Line reicht's: Mami 2052 – Familienroman
Von Nina Nicolai
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»Und wie war sie so? Deine Omimi meine ich natürlich.« Line Osterhoff war sichtlich zum Plaudern aufgelegt, wie ihr dicker blonder Zopf signalisierte. Wenn sie ihn nämlich über die Schulter nach vorn holte, die Spange abzog und damit begann, ihn aufzudröseln, stand ihr inneres Stimmungsbarometer auf Sonnenschein. Sturm war hingegen angesagt, wenn Line den Kopf so zurückwarf, dass der Zopf gegen ihren Rücken knallte. »Lieb war sie. Nie habe ich sie anders als gütig und nachsichtig erlebt.« Julia Osterhoff schien sich in ihren Erinnerungen an ihre geliebte Großmutter zu verlieren. Plötzlich verspannte sich ihr bis eben gelöstes Gesicht. »Obwohl es auch andere Meinungen gab.« »Hat jemand sie etwa nicht so nett gefunden?«, wollte Line prompt wissen, witterungsmäßig furchterregend talentiert. Die junge Frau erhob sich von der Küchenbank und sah sich aufseufzend um. »Das erzähle ich dir besser ein andermal. Heute haben wir verflixt viel zu tun. Vor allem müssen wir diese Trümmer rausschaffen, damit unsere Möbel Platz haben. Mir graut vor den Gardinen, da hat sich Staub von hundert Jahren verdichtet.« Line blieb auf der breiten Fensterbank sitzen, die Beine angezogen und mit beiden Armen umschlungen. Tiefenentspannt. »Du warst noch nie so gut im Ablenken, Mami«
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Line reicht's - Nina Nicolai
Mami
– 2052 –
Line reicht’s
Die Mama lässt sich einfach nicht belehren
Nina Nicolai
»Und wie war sie so? Deine Omimi meine ich natürlich.« Line Osterhoff war sichtlich zum Plaudern aufgelegt, wie ihr dicker blonder Zopf signalisierte. Wenn sie ihn nämlich über die Schulter nach vorn holte, die Spange abzog und damit begann, ihn aufzudröseln, stand ihr inneres Stimmungsbarometer auf Sonnenschein.
Sturm war hingegen angesagt, wenn Line den Kopf so zurückwarf, dass der Zopf gegen ihren Rücken knallte.
»Lieb war sie. Nie habe ich sie anders als gütig und nachsichtig erlebt.« Julia Osterhoff schien sich in ihren Erinnerungen an ihre geliebte Großmutter zu verlieren. Plötzlich verspannte sich ihr bis eben gelöstes Gesicht. »Obwohl es auch andere Meinungen gab.«
»Hat jemand sie etwa nicht so nett gefunden?«, wollte Line prompt wissen, witterungsmäßig furchterregend talentiert.
Die junge Frau erhob sich von der Küchenbank und sah sich aufseufzend um. »Das erzähle ich dir besser ein andermal. Heute haben wir verflixt viel zu tun. Vor allem müssen wir diese Trümmer rausschaffen, damit unsere Möbel Platz haben. Mir graut vor den Gardinen, da hat sich Staub von hundert Jahren verdichtet.«
Line blieb auf der breiten Fensterbank sitzen, die Beine angezogen und mit beiden Armen umschlungen. Tiefenentspannt. »Du warst noch nie so gut im Ablenken, Mami«, stellte sie fest.
Julia fühlte sich ertappt.
»Stimmt«, gab sie achselzuckend zu und wich dem forschenden Tochterblick wohlweislich aus. »Eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich am besten anfangen soll.«
»Vorn«, bemerkte die achtjährige Line. »Das sagt jedenfalls Frau Schiller immer, wenn ich Probleme mit meinem Text habe. ›Fang vorn an, Pauline. Mit dem ersten Wort. Das zweite dackelt automatisch hinterher. Und der Rest ist ein Kinderspiel‹.«
»Okay.« Die junge Frau sah sich kritisch um.
»Nur Frau Schiller nennt mich in der Schule Pauline.«
Julia klappte die Backofentür auf. »Iiih!«
»Line finde ich besser.« Das Mädchen stieß einen Seufzer aus. »Aber das ist Schnee von gestern. Weil ich sie sowieso nicht mehr sehen werde. Frau Schiller, mein ich. Und alle anderen.«
»Du kannst sie jederzeit besuchen.«
»Vorhin hast du gesagt, dass wir in nächster Zeit gruselig viel zu tun haben werden, um Omimis Haus auszumisten.«
»Eigentlich war sie deine Uromimi.«
»Ich werde sie Uri nennen. Hat sie hier ganz allein gewohnt?«
»Nur die letzten Jahre ihres Lebens. Als sie jung war, gab es natürlich noch den Opa Karl. Der hat übrigens viel selbstgemacht, weil er ein begabter Handwerker war. Die Treppe zum Beispiel.«
»Jetzt ist sie ziemlich morsch. Das Geländer wackelt.«
»Tja, wie so vieles«, murmelte Julia und wirkte wieder bedrückt. »Du, ich starte oben, mit unserem Schlafzimmer. Gelüftet haben wir ja schon. In den nächsten Tagen nehmen wir uns dann das Erkerzimmer vor, das dein Zimmer werden soll. Einverstanden?«
»In welchem Zimmer ist sie denn gestorben, die Uri?«
»Wer? Ach so. Du, Omimi ist im Krankenhaus gestorben, weil sie zuletzt sehr krank war. Zum Glück hat sie nicht leiden müssen. Und es ist schnell gegangen. Ganz friedlich war ihr Abschied.«
»Arme Uri.«
»Ja. Sie fehlt mir sehr. Weil …«
Es war ja klar, dass Line nicht locker lassen würde. »Weil?«
»Wir standen uns wirklich sehr nahe. Ich glaube, ich war mehr hier als in der Stephanstraße.«
»Da wohnen deine Eltern, oder?«
»Meine Mutter und ihr zweiter Mann. Martin ist mein Stiefvater«, antwortete Julia mit schmalen Lippen.
»Du kannst ihn nicht leiden.«
»Nicht sehr. Und mir wäre es lieb, wenn wir …«
»Mami, ich bin kein Baby mehr. Ich krieg ziemlich viel mit.«
Da richtete sich Julia auf, stemmte eine Hand in die Seite und betrachtete ihre clevere Line mit stolzem Lächeln. »Na klar. Aber wenn wir beide morgen hier frühstücken wollen, sollten wir mal anfangen, für Ordnung zu sorgen.«
»Sie hat dir angeboten, dir zu helfen, oder?«
»Line«, sagte Julia.
»Mami, glaubst du in echt, ich würde nicht merken, wie genervt du immer bist, wenn du mit ihr telefoniert hast?«
»Wir sind einfach zu verschieden.« Als Kind hatte sie lange Zeit den Verdacht gehegt, von ihrer Mutter adoptiert worden zu sein. Weil absolut null Ähnlichkeit zwischen ihnen war, weder äußerlich noch innerlich. Und was die berühmte Mutterliebe betraf, fehlte jedwede Übereinstimmung zwischen ihr und Stine Osterhoff.
»Sind wir beide auch, Mami. Aber ich hab dich total lieb.«
»Und ich dich erst. Bis zur Milchstraße und zurück.« Julia kam rasch zum Fenster und legte beide Arme um ihr Kind. »Wir haben zur Zeit ein bisschen arg viele Probleme, ich weiß ja. Doch wir kriegen es hin, bestimmt, meine Linemaus, wirst schon sehen!«
»Wenn Papa noch bei uns wäre, müsstest du dir jetzt keine Arbeit suchen, oder? Und wir würden auch noch in der Stadt wohnen.«
»Ich habe mir früher immer gewünscht, in diesem Haus zu leben. Es ist klein, aber supergemütlich. Ein süßes Hexenhäuschen.«
»Und wir sind die Hexen?« Line lachte so übermütig wie schon lange nicht mehr. »Du bist die Chefhexe und ich die kleine Hexe.« Der Gedanke gefiel ihr sichtlich. »Und um Mitternacht holen wir unsere Zauberstäbe raus und hexen wie verrückt.«
»Ich würde ich mir zuerst einen großen Sack voller Goldstücke zaubern. Dann hätten wir keine Sorgen mehr und könnten uns alle Handwerker leisten, die wir brauchen, um hier komfortabel wohnen zu können. Eine neue Treppe kann schrecklich kostspielig sein.«
»Ich möchte im Erkerzimmer eine Tapete mit Einhörnern.«
»Die hast du nach einem halben Jahr satt.«
»Dann nimmst du ein neues Goldstück aus dem Sack … Oder nee, du zauberst mir gleich eine neue Tapete. Und einen Himmel will ich auch haben. Stella hat einen pinken Himmel über ihrem Bett.« Kaum hatte Line die letzten Wörter ausgesprochen, als ihre Mundwinkel zuckten. »Voll blöd, dass wir nicht mehr zusammen spielen können. Es war immer klasse mit Stella.«
»Wir sind ja nicht auf den Mond gezogen, ihr könnt euch jederzeit wiedersehen. Das muss nur vorher verabredet werden.«
»Hier gibt’s bestimmt keine Kinder in der Nähe.«
»Das werden wir herausfinden. Als ich damals meine Omimi besucht habe, gab es gegenüber eine nette Familie, die Hensels. Zwei Jungen und ein Mädchen in meinem Alter. Caroline hieß sie. Und wenn ich bei der Omimi war, kam Caro rüber. Dann haben wir miteinander Puppen gespielt oder waren draußen im Garten.«
»Und wo ist Caro jetzt? Immer noch gegenüber?«
»Wir haben uns völlig aus den Augen verloren. Leider. Als ich deinen Papa kennenlernte, bin ich doch mit ihm nach Mailand gezogen. Keine Ahnung, ob Caro geheiratet hat oder nicht.«
»Wenn ich das einzige Kind hier bin, möchte ich wenigstens einen Hund haben, Mami.« Line nickte nachdrücklich. »Zum Spielen und Quatschen und so. In der Stadt hast du immer gesagt, dass ein Hund einen Garten braucht. Jetzt gibt es einen.«
»Aus Omimis Garten ist leider ein Dschungel geworden.«
»Dann will ich einen kleinen Löwen haben.«
Julia lachte und zog ihre Line an sich. »Du bist ja selbst eine kleine Löwin, kannst perfekt jagen, brüllen und kämpfen.«
Line hatte Tränen in den Augen, als sie erstickt verriet: »Papa hat mal gesagt, dass es gut ist, ein Löwenherz zu haben.«
Julias Blick schweifte über den blonden Kopf ihres Kindes hinweg durchs Fenster in den Abendhimmel, über den dunkelgraue, violett geränderte Wolken trieben. Wonach hielt sie Ausschau? Nach einem Zeichen, das ihr Hoffnung auf rosigere Zeiten verhieß?
Dann zerriss unverhofft ein Geräusch die Stille. Ein Hund bellte, ein ziemlich großer