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Quintus Zickel und die Schwebewesen
Quintus Zickel und die Schwebewesen
Quintus Zickel und die Schwebewesen
eBook339 Seiten4 Stunden

Quintus Zickel und die Schwebewesen

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Über dieses E-Book

Nichts ist, wie es scheint.

Was liegt hinter den Dingen? Das versuchen Julia und Simon zu ergründen, als ihre sicher geglaubte Welt ins Wanken gerät. Dabei kommen ihnen magische Kräfte und überraschende Wendungen zu Hilfe. Und ein Professor mit einem besonderen Riecher.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum28. Feb. 2020
ISBN9783750467491
Quintus Zickel und die Schwebewesen
Autor

Claus Bisle

Der Autor schuf sich durch Theaterstücke einen internationalen ruf, bevor er sich der Jugendliteratur annahm. Mit der Trilogie der Schwebewesen gelang ein erster trefflicher Erfolg. Sein Lebenswerk sieht er in dem Romanprojekt "1000 Höllen bis zur Gegenwart", das in auf Grund des Umfangs von ca. 4000 Seiten in 10 Büchern ausgearbeitet wird. In dem umfassenden Geschichtswerk wird die Reise eines jugendlichen durch die Menschheitsgeschichte in mitreißender Form ausgearbeitet. Dieses Gesamtwerk soll eine neue Dimension der historischen Romanschreibung eröffnen, das insbesondere für die Jugend geeignet ist, alle Zusammenhänge zu verstehen.

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    Buchvorschau

    Quintus Zickel und die Schwebewesen - Claus Bisle

    Diese Geschichte ist ein Dank an meine Kinder

    Verena und Philipp.

    INHALTSVERZEICHNIS

    DAS ALTE HAUS

    RADBODA SAUERMILCH

    MERKWÜRDIGE BEGEBENHEITEN

    UNGEWÖHNLICHE BEGEGNUNGEN

    DIE UNERWARTETE BEKANNTSCHAFT

    NÄCHTLICHE UMTRIEBE

    DER TAG DANACH

    WAS IST MIT JULIA?

    DIE WEISHEITEN VON QUINTUS ZICKEL

    IN DEN BERGEN

    QUINTUS SCHLÄGT ZU

    SIMONS ENTDECKUNG

    WISSEN BRINGT GEFAHR

    IM EXIL

    UND NUN?

    DAS ALTE HAUS

    »Das gibt’s doch nicht! Schert euch zum Teufel, schäbiges Gesindel! Hier habt ihr nichts zu suchen!«

    Julia stand vor Schreck der Atem still. Ihre Glieder erstarrten. Sie fühlte ihren Puls rasen. Natürlich war ihr klar, hier in diesem Garten hatte sie nichts verloren. Die Verlegenheit trieb ihr das Blut in den Kopf und am liebsten wäre sie tief im Erdboden versunken.

    Vor ihr baute sich eine stämmige Dame auf, die wohl das mittlere Alter deutlich überstanden hatte und mit böser Miene giftige Worte um sich spuckte. Wer war sie? Gehörte ihr das Anwesen? Nein, das konnte kaum sein, sie passte nicht in diese Welt.

    Der Garten, in dem sich Julia gerade sträflicherweise aufhielt, war unbeschreiblich und geheimnisvoll. Jeder Fremde, der ihn das erste Mal betrat, fand sich in einem chaotischen Blätter- und Blütenmeer wieder. In seinem verwilderten Zustand war allerdings ein System zu erahnen – nein, es war zu fühlen – ganz deutlich.

    Den Eigentümer kannte niemand. Bestimmt war er längst verstorben. Vielleicht hatte es ihn auch nie gegeben und das alles war einfach im Lauf von vielen, vielen Jahren entstanden. Egal, jedenfalls war der Garten ein Stück verzauberte Welt.

    Mit Simon kam Julia regelmäßig hierher. Das war für sie beide zu einer wertvollen Gewohnheit geworden. Ihr Refugium hatten sie an einer bestimmten Stelle des Anwesens gefunden, nämlich in dem Gartenhäuschen, das Julia nie so eng und erdrückend empfunden hatte wie zu dieser Sekunde.

    Das Gebäude war an verschiedenen tragenden Teilen baufällig. Jetzt fürchtete Julia, es werde auf sie herabstürzen. Die Pflanzen, die sich ihren Weg ins Innere erkämpft hatten, boten nirgends ein schnelles Versteck, sondern sie schienen alle Fluchtwege zu verschließen. Glücklicherweise lag sie nicht wie sonst bäuchlings auf der Erde, um ihre Hausaufgaben zu machen.

    Simon kauerte noch friedvoll auf der alten, zum Teil morschen Holzbank, hatte die Augen geschlossen und hörte Musik mit seinem iPod. Er hatte von der Aufregung um ihn her bislang nichts bemerkt und ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen.

    »Eben war’s doch noch nicht bewölkt«, murmelte er verträumt.

    Er öffnete die Augen. Jetzt erstarrte auch er, als er anstelle der vermuteten Wolken die wild gestikulierende Frauengestalt mit verbissener Miene vor sich gewahrte. Irgend so etwas wie »Du auch!« vermutete er auf ihren Lippen. Der Klang ging in einem Schlagzeugsolo unter.

    Unversehens packte sie ihn an den Kleidern und zerrte ihn hoch. Simons Kopfhörerstöpsel rutschten aus den Ohren und platschten in das Colaglas auf dem Boden. Ein gewaltiges »Verschwindet endlich« wurde daher von einem im Cola ersterbenden E-Bass-ähnlichen Sound untermalt. Es war weniger die Person selbst, sondern ihr plötzliches Erscheinen, was Simon dermaßen erschreckte. Er schnappte sich in Windeseile seinen iPod und rannte Julia nach, die bereits ein Stück entfernt, ängstlich zurückschauend auf ihn wartete.

    »Unverschämtes Pack, euch werde ich es zeigen.« Das war das Letzte, was die zwei auf ihrer Flucht hören konnten.

    »Du zitterst ja«, stellte Simon fest, als sie einen sicheren Abstand gewonnen hatten.

    »Wundert dich das? Wer war das?«

    »Die alte Storchschnabel.«

    Das war natürlich nicht der richtige Name dieser sonderbaren Frau. Simon wusste nicht, wie sie hieß. Storchschnabel nannte er sie einfach, weil sie immer sehr viel redete, und dabei rasselten ihre Lippen urkomisch gegeneinander. Simon erinnerte das an einen Storch, wenn er auch noch nie einen redenden Storch gesehen hatte. Aber falls ein Storch redete, dann konnte es nur so aussehen.

    »Storchschnabel? Das ist ja ein furchtbarer Name.« Julia musste kichern, obwohl es ihr eigentlich nicht danach war. »Ist das dein Ernst?«

    »Wenn ich es sage. Wie soll sie sonst heißen?«

    »Was weiß ich? Vielleicht Kratzbürste, Katzenblick oder Litfaßsäule.«

    Nun, die Frau sah wirklich einer Litfaßsäule zum Verwechseln ähnlich. Julias Anspielung war nicht unbedingt charmant, aber doch berechtigt. Simon begann lauthals zu lachen.

    »Litfaßsäule, natürlich. Hast du bemerkt, die Fetzen, die sie anhatte, waren auch keine Kleider. Die ist beklebt. Ich habe es genau gesehen.«

    »Red keinen Blödsinn. Womöglich hört sie uns noch.«

    Die zwei waren in sicherer Entfernung. Julias Angst war daher völlig unbegründet. Sie meinte es auch nicht ganz ernst. Simon bemerkte bereits wieder einen schelmischen Zug um Julias Lippen.

    »Außerdem«, fuhr er fort, »haben wir ein gutes Werk getan.«

    »Wir?«

    »Ja, wir. Die alte Storchschnabel schimpft aus Leidenschaft. Sie schimpft eigentlich immer. Beim Bäcker, beim Metzger, alleine auf der Straße – wo man sie sieht, schimpft sie. Meist macht sie sich selbst rund. Jetzt hatte sie endlich einmal einen Grund, richtig loszulegen. Muss echt toll für sie gewesen sein.«

    »Sims!«

    »Stimmt doch. Sie hätte uns höflich bitten können zu gehen.«

    »Wir waren ja auch nicht im Recht.«

    »Vielleicht.«

    Einige Zeit liefen beide schweigsam nebeneinander her. Ihre Gedanken waren noch im Banne der Storchschnabel und des sonderbaren Gartens, dessen Eigentümlichkeiten ihnen immer bewusst waren, die sie sich aber nie erklären konnten.

    »Ich hätte gern einmal in das Haus geschaut«, unterbrach Simon die Stille. Julia nickte beiläufig. Ihr ging das Lippenspiel der Storchschnabel noch immer nicht aus dem Sinn.

    »Wahrscheinlich liegt in irgendeiner Ecke der vermoderte Professor.«

    »Professor?« Julia blickte ihn erstaunt an.

    »Ja, einem Professor gehört angeblich der Schuppen.«

    Den Garten fand Julia geheimnisvoll genug. Um das Haus machte sie daher einen ehrfürchtigen Bogen.

    Das halb verfallene pavillonartige Gebäude, indem sich die zwei so gern aufhielten, befand sich auf einer kleinen Lichtung hinter dem Wohnhaus. Es war der freundlichste Ort des Gartens. Wahrscheinlich lag es daran, dass hier die Bäume einen vorsichtigen Abstand hielten.

    Zum Haus führten zwei Wege, beide völlig verwahrlost. Anscheinend benutzte sie schon lange niemand mehr.

    »… und du meinst, er ist tot?«, fuhr Julia leise fort.

    »Wäre doch möglich, oder?«

    »Müssten wir diese Vermutung nicht der Polizei melden?«

    »Vermutung! Vergiss nicht, es ist nur eine Vermutung. Vielleicht sollten wir es selbst auskundschaften.«

    »Ohne mich!« Julia schaute Simon entsetzt an. »Wir können doch nicht einfach einbrechen. Außerdem … vielleicht erwischt uns die fette Storchschnabel wieder.«

    »Die hat dort nichts zu suchen.«

    »Im Garten ist sie auch aufgetaucht.«

    »Das habe ich mir gerade auch überlegt. Was hat die Storchschnabel in dem Garten verloren? Uns jagt sie fort. Hat sie mehr Rechte als wir?«

    »Wird wohl so sein«, kürzte Julia die Antwort ab.

    Die Jugendlichen waren in der Zwischenzeit an einem großen Tor angelangt, der Eingang zu Simons Elternhaus. Hier trennten sich ihre Wege. Das ultimative »Bis morgen« wagte heute keiner der beiden zu sagen. Sie standen sich gegenüber und schauten sich an. »Bis morgen« bedeutete für gewöhnlich das Wiedersehen im Gartenhäuschen. Ob sie es wagen konnten, dorthin zurückzukehren? Keiner getraute sich, diesen Vorschlag zu machen.

    »Man sieht sich in der Schule?«, versuchte Julia, die Unsicherheit zu umgehen.

    »In der Schule, sicher, ja. Bis morgen«, entgegnete Simon dann doch und drückte das schwere Gitter auf. Julia sah ihm kurz nach, wie er langsam zur väterlichen Villa trottete, und bog dann rasch in die Untere Breite ein. Die Straße, in der sie zu Hause war.

    Die Hagemanns, Simons Eltern, waren wohlhabende Leute. Sie bewohnten ein vornehmes Haus inmitten einer Parkanlage. Simons Vater war selten zu Hause. Er war ein gefragter Mann in Wirtschaftskreisen und so blieb ihm für die Belange der Familie nicht viel Zeit. Wenn es ihn doch zwischendurch ins eigene Heim verschlug, lief er merkwürdig gekrümmt durch die Zimmer und Gänge des Gebäudes, da er am rechten Ohr geschäftig sein Telefon trug, das er geschickt zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt hatte. Ohne Telefon am Ohr konnte sich Simon den Vater gar nicht vorstellen.

    Der Junge war sich auch immer unschlüssig, ob der Alte gerade mit ihm oder einem Geschäftspartner sprach. Manchmal konnte er es deutlich unterscheiden, wenn er zum Beispiel hörte, »werfen Sie die blöde Kuh doch raus« oder Ähnliches, schließlich hielt Simon keine Kühe in seinem Zimmer. Allerdings hatte sich der Junge auch schon mal dafür gerächt, dass ihm beständig die Aufmerksamkeit vorenthalten wurde.

    Der Vater befahl damals, »die Unterlagen rauszuwerfen«. Simon warf kurzerhand einen Stoß Akten ins Kaminfeuer. Als es der Vater zu spät bemerkte, sammelte sich sein ganzer Blutvorrat im Kopf an. Eigentlich war der Vater ein ruhiger, besonnener Mensch, der auch zeitweise die Fähigkeit zum Lächeln mit spärlichem Erfolg übte, doch an dem Abend drohte er zu platzen. Simon fasste seinerseits den Entschluss, mit dem Vater nur noch zu reden, wenn dessen beide Ohren sichtbar waren. Das hatte zwangsweise zur Folge, dass sie nur noch selten miteinander sprachen.

    Simons Mutter war eine schöne Frau. So sagte man zumindest. Ihm war das egal. Er mochte seine Mutter so, wie sie eben war. Simon war das einzige Kind und sie zeigte für viele seiner Eigenarten Verständnis. Oft musste sie ein Auge zudrücken, wenn er wieder einmal gegen eine sonderbare Regel des Hauses verstoßen hatte.

    Sonderbare Regeln gab es genug. Der Vater hatte Bereiche, die als unantastbar galten. Doch gerade sie weckten Simons Interesse.

    Die Hagemanns bewohnten das Anwesen nicht allein. Zum einen war da die Haushälterin Nanetta und zum anderen der Gärtner Rochus. Nanetta war eine treue Seele. Sie trug sehr viel zur Erheiterung im Hause bei. Durch ihre fahrige Art stolperte sie über alles, was sich dazu eignete. Auch befanden sich Vasen und andere Gegenstände in ständiger Not, von ihrem Gefuchtel mitgerissen zu werden. Sie zeichnete sich nicht durch besondere Klugheit aus, fand Simon. Er beschrieb sie gelegentlich als die dümmste Schussel der Welt. Er hatte allerdings keinen Grund, über sie zu klagen, überging sie doch wohlwollend manche seiner Flegeleien.

    Rochus war ein anderer Fall. Kinder waren für ihn ein Gräuel. Als Gärtner vertrat er die Devise, Kinder gehörten ins Haus an den Fernseher und nicht in den Garten, schließlich würden extra für sie Kinderprogramme produziert. Bestimmt war auch er der Grund, warum Simon den eigenen Garten mied und mit Julia den verbotenen Ort aufsuchte. Rochus hatte etwas Brutales an sich. Ganz übel spürte man das, wenn er sich an seine Pflichten als Hausmeister erinnerte und den Weinkeller auf seine Qualitäten hin überprüfte. Diese Aufgabe übte er sehr gewissenhaft aus. Simon hatte ihn schon dabei beobachtet, wie er angetrunken über eine Rosenhecke stolperte. Eine Attacke auf die Rosenhecke hätte Simon unweigerlich Prügel eingetragen. Rochus gestand sich selbst also weit mehr Rechte zu als anderen. Simons Mutter mochte ihn auch nicht, doch schien er in der Gunst des Vaters zu stehen.

    Nachdem Simon sich von Julia verabschiedet hatte, schlenderte er durch das Eingangstor die väterliche Hainbuchenallee entlang zu der wuchtigen Villa. Auf dem Vorplatz sah er den tollen Flitzer des Vaters, den roten Jaguar.

    Ach, er ist wieder im Lande, war sein erster Gedanke.

    Der Vater war von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt. Was er wohl diesmal mitgebracht hatte? Meist schenkte er Simon ein Modell für seine Flugzeugsammlung. Gelegentlich wählte der Vater allerdings auch eine CD oder eine andere Überraschung aus. Geschickt traf er immer den Geschmack des Jungen. Voller Erwartung beschleunigte Simon seine Schritte und stürmte schließlich in Richtung Villa.

    Plötzlich wurde er von hinten am Hemd gepackt. Eine weitere Hand spürte er an der Kehle. Der unerwartete Druck der groben Hände schmerzte, sodass er aufschrie.

    »Nicht so eilig, du Balg! Hättest mich fast umgerannt!«

    Es war Rochus. Simon hatte ihn völlig übersehen. »Unser Garten ist keine Rennbahn!«

    »Vater ist da«, wehrte Simon schnell ab.

    »Der ist auch noch in fünf Minuten da.«

    »Bitte, lass mich los!« Die Hand am Hals lockerte sich kaum.

    »Nicht bevor du dich entschuldigt hast!«

    Seit wann legte Rochus Wert auf eine Entschuldigung?, wunderte sich Simon.

    Der Junge hatte nicht die geringste Lust, sich auf Diskussionen einzulassen, und sah auch keinen Grund, sich zu entschuldigen. Normalerweise bekam er einen Tritt von dem bösartigen Gesellen, dann war die Sache für ihn erledigt.

    »Rochus, ich habe mit dir etwas zu besprechen«, erklang in ruhigem Ton Vaters Stimme. Er hatte aus der Haustüre tretend die Szene beobachtet und nickte Simon kurz zu. »Geh du schon mal rein. Ich komme gleich nach.«

    Simon war erleichtert, aus den Pranken des Wahnsinnigen zu entkommen, und flüchtete mit den Worten »Hallo, Paps« ins Haus.

    Warum reagierte Vater so gleichgültig?, ärgerte er sich, schließlich hat mich der Grobian fast erwürgt. Eigentlich müsste er jetzt den bösartigen Gärtner zurechtweisen oder gar entlassen. Vater war ja sonst nicht so zimperlich. Der machte aber nicht den Eindruck, auf die Szene eingehen zu wollen. Simon behagte der Auftritt des Vaters nicht. Zwei Wochen hatte er ihn nicht gesehen. Wäre da nicht ein freundlicherer Empfang oder zumindest ein ordentlicher Gruß fällig gewesen?

    Zuerst die Storchschnabel und nun diese Begegnung mit Rochus, das genügte Simon einstweilen. Er betrachtete seine Kopfhörer.

    Ob die wohl die Schwimmübungen überlebt hatten?

    Nein, das war heute nicht sein Tag, stellte er ohne Zweifel fest und begab sich schnell auf sein Zimmer.

    RADBODA SAUERMILCH

    Es war ein furchtbares Gefühl. Julia saß in einem Wald. Wie aus dem Nichts wuchs die alte Storchschnabel aus einem morschen Baumstumpf. Sie war noch hässlicher als bei der letzten Begegnung. Ihr Gesicht war voller Warzen, am Kinn hatten sich Blutegel festgesaugt und die Nase gab Töne von sich wie bei einem Kampfstier. Julia wollte losrennen. Ihre Beine waren aber stocksteif und keinen Millimeter zu bewegen. Sie schlug mit den Händen um sich und gewann so das Gefühl, um sich her Raum zu schaffen. Der Angstschweiß stand ihr auf die Stirn. Sie zitterte am ganzen Leib. Gleich neben sich nahm sie einen verkrüppelten Mann wahr, der zu lachen begann. Sie schaute ihm verzweifelt und Hilfe erhoffend in die Augen. Sein Lachen klang immer furchtbarer.

    Das sind Simons Kopfhörer! Der Mann hat Simons Kopfhörer auf!, schoss es ihr durch den Kopf. Durch das wilde Lachen rutschten dem Buckligen die Stöpsel aus den Ohren und plumpsten in einen Bach. Julia wollte hinstürzen und sie auffangen. Doch ihre Beine rührten sich keinen Millimeter von der Stelle. Schon lagen die Kopfhörer im Wasser und gaben einen gellenden Laut von sich.

    Öffne die Augen!, dachte sie plötzlich.

    Erleichtert atmete sie auf. Julia lag in ihrem Bett. Der furchtbare Ton aus den Kopfhörern kam von ihrem Wecker. Hatte sie der Traum noch einmal für das gestrige Vergehen bestraft? Ihre Beine zitterten. Langsam erhob sie sich und streifte die Zudecke ab. Erlöst stellte sie fest – die Beine gehorchten ihrem Willen. Wie befreiend es sich anfühlte, einfach so zu gehen.

    Der sonderbare Mann ging ihr nicht aus dem Kopf. Simon konnte es nicht gewesen sein. Ihm war zwar gestern der Kopfhörer runtergerutscht … nein, er war es nicht. Sie wusste, Träume spielten oft böse Streiche und Personen erschienen meist in anderer oder veränderter Gestalt. Simon konnte schon gelegentlich hartherzig oder auch zynisch sein, aber er war es ganz sicher nicht.

    Sie zog den Rollladen hoch. Noch ganz in Gedanken starrte sie aus dem Fenster auf den benachbarten Park. Der Park der Hagemanns. Die Villa konnte sie nur vermuten. Riesige Kastanienbäume verwehrten ihr den Blick. Dafür hatte Julia aber eine schöne Aussicht auf den Springbrunnen und einen Teil der Rosenanlagen. Rochus sah sie dort gelegentlich arbeiten. War er der Mann aus dem Traum? Sie kannte ihn nicht näher, doch Simon beschrieb ihn oft als ziemlich ätzend.

    Lachen, das war Rochus fremd. Jedenfalls Simon zufolge. Damit schied der Gärtner schon mal aus.

    Im Moment hielt sich niemand im Park auf, zumindest konnte Julia niemanden erkennen. Aus ihrem Zimmer im achten Stock dieses Wohnblocks hatte sie den perfekten Überblick.

    »Was ist denn heute los?«, erklang eine Stimme. Julias Mutter. »Du bist schon auf?«

    Merkwürdig war das schon, denn Julia verkroch sich gewöhnlich nach dem Weckerklingeln unter der Bettdecke und die Mutter hatte alle Mühe, sie in dem Wulst auszugraben.

    Julia und ihre Mutter, Magdalena Weingärtner, lebten zu zweit in der kleinen Wohnung. Sie waren ein eingespieltes Team.

    Als das Mädchen den verwunderten Blick ihrer Mutter sah, überlegte sie, ob sie von dem Traum erzählen solle oder nicht. Doch sie war ein Morgenmuffel und so nickte sie ihr lediglich ein vergähntes »Guten Morgen« zu. Magdalena lächelte verständnisvoll und verließ mit einem beiläufigen »Das Frühstück ist fertig« das Zimmer.

    *

    Die Untere Breite befand sich in einem Vorort von Neustadt. Um in die Schule zu gelangen, nahm Julia den Bus. An der Haltestelle traf sie häufig Simon. Wie Julia besuchte er das Emmanuel-Kant-Gymnasium. Heute würden sie einander verpassen, da Simon erst in der zweiten Stunde Unterricht hatte. Er war ein Jahr älter als Julia und eine Klassenstufe über ihr. Die Anfangszeiten ihres Schultags deckten sich daher nicht immer.

    Julia machte sich morgens aus einem Hang zum Aberglauben gelegentlich einen Spaß. Sie bildete sich ein, die erste Begegnung des Tages würde dessen ganzen Ablauf beeinflussen. Träfe sie auf einen Menschen, der ihren freundlichen Gruß erwiderte, so könnte nichts mehr schiefgehen und der Tag wäre gerettet. Mit diesen Gedanken spielte sie auch heute, während sie an der Mauer des Hagemann’schen Anwesens entlanghastete, um danach links in die Bahnhofstraße einzubiegen, Simons Adresse, an deren Ende sich die Bushaltestelle befand. Als sie an der Kreuzung ankam, verlangsamte sie ihren Schritt und blickte vorsichtig nach rechts in die Straße hinein. Wen würde sie als Erstes erblicken? Unbekannte eilten an ihr vorüber, entweder wollten sie ebenfalls zum Bus oder sie verschwanden still in Nebenstraßen.

    Julia lief aufmerksam weiter. Nein, das durfte nicht wahr sein, auf sie hier zu treffen, war ein ganz übles Vorzeichen. Wie herbeigezaubert stand vor ihr Radboda Sauermilch, ihre Klassenkameradin. Selbstverständlich hieß sie nicht Sauermilch. Simon nannte sie immer so. Er hatte die Gewohnheit, für jede und jeden einen geeigneten Namen zu finden. In Wirklichkeit hieß sie Wilk, Radboda Wilk.

    Radboda konnte man durchaus nicht als Schönheit bezeichnen. Ihre Haare hingen ungepflegt über das knochige Gesicht. Am größten schienen die Augen zu sein, die immer in Bewegung waren. Den Mund benutzte sie im Gegensatz dazu fast nie. Das ganze Mädchen war dürr. Simon meinte, wenn man sich in ihrer Nähe befinde, sollte man den Atem anhalten, denn unter dem kleinsten Luftzug bräche sie ab. Radboda war hochintelligent und das machte sie unter den Schülern auch nicht gerade beliebt. Da sie bereits eine Klassenstufe übersprungen hatte, war sie die Kleinste unter Julias Mitschülern. Anfangs tat sie sich sehr schwer, den fehlenden Stoff aufzuarbeiten, doch biss sie sich zäh durch und nun war sie bereits wieder Klassenbeste. Wenn im Winter bei den Wilks der Schornstein rauchte, meinte Simon: Radboda ist beim Pauken heißgelaufen. Was sie besonders unbeliebt machte, war ihre kühle, distanzierte Art. Sprach man sie an, so reagierten lediglich ihre Augen. Der Rest des Mädchens blieb unbeteiligt. Auch hier hatte Simon eine Meinung. Er war der Ansicht, außer dem Gehirn und den Augen wäre an ihr alles überflüssig.

    Und nun musste Julia an diesem Morgen ausgerechnet ihr begegnen. Was für ein Omen!

    »Guten Morgen, Ra…«, fing sie an, doch der vermeintliche Unstern war bereits an ihr vorbeigeschossen. »Blöde Kuh«, schloss Julia den begonnenen Satz und folgte ihr etwas langsamer bis zur Bushaltestelle.

    Mathe!

    Allein dieses kurze Wort entfachte in Julia ein unangenehmes Gefühl. Heute stand in der ersten Stunde zu allem Übel noch eine Klassenarbeit an, unangekündigt. Was für ein Tag. Erst walzte ihr Radboda über den Weg und jetzt drohte gleich das nächste Unheil. Als Schnuffi, so nannten sie den Mathelehrer, da er immer die Nase gekünstelt hochzog, die Blätter mit den Aufgaben austeilte, schien er auf Reißnägeln zu kauen. Sein Gebiss bewegte sich in alle erdenklichen Richtungen und jedes Mal verkrampften sich die Backenmuskeln auf entsetzliche Art. Julia war keine schlechte Schülerin, doch vor Mathe hatte sie heillosen Respekt. Vielleicht bezog sich der Respekt auch eher auf Schnuffi, den alle fürchteten. Nun, das war schließlich einerlei. Mathe und Schnuffi waren sowieso nicht trennbar, jedenfalls nicht in diesem Schuljahr.

    Als Julia das Blatt vor sich liegen hatte, überflog sie die Aufgaben. Nummer eins und drei hielt sie für lösbar. Bei Nummer zwei und vier musste man mal sehen. Insgesamt konnte eine Drei rausspringen, überschlug sie und begann etwas beruhigter zu rechnen.

    Zwischendrin wanderte ihr Blick zu ihrer Nachbarin und automatisch noch einen Platz weiter. Hier saß Radboda … oder besser gesagt, hier rutschte Radboda mit dem Hintern auf ihrem Stuhl hin und her. Sie war schon völlig in die Arbeit vertieft und traktierte mit ihrem Füller das Aufgabenblatt. Julia musste lächeln. Sie stellte sich gerade vor, das Schreibgerät würde zu glühen beginnen und das Papier in einem Funkenflug untergehen. Waren da nicht kleine Rauchwolken über dem Blatt der ungeliebten Kameradin?

    Einen Vorteil hatten Mathearbeiten, die Zeit raste dahin. Und bald kündigte Schnuffi das Ende an. Die Arbeiten wurden von außen zur Mitte hin gegeben, damit er dort zügig einsammeln konnte. So geschah es, dass Julia unversehens Radbodas Arbeit in den Händen hielt. Ihr Blick fiel auf das Ergebnis der dritten Aufgabe –»25«.

    Nein, 252 musste da stehen.

    Julia war sich absolut sicher. Doch schnell zogen Zweifel auf. Radboda irrte sich nie. In Windeseile überschlug sie die Aufgabe erneut. Eindeutig 252.

    Schnuffi stand schon ganz in der Nähe und legte die bereits eingesammelten Arbeiten säuberlich aufeinander. Julia zögerte keine Sekunde mehr, griff zu ihrem Stift und ergänzte die 25 mit der fehlenden Zwei auf Radbodas Blatt.

    »Jetzt aber aus.« Mit diesen Worten zog Schnuffi ihr das Blatt weg, legte es auf den Stapel und ging weiter. Julias Herzschlag setzte aus. Der Lehrer hatte das Blatt für ihres gehalten. Das war knapp gewesen. Was hatte sie getan? Wenn nun 25 stimmte? Dann war Radbodas Aufgabe falsch. Keine Eins zu schreiben galt für Radboda als vermasselt und als Vorbote eines nahenden Weltuntergangs.

    »Zweihundertzweiundfünfzig«, erklang es da in der ersten Reihe. Julia nahm es wie in einem Traum wahr. »Hast du das auch?« Ihr Blick wanderte zu Radboda. Auch sie hatte die Jungs gehört. Es war an ihrer Mimik abzulesen, wie sie die ganze Aufgabe noch einmal durch ihren Kopf wandern ließ. Eine Blässe legte sich über ihre Züge. Julia hingegen fühlte sich wie von einem schweren Bann erlöst. Es war ein tolles Gefühl, jemandem geholfen zu haben. Es spielte dabei keine Rolle, ob es ein Freund oder eben die merkwürdige Radboda war. Gleichzeitig aber begriff sie sich selbst nicht. Radboda hätte Ähnliches nie gemacht. Ganz im

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