als Thielen wusste, worin dieser Weg in die Welt jenseits der Gefängnismauern bestand. Und insgeheim war der Psychoklempner wohl auch nicht überzeugt davon, dass der Gefangene für lange Zeit in Freiheit bleiben würde.

    »Was werden Sie tun?«, hatte der Anstaltsleiter gefragt.

    Thielen hatte schwach gelächelt und geantwortet, was der grauhaarige Schwachkopf von ihm hören wollte: »Ich werde mich in Düren beim Sozialamt melden und zum Arbeitsamt gehen. Der Rest wird sich dann von allein ergeben.«

    Was hätte er sonst auch antworten sollen? Hätte er dem Knastchef sagen sollen, dass er das Schwein suchen wollte, weswegen er im Bau gelandet war? Hätte er sagen sollen, dass es für ihn nur einen Gedanken gab, der ihn die Zeit im Knast überstehen ließ? Der Gedanke an Rache für das Unrecht, das an ihm begangen wurde. Seine Unschuld glaubte ihm ohnehin niemand, seine Rachegelüste verschwieg er wohlweislich, um die Entlassung nicht zu gefährden.

    Die Gefängnisbürokratie in Rheinbach gab sich alle Mühe, Thielens Einstieg in die neuerliche Freiheit so umständlich wie möglich zu gestalten. Nachdem es nahezu vier Monate gedauert hatte, bis er nach der offiziellen Information auf vorzeitige Entlassung tatsächlich auch die Entlassungsbescheinigung erhielt, brachte es die Knastverwaltung am Freitag fertig, die Entlassung bis zum späten Nachmittag hinauszuzögern. Als Thielen endlich mit der blauen, unauffälligen Sporttasche in der Hand, in der er seine dürftigen Habseligkeiten mitnahm, vor dem Gefängnistor stand, war es längst zu spät, noch irgendeine Behörde aufzusuchen.

    Feierabend war überall angesagt, die Menschen freuten sich aufs Wochenende.

    Niemand machte sich in irgendeiner Amtsstube Gedanken um einen Strafentlassenen namens Thielen, der ein wenig verloren über die staubige Straße stadteinwärts trottete auf der Suche nach einer Bushaltestelle oder dem Bahnhof. Thielen hätte ein Taxi nehmen können, das ihm vom Gefängnispförtner mit gespielter Gefälligkeit und wegen vermuteter Provision geordert worden wäre, aber er hatte darauf verzichtet. Die wenigen Kröten, die er als Entlassungsgeld bekommen hatte, waren auch so viel zu schnell aufgebraucht, als dass er sich den Luxus eines Taxis hätte leisten können.

    ›Soll ich mich sofort vor den Zug werfen oder mich lieber hineinsetzen?‹, fragte sich Thielen, als im Kölner Hauptbahnhof die Regionalbahn Richtung Aachen einfuhr. Von Rheinbach nach Euskirchen und von dort nach Köln hatte er Glück gehabt. Er blieb unbehelligt, kein Schaffner hatte ihn nach dem Fahrschein gefragt, den er nicht besaß. ›Ich habe heute meinen Glückstag‹, sagte er sich und entschied sich fürs Einsteigen. ›Außerdem hast du noch vieles zu erledigen‹, rief er sich zum wiederholten Male in Erinnerung.

    Thielen wollte den vermaledeiten Zeugen finden, das arrogante Schwein, das damals das Gericht von seinem angeblichen Verbrechen überzeugt hatte. Und er wollte seine ehemalige, knapp zwei Jahrzehnte jüngere Lebensgefährtin suchen, diese Schlampe, die ihn von einem Tag auf den anderen verlassen hatte, als er im Untersuchungsgefängnis saß und es hieß, er sei ein Totschläger.

    Schließlich wollte er in Düren in aller Bescheidenheit in den großen Unternehmen anfragen, ob sie nicht eine Hilfsarbeit für einen arbeitswilligen Mann seines Alters hätten. Thielen hoffte, dass sich niemand in den Personalabteilungen an seine unrühmliche Vergangenheit erinnerte oder ihn deswegen abwies.

    Warum er ausgerechnet nach Düren wollte, hatten ihn der Psychologe und der Anstaltsleiter gefragt.

    »Weil es meine Heimat ist«, hatte Thielen geantwortet. Die Stadt hatte ihm zwar in seinem Leben nicht viel Glück gebracht, doch zog es ihn in seine Geburtsstadt, auch in der Erwartung, vielleicht Kumpel aus vergangenen Zeiten zu finden, als sie sich noch im unsanierten Dürener Norden herumgetrieben hatten.

    Thielen betrachtete neugierig aus dem Zugfenster die Landschaft und die Orte, die an ihm vorbeihuschten. Kerpen, Buir, die lieblos gewarteten Bahnhöfe sahen für ihn unwirklich aus, anders, als er sie in seiner Erinnerung hatte. Leichtes Herzklopfen überkam ihn, als sich die Regionalbahn der Kreisstadt Düren näherte. ›Auf geht’s‹, munterte er sich auf, als er mit der Tasche in der Hand auf den Bahnsteig kletterte.

    Er hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Zu viel hatte sich in den Jahren rund um das alte, sanierte Bahnhofsgebäude, das noch aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhundert stammte, verändert. Gleich drei Ausgänge gab es inzwischen, den ehemaligen Hauptausgang, den neuen zum großen Busbahnhof und einen weiteren, der durch einen kleinen Tunnel zur Innenstadt führte.

    Thielen musterte die vielen Menschen, die mit ihm den Zug verlassen hatten, und schaute in die Gesichter von Passanten, die es offenbar alle sehr eilig hatten. Sie nahmen ihn nicht zur Kenntnis. Er war für sie ein nicht sonderlich gut und obendrein unmodern gekleideter, etwas unsicherer Zeitgenosse, mittelgroß, stämmig, schlecht rasiert, mit derben Gesichtszügen und einer Knollennase, die ihn stets an einen Nasenbeinbruch nach einer Prügelei erinnerte, und mit schütteren, braungrauen Haaren, denen der Friseur im Knast noch am Vortag einen kurzen Einheitsschnitt verpasst hatte. Er war kein Typ, dem die Sympathien zuflogen, er hatte sich immer den Respekt erkämpfen müssen. ›Und jetzt soll ich meinen Weg in die Gesellschaft suchen und finden.‹ Thielen blieb nur eine Ausflucht in die Ironie.

    Er wunderte sich über die Veränderung der Innenstadt. Es war viel gebaut worden in den letzten sieben Jahren. Das Gesicht der Josef-Schregel-Straße hatte sich gewaltig geändert. Es war moderner geworden, von den Geschäften bundesweit tätiger Filialketten bestimmt, mit noch mehr Reklame und noch mehr Licht. Autos waren nur noch auf einem Teilstück geduldet.

    Dennoch hatte er schnell die Orientierung gefunden. Thielen steuerte die nahe Fußgängerzone an, in der es Telefonzellen gab, wie er sich erinnerte.

    Darin würde er ein Verzeichnis finden und damit wahrscheinlich den Namen und Wohnort des Mannes, den er suchte.

    Lange saß Thielen in der Kneipe an der Theke. Die anderen Gäste hatten sehr schnell das Interesse an dem grantigen und grimmig blickenden Mann, der ihnen fremd war, verloren und palaverten ohne ihn über den Niedergang des Fußballs in Düren. Die stämmige Wirtin beäugte ihn mit unverhohlenem Unmut. Auf Gäste, die sich bis zur Sperrstunde an einem Glas Mineralwasser und einer Frikadelle festhielten und dabei stumm vor sich hin stierten, konnte sie liebend gerne verzichten. Diese Gäste versauten nur die Stimmung und damit das Geschäft.

    Thielen ließ sich von den missbilligenden Blicken nicht beirren. Er hatte die beiden ausliegenden Dürener Tageszeitungen gelesen und sich Gedanken über sein Vorgehen gemacht. Ein Zimmer würde er sich für die Nacht nicht suchen. Es war mild, nach dem Wetterbericht in den Zeitungen würde es trocken und warm bleiben und das Thermometer auch in der Nacht nicht unter 15 Grad sinken. Er würde auf einer Parkbank übernachten, hinten an der Doktor-Overhues-Allee oder im Stadtpark oder direkt an der Rur.

    Es war fast drei, als die Wirtin resolut die letzten Kneipenbesucher hinaustrieb.

    Höflich grüßend trollte sich Thielen. Er hätte nicht damit gerechnet, dass ihm die Frau ein hämisches »Auf Nimmerwiedersehen« hinterherrief.

    Er beherrschte sich. Früher wäre eine derartige Bemerkung für ihn Grund genug gewesen, eine Kneipe in alle Einzelteile zu zerlegen. Sein Jähzorn hatte ihn oft zu Handlungen getrieben, die er anschließend selbst nicht verstand. ›Benimm dich!‹, redete er sich ein und atmete tief durch, ›es ist es nicht wert.‹

    Langsam schlenderte Thielen durch die leere Stadt, in der es wegen des vollen Mondes am wolkenlosen Himmel überraschend hell war. Er fand das Hoesch-Museum, das Amtsgericht, das Hochhaus an der Kreuzung, in dem die Polizei untergebracht war, und die Aachener Straße, auf der um diese Uhrzeit nur gelegentlich ein Auto fuhr und von der er hinter der Rurbrücke linker Hand sein Ziel ansteuerte.

    Es war immer noch angenehm lau. Das beruhigende Rauschen des Flusses war das einzige Geräusch, das Thielen bei seinem langsamen Gang über die Straße hörte. Ohne Mühe fand er das Haus, auf das er durch den kleinen Vorgarten zuschritt. Als er das Namensschild an der Haustür lesen wollte, erkannte er, dass das Schloss nicht eingerastet war. Mit einem leichten Druck ließ sich die Tür öffnen.

    Ehe sich Thielen besinnen konnte, war er in den Flur eingetreten. Er sah im Mondlicht die Taschenlampe auf dem Tisch in der Garderobe und griff danach.

    Auf leisen Sohlen schlich Thielen durch das stille Haus. Diesen Luxus hatte er nicht erwartet, aber er war überzeugt, das richtige Haus und damit den richtigen Mann gefunden zu haben. ›Verschwinde jetzt!‹, wollte er sich befehlen. Dann näherte er sich doch, wie von einem inneren Drang angezogen, einem Zimmer, dessen Tür offen stand. Er leuchtete mit der Taschenlampe in den Raum hinein und traf mit dem hellen Strahl das Gesicht von Anne. Sie schien sich zu bewegen.

    »Verdammte Scheiße«, sagte Thielen leise zu sich und machte erschrocken einen schnellen Schritt nach vorne auf das Mädchen zu.

    3. Kapitel

    »Mist!«, brüllte Helmut Bahn laut durch die noch leeren Räume der Redaktion. »Verfluchter Mist!« Wütend sprang der Journalist von seinem Schreibtischsessel auf und schleuderte den zerknüllten Lokalteil der Dürener Zeitung in die Ecke. Was der Redakteur des Dürener Tageblatts in der großen Konkurrenzzeitung lesen musste, hatte ihm bereits am frühen Montagmorgen die Laune gründlich verdorben und Sodbrennen verursacht.

    »17-Jährige tot – Baby verschwunden«, so hatten die Kollegen in großen Buchstaben über ihren fünfspaltigen Aufmacher getitelt. Mehrere Male hatte Bahn mit wachsender Ohnmacht und Verzweiflung den Artikel gelesen. Beim ersten Mal traute er seinen Augen nicht, war fassungslos und unfähig, den Inhalt des Geschriebenen zu verstehen. Dann las er ungläubig und mit offenem Mund staunend die Texte. Erst anschließend, bei der wiederholten Lektüre, wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass die DZ ihre Leser über ein Gewaltverbrechen informierte, das sich in der Nacht zum Samstag fast vor seiner Haustür ereignet hatte und von dem er, im Gegensatz zu den Kollegen, nichts mitbekommen hatte.

    Es dauerte lange, ehe Bahn seine Gedanken sortiert und die Informationen über das kriminelle Geschehen verdaut hatte. Nach dem Zeitungsbericht hatten Helena und Matthias Franken bei ihrer Rückkehr von einer Feier in Köln am Samstagmorgen in das Wohnhaus das 17-jährige Kindermädchen Anne B. tot aufgefunden. Die Babysitterin war aller Wahrscheinlichkeit nach von Entführern überrascht und ermordet worden, hieß es in dem Bericht, ohne die Umstände des Verbrechens näher zu erläutern. Der einjährige Sohn Uwe des Fabrikantenehepaars war spurlos verschwunden; mithin ging die Polizei von einer Entführung aus. Bebildert waren die Artikel mit einer Außenansicht des Hauses, einem Foto der Eheleute, einen Porträt des Kindes und einem Passfotos von Anne.

    Zu dem ermordeten Mädchen wurden in einem eigenen Bericht ergänzende Angaben gemacht. Sie war Gymnasiastin gewesen, Tochter von Frankens Putzfrau und galt als zuverlässig, fasste Bahn den Inhalt für sich zusammen.

    Den Artikel über das Ehepaar schenkte sich Bahn betroffen. Er kannte Matthias Franken seit der Kindheit. Sie waren zwar nicht gerade befreundet, aber seit Jahrzehnten gut bekannt. Auch beim Polterabend anlässlich der Hochzeit vor rund neun Jahren war er gewesen. Seitdem hatten sie gelegentlich beim zufälligen Aufeinandertreffen oberflächlich miteinander geplaudert. Von Frankens Ehefrau hatte er überhaupt keine Vorstellung mehr.

    Bahn nahm sich vor, selbst mit Franken zu sprechen. Vielleicht bekam er unter vier Augen die Informationen von ihm, die bislang nicht berichtet worden waren, und er erinnerte sich mit Magenschmerzen an einen dramatischen Vorfall vor etwa sieben Jahren, der jetzt eine schier unglaubliche Fortsetzung gefunden hatte.

    Bahn schüttelte sich bei seinem Blick in die Vergangenheit und richtete seine Konzentration auf den letzten Artikel. »Wir haben noch keinen Tatverdächtigen«, wurde darin Kommissar Wenzel von der Kriminalpolizei Düren wörtlich zitiert. Die Spurensicherung am Tatort habe zwar einige Erkenntnisse gebracht, aber sie ließen noch keine Rückschlüsse auf den oder die Täter zu. »Wir gehen von einer geplanten Entführung aus, bei der das Kindermädchen ermordet wurde«, sagte Wenzel nach dem Zeitungsartikel. »Das Mädchen ist wahrscheinlich von den Verbrechern überrascht worden.«

    Erst im allerletzten Absatz der Berichterstattung verriet der DZ-Redakteur, woher er sein Wissen hatte: von einer Pressekonferenz der Kripo am Sonntagnachmittag.

    ›Wieso sind wir nicht informiert worden?‹, schoss es Bahn durch den Kopf, während er ruhelos durch das Zimmer ging. Er vermutete spontan, sein Intimfeind Wenzel habe ihn bewusst übergangen. Zu Pressekonferenzen wurden üblicherweise allen Medien eingeladen. ›Das Schwein von Wenzel hat uns absichtlich übergangen‹, dachte Bahn verärgert weiter. Seine innige Feindschaft zu dem dicken Kommissar war in Düren hinlänglich bekannt. Kaum war Wenzels Chef, Kriminalhauptkommissar Küpper, einmal übers Wochenende nicht im Lande, ließ der Polizist Bahn am langen Arm verhungern. Das würde ein dienstliches Nachspiel haben, schimpfte Bahn vor sich hin. Er würde darauf drängen, Wenzel zur Rechenschaft zu ziehen, sagte er zornig zu sich, als er zum Faxgerät ins Sekretärinnenzimmer ging.

    Für einen Augenblick stutzte er, als er in der Ablage keine einzige Mitteilung fand. Dann erschrak er wegen einer unangenehmen Befürchtung. In der Tat: Das Fach für das Faxpapier war leer. ›Das darf doch nicht wahr sein‹, redete Bahn entgeistert mit sich und füllte herzklopfend das Fach auf.

    Prompt spuckte das Gerät wenige Sekunden später die elektronisch gespeicherten Nachrichten aus. Schon der erste Ausdruck enthielt als Nachtrag zum Pressebericht der Polizei vom Sonntagmorgen die von Wenzel unterschriebene Einladung zu einer wichtigen Pressekonferenz am späten Nachmittag. Der Eingang der Einladung war im Faxgerät um 14.11 Uhr registriert worden. Bahn hielt das Blatt noch beklommen in den Händen, als bereits das nächste Fax gedruckt wurde: Um 18.45 Uhr hatte die Kriminalpolizei gestern ihren Pressebericht über den Entführungsfall Franken nachgeschoben und dabei auch Fotos angeboten.

    »Warum haben wir das nicht, Herr Kollege?«

    Bahn hatte zwar mit dem unvermeidlichen Anruf aus der Zentralredaktion des Tageblatts in Köln gerechnet, allerdings nicht so früh und nicht mit der ungewohnten Schroffheit in der Stimme des Chefs vom Dienst.

    »Ich glaube, Sie haben den Beruf verfehlt, Herr Bahn«, blaffte ihn der Chef vom Dienst Waldmann an. »Oder können Sie mir nachvollziehbar erklären, warum Sie als einziger Journalist aus Düren nichts von dem Mord und der Entführung mitbekommen haben?« Waldmann war schier außer sich. »Was machen Sie eigentlich in einem Sonntagsdienst?«

    Bahn wollte ebenfalls aufbrausen, schlug dann aber vorsorglich einen gemäßigten Ton an. Es würde seine missliche Ausgangslage nicht verbessern und obendrein nichts bringen, sich mit dem aufgebrachten CvD zu streiten. Waldmann würde das bessere Ende für sich behalten, weil er mehr Macht besaß. Auch wenn er keine Ahnung hatte und auf dem Posten eine Fehlbesetzung war.

    »Unser Faxgerät hatte mal wieder seine Macken«, log Bahn dreist. »Es ist ja nicht das erste Mal, dass es versagt, wenn es darauf ankommt.« Dieses Argument traf im Prinzip zu und Bahn war froh, dass es ihm eingefallen war. Schon wiederholt hatten sich Bahn und Fritz Waldhausen, der Lokalchef des Dürener Tageblatts, in Köln über das unzuverlässige, störungsanfällige und veraltete Gerät beschwert. Noch am Donnerstag hatte Waldhausen deshalb den CvD angerufen und dringend um einen Austausch gebeten.

    »Das haben wir halt davon, wenn wir hier draußen nur mit Billigprodukten und Auslaufmodellen beliefert werden«, meinte Bahn lakonisch. »Dann müssen wir mit solchen Pleiten leben.«

    Abrupt beendete Waldmann das Gespräch, das in eine andere, nicht von ihm gewünschte Richtung lief. »Sorgen Sie dafür, dass wir morgen besser sind als die anderen«, bellte er im Kommandoton in den Hörer.

    Bahn atmete tief durch. Es schien, als könne er seine beiden Fehler vom Sonntag verbergen. Er hatte zunächst, als er schon kurz nach eins nach Hause fuhr, nicht den Papiervorrat im Faxgerät kontrolliert. Außerdem war er nicht in die Redaktion gefahren, nachdem er am Abend mit Gisela von einer Spritztour in die Eifel zurückgekommen war. Üblicherweise musste der Kollege, der Sonntagsdienst hatte, noch einmal einen Kontrollgang machen, aber Bahn hatte darauf verzichtet und lieber die Zweisamkeit mit seiner Gattin genossen.

    Glücklicherweise hatte er den Ausweg gefunden, um die Verantwortung für die journalistische Pleite von sich abzuwälzen. Auch wenn er sich gehörig über diesen Reinfall ärgerte, brauchte niemand von seinem Versagen wissen. Allenfalls seinen Freunden Waldhausen und Küpper würde er vielleicht später einmal von seinem peinlichen Missgeschick berichten.

    Der Lokalchef und der Kriminalkommissar waren

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