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Heimfahrt
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eBook130 Seiten1 Stunde

Heimfahrt

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Über dieses E-Book

In Heimfahrt revoltiert eine Frau gegen die Scheinheiligkeit eines Familientreffens und bricht vorzeitig auf. Ihre kleine Revolte gestaltet sich zum Alptraum, der ihr jede Rückkehr in ihr scheinbar vertrautes Leben verwehrt. Sind es zuerst noch Gewitter, Stau und Umleitung, die ihre Heimkehr verzögern, ist es ihr am Ende nicht möglich, ihren Heimatort zu finden. Er scheint von der Landkarte gelöscht. Verloren irrt sie durch eine Welt, die sich ihr konsequent entzieht und sie auf sich selbst zurückwirft.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Feb. 2014
ISBN9783847673606
Heimfahrt

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    Buchvorschau

    Heimfahrt - Andrea Michaelis

    1

    Das alte Haus war auf Hochglanz gebracht. Bohnerwachs hing in der Luft. Der Dielenboden und die Holzstiege schimmerten samten. Ihre Mutter hatte früher pünktlich am ersten Samstag des Monats gewachst, und Damaris, Paul und Sonja liebten es als Kinder, in Strümpfen über den glatten Boden zu gleiten. Sonja lächelte bei der Erinnerung. Ein Samstagsgefühl begann sie zu durchströmen, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr kannte. Es war ein erwartungsvolles, freudiges Prickeln, als ob irgendetwas Außergewöhnliches, Besonderes geschehen müsste.

    Verlegen ertappte sie sich dabei, dass sie auf die vertrauten Schritte ihres Vaters lauschte. Am liebsten wäre sie nicht durch den schmalen Flur in die Küche, sondern die Holzstiege hoch in ihr altes Zimmer gegangen. Daneben hatte das Schlafzimmer ihrer Eltern und später dann das ihres Vaters gelegen. Wenn sie sacht anklopfte, vielleicht würde die warme, alte Stimme wie früher: „Komm schon endlich rein! Schön, dass du da bist!", rufen, und sie könnte sich daheim fühlen.

    Aus dem Esszimmer drang geschäftiges Klappern. Damaris wies ihre kleine Tochter an, die Servietten nicht auf, sondern neben die Teller zu legen. Sonja rief sich zur Ordnung. Ihr Vater war seit drei Jahren tot. Wolfgang hatte das Haus komplett renoviert und außer dem Flur erinnerte nichts mehr an ihre Kindheit. Der Speicher war ausgebaut, die Küche verkleinert, das Wohnzimmer vergrößert und der Garten betoniert worden. Grellorange gemusterte Tapeten waren ausgetilgt und durch dezentere Struktur- und Textiltapeten ersetzt worden. Bäuerlich anmutende Einbaufronten verliehen der Küche nun trotz Geschirrspülmaschine, Eierkocher und Mikrowelle einen bodenständigen Charme. Die funktionalen, himmelblauen Plastikschränke ihrer Mutter waren auf dem Sperrmüll gelandet.

    Das Wohnzimmer wurde von einer Schrankwand beherrscht, nussbaumfurniert, als Abrundung eine ausladende Polstergarnitur. Natürlich fehlte auch der Glastisch nicht - die Krönung der Gemütlichkeit. Drei Kinder schmückten ihn mit Handabdrücken, damit Damaris ihn täglich polieren konnte. Zweifellos hätte ihre Mutter diese Einrichtung gemocht, wahrscheinlich hatte sie sogar selbst von einer Schrankwand geträumt, aber sie waren nie wohlhabend gewesen. Wie früher war das Esszimmer Sperrgebiet und nur zu besonderen Gelegenheiten zugänglich. Edelmöbel, teure Ziergegenstände, das gute Geschirr und ein schwer zu reinigender, kostbarer Teppich - vielleicht hatte sich doch nicht so viel verändert.

    Allerdings den Gemüse- und Kräutergarten vermisste Sonja. Wo er sich einst den Hang hinaufgeschlängelt hatte, von Steinmäuerchen, Sträuchern und Obstbäumen durchbrochen, lag jetzt Wolfgangs Stolz - eine gewaltige Betonterrasse, die in der Tat Platz für Damaris Wäschespinne und das Familiengartenmöbel bot. Sonja besuchte ihre Schwester nicht oft, denn Wolfgang und sie verband eine zur festen Gewohnheit gewordene Abneigung.

    Beide hassten dieses jährliche Familienfest. Fünf Personen, die sich nichts zu sagen wussten, versammelten sich um den ausziehbaren Kirschbaumtisch. Nur Damaris schien sich unermüdlich auf dieses Geschwistertreffen zu freuen. Als Älteste hielt sie es wohl für ihre Pflicht, die Familie zusammenzuhalten. Paul, der Jüngste von Ihnen, wohnte mit seiner Frau und seinem vierjährigen Sohn in Hamburg. Er hatte in der Großstadt seine Wahlheimat gefunden, und nichts zog ihn in das provinzielle Heilbronn zurück. Trotzdem würden die drei pünktlich zum Abendessen erscheinen, zum Umfallen müde von der langen Fahrt.

    Sonja straffte die Schultern. Sie konnte nicht ewig hier im Flur stehen bleiben, es wurde Zeit offiziell anzukommen. Die Tür zum Esszimmer lag zu ihrer Rechten. Sie musste nur die Hand ausstrecken und die Klinke herunterdrücken. Und wenn sie einfach kehrt machte? Wenn sie sich zu ihrem Auto zurückschlich und von der nächsten Telefonzelle aus anrief? Darmgrippe, von jetzt auf nachher. Am Morgen hatte es angefangen, aus heiterem Himmel. Was konnte sie nur gegessen haben? Sie wäre gerne gekommen, daher hatte sie auch bis zum letzten Augenblick gezögert abzusagen. Keine Frage, kommendes Jahr wäre sie zur Stelle. Es tat ihr schrecklich leid! Lautlos streifte sie die Schuhe von den Füßen - nur jetzt nicht noch ertappt werden! Ein vierunddreißigjähriges Schulmädchen - nicht kichern, sie durfte auf keinen Fall kichern, sonst war ihre Chance vertan.

    Polterndes Klirren und das entsetzte Weinen von Dagi, dem fünfjährigen Nesthäkchen, drangen aus dem Esszimmer. „Du weißt genau, dass du die Gläser nicht in die Hand nehmen darfst, Dagi! Sieh dir an, was du angerichtet hast! Habe ich dir nicht gesagt, dass du das Besteck verteilen sollst? Raus hier, und lass dich erst wieder blicken, wenn Tante Sonja da ist! Die Tür wurde aufgerissen, und das kleine Häufchen Elend blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. „Raus mit dir, ich will dich nicht mehr sehen!

    Sonja fühlte die Röte ins Gesicht steigen. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen und blinzelte Dagi verschwörerisch zu, aber es war zu spät. Die Kleine, ganz neugierige Verwunderung, hatte ihr eigenes Unglück längst vergessen. „Tante Sonja, Tante Sonja ist da! Mami, guck doch, sie ist strümpfig. Schnell wischte Dagi sich die Tränen vom Gesicht und musterte die seltsame Tante kritisch. „Man darf nicht strümpfig gehen, da wird man krank und die Socken gehen kaputt.

    Damaris trat hinter ihre Tochter und warf ihrer Schwester einen erstaunten Blick zu. „Die verdammten Schuhe drücken. Ich habe von den paar Metern schon eine Blase."

    Tadel zuckte um Damaris Mundwinkel. Würde sie es sagen? Sonja wartete gespannt. Sie sah förmlich, wie sich ihre Schwester auf die Zunge biss. „Du sollst nicht vor dem Kind fluchen!"

    Immerhin, sie hatte es versucht. Sonja lächelte entschuldigend. „Hallo Schwesterherz! Ich habe im Stau festgesteckt. Tut mir leid, dass ich so spät komme. Kann ich dir noch etwas helfen?"

    „Wir sind fast fertig. Der Auflauf ist im Ofen, der Tisch so ziemlich gedeckt. Paul hat vor knapp einer Stunde von einem Rastplatz angerufen. Sie müssten gleich ankommen. Hast du Lust, den Salat zu machen? Geputzt ist er schon."

    Sonja verschwand mit Dagi im Schlepptau in der Küche. Wolfgang und die Zwillinge saßen im Wohnzimmer und sahen sich die Sportschau an. Sie hoben kaum die Köpfe, um auf Sonjas Begrüßung zu reagieren. Schade eigentlich, dass an diesem Abend kein wichtigeres Spiel wie zum Beispiel die Endausscheidung einer Weltmeisterschaft übertragen wurde!

    „Darf ich dir die Zwiebeln schneiden, Tante Sonja? Ich kann das schon. Die Mama lässt mich das auch machen."

    Mit schlechtem Gewissen wandte Sonja ihre Aufmerksamkeit dem Kind und der Salatsoße zu. „Klar, darfst du! Sie schälte eine Zwiebel, halbierte sie und legte sie dem Kind zurecht. Mit Feuereifer machte Dagi sich ans Werk und ihre Zunge spitzte vor Konzentration etwas zwischen den Lippen hervor während sie mit dem Messer hantierte. Die Zwiebelstücke, die sie zuwege brachte, waren viel zu grob, aber Sonja tadelte die Kleine nicht, sondern beobachtete sie mit einem seltsamen Gefühl der Traurigkeit. „Soll ich dir die Geschichte vom Zwiebelkönig und der Heulsuse erzählen?, bot sie quasi als Widergutmachung an.

    „Oh ja! Eine ganz, ganz lange Geschichte, bitte!", jubelte Dagi mit leuchtenden Augen, ließ sich anstandslos Brett und Messer wegnehmen und setzte sich erwartungsvoll auf der Eckbank zurecht.

    „Es war einmal ein armer, alter Bauer", begann Sonja zu erzählen. „Seine Frau war gestorben und hatte ihn mit seiner Tochter Suse allein zurückgelassen. Suse vermisste ihre Mama sehr, aber da sie wusste, dass auch ihr Vater sehr einsam war, klagte sie nicht, sondern half ihm, so gut sie konnte. Sie kochte, putzte, arbeitete auf dem Feld und kümmerte sich um die Kuh. Natürlich hatte sie da keine Zeit mehr zu spielen, oder den Fröschen zuzusehen. Abends fiel sie todmüde ins Bett und stand mit dem Hahn im Morgengrauen auf. Eines Morgens, als Suse das große Zwiebelfeld hackte, wurde sie von einer dunklen, tiefen Stimme gerufen. Erschrocken sah sie sich um, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Nachdenklich schüttelte Suse ihren Kopf und wollte weiterarbeiten, da hallte ihr Name erneut dumpf durch die Stille zu ihr herüber. Der Ruf schien aus der Mitte des Feldes zu kommen, und tatsächlich thronte dort eine prächtige Riesenzwiebel, die sie mit ihren langen Blättern zu sich heran winkte. Neugierig näherte sich Suse. Wer bist du?, fragte sie verwundert und ein wenig furchtsam.

    Ich bin der König der Zwiebeln. Du bist ein fleißiges Kind, und ich würde dich gerne auf meine Reisen mitnehmen. Hast du denn Lust, die große, weite Welt kennen zu lernen?

    Dagi saß bewegungslos und lauschte.

    „Sonja, ich glaube das Auto ist vorgefahren. Siehst du mal aus dem Wohnzimmerfenster?" Der Ruf kam aus dem ersten Stock. Wahrscheinlich richtete Damaris die Betten für ihre Gäste.

    „Nicht aufhören! Weitererzählen, Tante Sonja! Was ist mit der Suse?"

    „Das geht jetzt nicht, Dagi, vielleicht später. Komm, lass uns zusammen nachsehen, ob Onkel Paul und Tante Claudia angekommen sind!"

    Das Kind zuckelte unzufrieden hinter ihr her. Eine Schiebetür führte von der Küche direkt ins Wohnzimmer. Um an das Panoramafenster zu gelangen, musste Sonja am Fernseher vorüber. Sie konnte hören, wie Wolfgang und seine sechzehnjährigen Söhne verärgert die Luft einsogen. Sonjas Nackenhaare sträubten sich. Es hatte angefangen, jetzt gab es kein Entkommen mehr. Ein endloses Abendessen, ein endloser Abend, kein Zimmer für sich allein, ein endloses Frühstück und ein endloses Mittagessen standen ihr bevor. Paul kam schließlich extra aus Hamburg, da durfte sie sich doch nicht vor ihm verabschieden.

    Das erste Wochenende im September verlief nach einem strengen Ritual. Am späten Vormittag würde Paul mit seiner Familie wieder abfahren, um bei einem alten Schulfreund den Sonntag zu verbringen. Sonja hatte am Samstag etwas früher zu erscheinen, um Damaris bei den Vorbereitungen zu helfen. Am Sonntag musste sie das Mittagessen noch im Kreise der Familie einnehmen, dann erst war auch sie entlassen.

    Warum nur war sie wieder hier? Es wäre ihr fast gelungen, die Tradition zu brechen. Der Stau war reine Erfindung. Auf der A81 hatte sogar ungewöhnlich schwacher Verkehr geherrscht. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand hatte sie zuhause reglos am Küchenfenster gestanden und gewartet. Die Minuten waren verstrichen, aber sie hatte das mahnende Ticken der Uhr ignoriert und darauf gehofft, spontan zum Telefonhörer zu greifen. Vergeblich. Es war ein sonniger

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