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Schattenseiten: Dein größter Feind lauert in Dir selbst
Schattenseiten: Dein größter Feind lauert in Dir selbst
Schattenseiten: Dein größter Feind lauert in Dir selbst
eBook541 Seiten7 Stunden

Schattenseiten: Dein größter Feind lauert in Dir selbst

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Über dieses E-Book

Ein Unbekannter ermordet systematisch Straftäter, die für ihr Verbrechen vor Gericht freigesprochen worden sind.
In ihren Ermittlungen stolpern die Kommissare Erik Bachmann und Robert Bukowski auf Hinweise, dass in diesen Fällen Bestechungsgelder geflossen sind. Sowohl Richter, als auch Rechtsanwälte scheinen die Hand aufgehalten zu haben. Der Mörder scheint als "Stiller Rächer" die Urteile zu sprechen, von denen sich die Angeklagten freigekauft haben.
Doch bevor sie dem Mörder auf die Spur gekommen sind, nimmt der Fall eine schreckliche Wendung: Eriks Frau wird ermordet. Erik und Robert müssen sich die Frage stellen: Wer ist in diesem Spiel Jäger und wer ist Gejagter?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Nov. 2017
ISBN9783742765833
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    Buchvorschau

    Schattenseiten - Kai Kistenbruegger

    Über die Stunde Null

    Meine Erinnerungen an die Nacht ihres Todes sind undeutlich und merkwürdig verzerrt, als wären die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht lediglich ein Alptraum und Sandra in Wirklichkeit immer noch bei mir. Vielleicht ist es mein Verstand, der einen barmherzigen Schleier des Verdrängens vor diese entsetzlichen Bilder gezogen hat, um mir ihren Anblick im Todeskampf zu ersparen. Manchmal, in den seltenen Stunden, in denen ich versuche, mich an all die verstörenden Einzelheiten zu erinnern, bin ich froh über diese gnädige Geste meines Verstandes. Ich glaube, über kurz oder lang würden mich diese Bilder in den Wahnsinn treiben, würde ich sie tatsächlich immer noch in all der schmerzenden Klarheit sehen, wie in jener fernen Nacht ihres gewaltsamen Todes.

    Auch wenn ich weiß, was in dieser Nacht tatsächlich passiert ist, ist es nicht allzu viel, an das ich mich wirklich erinnere.

    Was sich mir jedoch in aller entsetzlichen Deutlichkeit ins Gedächtnis gebrannt hat, ist ihr markerschütternder Schrei, nur Sekunden vor ihrem Tod. Diesen Schrei kann ich immer noch in meinen Ohren klingen hören; ich habe ihn seit diesem schicksalhaften Tag nicht vergessen, und ich werde ihn auch nie vergessen. Dieser Laut hat sich in meinen Gehirnwindungen festgesaugt, unbarmherzig und blutrünstig wie eine Zecke, und verfolgt mich seither in meinen Träumen, anklagend, wie eine alte Schallplatte, die immer das gleiche Lied spielt.

    Obwohl ihr Gesicht inzwischen langsam hinter dem Vorhang der Zeit verblasst, bohrt sich diese letzte Erinnerung an sie quälend in meine Träume und manchmal sogar in meine wachen Momente. Vielleicht wäre ihr Tod vermeidbar gewesen, hätte ich den Verlauf der schrecklichen Dinge vorhergesehen, die meine Frau aus dem Leben rissen und mich mit dieser schmerzenden Lücke in meinem Dasein alleine zurückließen. Aber ich habe die dunklen Gewitterwolken am Horizont meines Lebens nicht kommen sehen. Mit ihrem Tod starb ein Teil von mir selbst; und nichts danach sollte wieder so sein, wie es vorher war.

    4 Stunden danach

    Nur langsam drang das grelle Licht in mein Bewusstsein. Auch meine Ohren nahmen nur zögerlich ihre Arbeit wieder auf, als müssten sie das Hören erst wieder neu erlernen. Die Stimmen verschiedener Menschen drangen in meine sensiblen Gehörgänge, doch sie waren nicht mehr als sinnlose und zusammenhangslose Wortfetzen. Sie wirkten unerträglich laut, als würde eine Horde betrunkener Motorradfahrer direkt neben meinem Kopf eine wilde Party feiern. Ich stöhnte unterdrückt, unfähig, mich anders zu artikulieren. Mein Körper wurde von Kopf bis Fuß von betäubenden Schmerzen durchflutet und reagierte nur unwillig auf meinen vorsichtigen Versuch, meine gefühllosen Gliedmaßen zu bewegen. Mein Gehirn wirkte wie in Watte gepackt, kaum in der Lage, die undeutlichen Signale meiner betäubten Sinne zu verarbeiten.

    Was ist hier los? Wo bin ich?

    „Er ist noch am Leben!", verkündete eine dumpfe Stimme irgendwo über mir und zog mit einer ruckartigen Bewegung die blendende Taschenlampe aus meinem Blickfeld. Ich kannte die Stimme nicht; sie vibrierte in einem unnatürlichen Klang, als würde ich der schlechten Vertonung eines uralten Filmes lauschen.

    „Herr Bachmann, können Sie mich verstehen?, fragte eine weitere Stimme fordernd, die ich ebenfalls keiner bekannten Person zuordnen konnte. „Herr Bachmann, hören Sie mich?

    „Ja", murmelte ich schwach. Meine Zunge fühlte sich an, als hätte ich die letzte Nacht in einem wilden Rausch verbracht. Sie lag schwer und trocken in meinem Mund und machte es schwierig, klar artikulierte Worte über meine spröden Lippen zu bringen. Nur langsam nahmen die schwebenden Silhouetten über mir Konturen an, wie das sanfte Licht des beginnenden Tages nur gemächlich die Schatten der Nacht vertreibt.

    Zwei Männer standen über mir. Sie trugen die roten Jacken des Rettungsdienstes, die in meinen vielen Berufsjahren so etwas wie ein ständiger Begleiter geworden waren. Ihre Anwesenheit bedeutete selten etwas Gutes. In den meisten Fällen zogen sie unverrichteter Weise von dannen und überließen die frisch Verstorbenen uns, um ihren unnatürlichen Tod aufzuklären und den Verursacher hinter Schloss und Riegel zu bringen.

    Nur langsam nahm ich auch Einzelheiten meiner Umgebung wahr. Ich lag auf dem Boden. In unserem Wohnzimmer. Der weiche Teppich schmiegte sich sanft an meinen Rücken und kitzelte meinen Nacken.

    Als hätte die sanfte Berührung ein Fach in den unzähligen Schubladen meines Verstandes geöffnet, stürzten die Bilder der letzten Nacht ohne Vorwarnung auf mich ein und raubten mir für eine kurze Zeit den Atem. Ich stöhnte auf, aber nicht wegen der körperlichen Schmerzen, die sich meines Körpers bemächtigt hatten und ihn ihrer Tyrannei unterwarfen, sondern wegen des psychischen Horrors der Erinnerungen, die mich zwangen, die erschreckenden Stunden der Nacht wieder vor meinem inneren Auge erleben zu müssen. Die Bilder waren zwar verschwommen, konnten aber trotzdem nicht verbergen, was ich am liebsten verdrängt hätte.

    „Sandra!", schrie ich schwach. Den Protest meines Körpers ignorierend, versuchte ich, mich aufzurichten.

    „Bitte bleiben Sie liegen, befahl einer der Männer und packte mich am Arm. „Wir wissen nicht, ob Sie Verletzungen davongetragen haben.

    Er versuchte, mich sanft in die weiche Umarmung des Teppichs zu drücken.

    „Nein!, protestierte ich, während langsam wieder Gefühl in meine Arme und Beine kroch. „Ich will zu meiner Frau! Wo ist meine Frau?

    Ich schüttelte die helfende Hand unwirsch ab. „Lassen Sie mich!, schrie ich. Ich versuchte, mich gegen den gutmütigen Druck der beiden Sanitäter durchzusetzen, aber eine sanfte Berührung an meiner Schulter ließ mich innehalten. Ich blickte auf und starrte in das Gesicht meines Vorgesetzten. „Bitte, Erik, bleiben Sie liegen, brummte Walter Steinmann beruhigend, doch in dieser Situation hätte mich lediglich eine hohe Dosis Valium dazu bewegen können, liegen zu bleiben.

    Walter Steinmann war der Leitende Kriminaldirektor, der Chef der Kriminalpolizei im Düsseldorfer Raum. Er hatte die Leitung in unserem Fall übernommen.

    Er sah aus, als hätte er in einem aussichtlosen Kampf eine vernichtende Niederlage erlitten. Den Mund hinter dem grauen Schnurrbart hielt er zu einem dünnen Strich zusammengepresst; seine Augen blickten aus tiefen, müden Höhlen traurig unter den buschigen Augenbrauen hervor. In all meinen Jahren bei der Kriminalpolizei war er mir nie in einer derart desaströsen Verfassung gegenübergetreten. Von der Härte und Durchsetzungskraft, die ansonsten seine steinerne Miene dominierten, war nichts mehr zu sehen. Dabei war seine stoische Ruhe und Gelassenheit, selbst bei schwierigen Einsätzen, so etwas wie sein Markenzeichen geworden, und hatte ihm den wenig schmeichelhaften Spitznamen ‚Arnold’ eingebracht, in Anlehnung an den gefühlskalten Roboter, den Arnold Schwarzenegger in dem Film Terminator spielte. Doch in diesem Moment verriet eine tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn, dass er dieses Mal nicht in der Lage gewesen war, eine professionelle Distanz zu bewahren. Er fühlte sich persönlich betroffen; das war in seinen Augen so offensichtlich abzulesen wie der Mörder in einem billigen Groschenroman.

    Ich kannte bereits die erschreckende Antwort auf die Frage, die sich unaufhaltsam in meinen Verstand drängte; aber ich fragte trotzdem, auch auf die Gefahr hin, durch seine dunkle Stimme die Bilder meiner Erinnerungen bestätigt zu sehen.

    „Wo ist Sandra?"

    Walter Steinmann blieb mir eine Antwort schuldig. Trotzdem ließen seine nächsten Worte keinen Zweifel daran, was mit meiner Frau passiert war. „Er hat sie erwischt", murmelte er mit einem leicht angedeuteten Kopfschütteln, das die ganze Tragödie meines Lebens in einer simplen Geste zusammenfasste.

    Ich stolperte auf meine Beine. Dieses Mal hielt mich niemand mehr auf. Steinmann drückte die beiden Sanitäter mit seinem Arm sanft zurück und ließ mich gewähren.

    Nur ein paar Meter neben mir hatte sich eine kleine Traube von Sanitätern und Polizisten versammelt, die langsam zurückwichen, als ich näher torkelte.

    In ihrer Mitte lag Sandra, ihr Körper in einer unnatürlichen Pose verdreht, die schmerzlich die Qualen ihrer letzten Minuten veranschaulichte und ihre frühere Schönheit hinter der schrecklichen Maske des Todes verbarg.

    Ich sank neben ihr auf die Knie, während die Tränen in Strömen meine Wangen hinabliefen. Ich fing an zu schreien und hörte erst auf, als mich starke Arme von der Leiche meiner Frau wegzogen.

    21 Tage davor

    Mit einem sonoren Sirren kämpften die Scheibenwischer gegen den fortdauernden Strom von Regen an. Bereits seit drei Tagen regnete es unablässig wie aus Kübeln, und inzwischen kroch die Feuchtigkeit durch alle Ritzen und Fugen in die Häuser und Herzen der Menschen. An den Straßenrändern strömte das Wasser in reißenden Bächen in die Kanalisation und erweckt unwillkürlich den Eindruck, Düsseldorf wäre nicht auf festem Grund, sondern wie Venedig auf einem ständig schwankenden Untergrund aus Wasser erbaut. Selbst in dem wohlig temperierten Innenraum der Limousine, mit einem stetigen Zustrom warmer Luft im Gesicht, drang die klamme Kälte von draußen bis tief unter meine Haut. Die Scheiben waren beschlagen, so dass außerhalb des Wagens kaum etwas zu erkennen war. Selbst die Klimaanlage kapitulierte vor der Aufgabe, der Luft ihre überschüssige Feuchtigkeit abzutrotzen.

    „So ein Scheißwetter!, fluchte Bobby neben mir und schmierte mit seinem Jackenärmel ein winziges Guckloch in die Windschutzscheibe. „Seit meinem letzten Urlaub am Meer habe ich nicht mehr so viel Wasser auf einmal gesehen!

    Ich kannte Robert Bukowski, Bobby, bereits seit Jahren, seit unserer gemeinsamen Zeit auf der Polizeischule. Er war seit inzwischen beinahe vierzehn Jahren mein Kollege bei der Kriminalpolizei, oder vielmehr noch: Er war mein Freund. Seitdem wir beide zum Kriminaloberkommissar befördert worden waren, war unsere Freundschaft sogar noch enger geworden. Rückblickend betrachtet, schmerzt sein Tod am meisten. Sandra zu verlieren, war eine Tragödie; sie war mein Leben, mein Ein und Alles. Und trotzdem, mit Roberts Tod verlor ich endgültig alles, was mir von meinem alten Leben noch geblieben war. Wäre ich in der Lage, die Zeit zurückzudrehen, würde ich ohne zu zögern zu jenem trüben Novembertag zurückspringen, um die verhängnisvolle Kette an Ereignissen zu unterbrechen und das Leben meiner Frau und meines Freundes retten. Aber leider saß ich ahnungslos im Auto neben Bobby und ahnte nicht im Geringsten, welche Grausamkeiten mein Schicksal für mich bereithalten sollte.

    Ich erinnere mich an all die kleinen Details, als wäre es erst gestern passiert. Der Geruch im Wagen; es roch penetrant nach alten Zigaretten, obwohl keiner von uns beiden rauchte. Das beige Sakko, das Bobby bevorzugt trug, war von dem kurzen Weg bis zum Auto durchnässt und schimmerte in einem dunklen Braunton. Im Radio lief irgendein Song, eine Eintagsfliege, deren Urheber längst von einer schnelllebigen Popkultur aus dem selektiven Gedächtnis der Radiosender gestrichen worden war. Seit jenem Tag habe ich das Lied nie wieder bewusst im Radio gehört, doch die nichtssagende Melodie dudelt immer noch in meinem Kopf, wenn ich an diesen Moment zurückdenke.

    Bobby starrte mit finsterem Blick mürrisch auf die Straße und versuchte angespannt, unter der Wasserlache vor ihm den Asphalt ausfindig zu machen.

    „Wir sollten anfangen, die verdammte Arche Noah zu bauen, um unsere Ärsche in trockene Gefilde zu verfrachten", fluchte er, die Hände fest um das Lenkrad gekrallt.

    Er ignorierte die nächste rote Ampel und schlängelte den BMW an ein paar parkenden Autos vorbei.

    Ich lachte. „Im Gegensatz zur Arche Noah hat dieses Fahrzeug aber Bremsen, Bobby!"

    Bobby warf mir einen warnenden Blick zu. „Da bin ich mir nicht sicher, murrte er. „Im Moment schwimmt das Auto eher, als dass es fährt.

    „Dann pass wenigstens auf, dass du uns nicht direkt über den Jordan beförderst. Ich schwitze hier Blut und Wasser neben dir, bei Deiner wilden Fahrweise!"

    Bobby grunzte. „ Jordan? Wasser, was? Hast du noch mehr kluge Witze auf Lager? Wenn ja, dann solltest du sie besser loswerden, solange ich vollends damit beschäftigt bin, diesen Kübel auf der Straße zu halten."

    Die nächste Ampel sprang auf rot und fluchend bremste er den Wagen ab. Der Wagen bockte ein bisschen, als das ABS steuernd eingriff, trotzdem ließ sich die schwere Limousine wie gefordert um die Kurve lenken. Das blinkende, mobile Blaulicht auf dem Dach erhellte für einen kurzen Augenblick den erschreckten Gesichtsausdruck einer Passantin.

    „Ich hätte noch ein paar davon, griente ich. „Aber zum Glück weiß ich, was gut für mich ist. Ich wechselte das Thema. „Was ist überhaupt mit dir los?, rätselte ich. „Du bist doch sonst nicht so einfach aus der Ruhe zu bringen. Und jetzt macht dir das bisschen Wasser bereits zu schaffen?

    Bobby nahm nur für einen kurzen Augenblick die Augen von der Straße und warf mir einen nichtssagenden Blick zu. „Ich weiß auch nicht, murmelte er. „Mir schlägt dieser Fall auf den Magen. Und dann die Sache mit Marie… Er verstummte, als würde er es nicht wagen, seinen letzten Gedanken weiterzudenken.

    Er brauchte nicht mehr zu sagen. Marie hatte ihn vor etwa drei Monaten verlassen, nur wenige Monate vor ihrer Hochzeit. Die ganze Geschichte klang, als wäre sie aus der Feder eines mittelmäßigen Autors von Schundromanen entsprungen, aber in Bobbys Fall war sie leider traurige Realität. Niemand wusste, warum sie nach sieben Jahren aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Sie hatte weder Bobby, noch ihren gemeinsamen Freunden jemals eine Begründung geliefert. Sie war aus unser aller Leben getreten, ohne einen Blick zurückzuwerfen oder sich mit uns aufzuhalten. Keinen von uns hat sie danach wieder kontaktiert.

    Bobby war zurückgeblieben, ein Häufchen Elend, nur noch ein Schatten seines früheren Selbst. Seine Seele war gebrochen, auch wenn er äußerlich nach wie vor von beeindruckender Statur war. Bobby war ein Bär von einem Mann, mit breiten, muskulösen Schultern, wildem ungebändigten Haaren und mit einem Gesichtsausdruck, der potenzielle Gewalttäter innerhalb weniger Sekunden zu lammfrommen Christen bekehren konnte.

    Als Marie ihre Koffer gepackt und in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Haus gelaufen war, hatte er jedoch irgendwie seinen Halt in der Welt verloren. An jenem Tag, als er mich völlig verzweifelt anrief und nach einem offenen Ohr suchte, habe ich Bobby das erste Mal in meinem Leben weinen gehört.

    Morgen war der Tag, an dem sie hatten heiraten wollen.

    Ich legte Bobby hilflos meine Hand auf die Schulter und hoffte, dass es irgendwie tröstend wirkte. Wir waren zwar gute Freunde, vielleicht sogar die Besten, hatten es bisher aber immer vermieden, über Gefühle zu sprechen. Ein Klaps auf die Schulter und ein gemeinsames, schweigsames Bier waren selbst in dieser Krise immer das Höchste der Gefühle gewesen. Manchmal wünschte ich, es wäre anders gewesen, aber selbst ich fühlte mich im Angesicht der tiefen Trauer, die Bobby empfand, einfach überrannt und überfordert. Ich hoffte, ihn durch meine Freundschaft wenigstens ein bisschen von seinem Unglück ablenken zu können. „Tut mir leid, erwiderte ich ungelenk. „Daran hatte ich nicht gedacht.

    „Ach, Pustekuchen! Er machte eine Wischbewegung mit der Hand, als wollte er nicht nur die trüben Gedanken, sondern auch gleichzeitig die grauen Regenwolken beiseite wischen. „Das ist Vergangenheit! Und wir haben im Moment andere Probleme.

    Sein Gesichtsausdruck strafte seine Worte Lügen. Trotzdem sprang ich auf seinen kläglichen Versuch, das Thema zu wechseln, an.

    „Was weißt du bereits?", fragte ich.

    „Nicht viel, überlegte er. „Steinmann hat über das Telefon nicht allzu viel verlauten lassen, aber offensichtlich handelt es sich bei unserem toten Drogendealer nicht um einen Einzelfall.

    ‚Unser toter Drogendealer’, Bruno Bauer, war ein Mordfall, mit dem wir uns bereits seit über zwei Monaten herumschlugen. Der Fall war ein einziges Rätsel. Bis auf die Spuren der Polizisten und Ermittler am Tatort waren keine weiteren Fingerabdrücke oder verwertbare DNA Spuren aufzuspüren gewesen. Der einzige positive Aspekt an dem Fall war, dass er uns über die letzten Monate genügend beschäftigt hatte, um Bobby ein bisschen von Marie abzulenken.

    „Wie kommt er darauf?, fragte ich irritiert. „Wir haben doch keinerlei Hinweise auf den Täter, oder nicht?

    „Das nicht, bestätigte Bobby ungerührt. „Doch heute haben sie eine weitere Leiche gefunden. Interessant daran: Der Mörder hat die gleiche Visitenkarte hinterlassen.

    „Oh", entgegnete ich und verstummte. Keiner von uns beiden wollte das Wort ‚Serienmörder’ offen aussprechen, aber wir beide wussten, in welche Richtung dieser Fall zu kippen drohte.

    „Wir sind da", unterbrach Bobby meine Gedanken.

    Vor uns lag eine ruhige Seitengasse, in der die eng aneinander stehenden Häuser gespenstisch durch die hektisch blinkenden Blaulichter der Einsatzfahrzeuge beleuchtet wurden. Einige Schaulustige hatten sich bereits an der Polizeiabsperrung eingefunden und versuchten ein paar neugierige Blicke auf die vielen Polizisten zu erhaschen. Aber die Kontrollpunkte waren klug gewählt und ließen keinerlei Schlüsse darauf zu, was in diesem ruhigen Stadtteil passiert sein mochte. Steinmann hatte das Gebiet weitläufig absperren und ein enormes Polizeiaufgebot auffahren lassen. Mir wurde etwas flau im Magen. Steinmann war ein sehr besonnener Mann. Er würde niemals mit einer so großen Aktion die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf einen Tatort lenken, es sei denn, er war an einer wirklich großen Sache dran.

    Zu diesem Zeitpunkt sollte ich noch nicht wissen, wie Recht ich mit dieser Einschätzung haben sollte. Genauso wenig war mir bewusst, dass dieser Moment der erste Tag vom Ende meines behüteten und glücklichen Lebens sein sollte. Doch ich hatte bereits den ersten Schritt auf einem Weg getan, an dessen Ende meine Frau sterben sollte.

    77 Tage davor

    In meinem Leben hatte ich bereits viele Tatorte und damit einhergehend weitaus mehr Leichen gesehen, als einem einzelnen Menschen zugemutet werden sollte. Doch die Jahre im Polizeidienst hatten es mit sich gebracht, dass jede weitere Leiche mich etwas weniger aufwühlte, etwas weniger verfolgte, bis der Tod seinen Schrecken verloren hatte und auf erschreckende Art und Weise Normalität geworden war. Trotzdem wurde mir leicht übel, als ich den verwesenden Körper vor mir auf dem schmutzigen Teppich liegen sah.

    Bruno Bauer war selbst zu Lebzeiten kein besonders hübscher Anblick gewesen, aber in seinem jetzigen Zustand trieb mir der strenge Geruch die Tränen in die Augen. Er starrte aus tiefen, eingefallenen Höhlen an die Decke, den Mund leicht geöffnet, als würde er lediglich schlafen. Seine weiße, wachsartige Haut fing bereits an, sich zu zersetzen. Einige Fliegenlarven krochen träge über die hügelige Kraterlandschaft seines verwesenden Körpers, dick gefressen, im fahlen Licht der Fenster fettig glänzend.

    Neben ihm kniete bereits ein Mann, eingehüllt in einen der weißen Schutzanzüge, die zu Mord und Verbrechen gehörten wie das dumpfe Gefühl, die Grausamkeiten der Menschen kaum noch ertragen zu können. Ich erkannte die eingehüllte Gestalt erst auf den zweiten Blick: Gregor Großkopf. Er war der leitende Gerichtsmediziner im Gerichtsmedizinischen Institut in Düsseldorf, das in den meisten Mordfällen der vergangenen Jahre durch die Staatsanwaltschaft mit der Ermittlung der Todesart, des Todeszeitpunktes und der Todesursache betraut worden war. Insofern handelte es sich bei Großkopf um einen bekannten, aber nicht unbedingt gerne gesehenen Gast im trüben Grau meiner Alltagsarbeit. In seiner Nähe fühlte ich mich unwohl. Das war zum einen dem Umstand geschuldet, dass er eine merkwürdig unangemessene Unbekümmertheit zur Schau trug, obwohl sein Job der Tod war, zum anderen, weil wir uns bereits bei unserem ersten Kennenlernen auf dem falschen Fuß erwischt hatten. Die alleinige Schuld an diesem Fehlstart unserer beruflichen Beziehung war Großkopf anzulasten, ohne Zweifel. Ich hatte als noch junger Polizist gewagt, ihn als Pathologen zu bezeichnen, was in seinen Augen einer ungeheuerlichen Beleidigung gleichgekommen war. Pathologen, wie er mir mit spitzer Stimme erklärt hatte, führten Obduktionen bei natürlichen Todesursachen durch, während er sich im offiziellen Auftrag der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte der Aufklärung von Straftaten widmete.

    Diese Lektion hatte ich unter „Aha, wieder etwas gelernt verbucht und Großkopf gleichzeitig gedanklich in die Schublade „Idiot verschoben. Seitdem fühlte ich mich besser, solange ein paar Meter Luftraum zwischen mir und dem Nicht-Pathologen lagen.

    Ich hielt mir ein Taschentuch vor den Mund, um einen kurzen, tiefen Atemzug nehmen zu können, und drehte mich von der Leiche und von Großkopf weg. Ich stand inmitten eines Wohnzimmers, bei dem der Begriff ‚wohnen’ selbst mit viel Großzügigkeit noch übertrieben war. Der ganze Raum wurde unter Bergen von Bierdosen, Bierflaschen und alten Pizzakartons geradezu erstickt. Lediglich auf dem Sofa deutete eine müllfreie Stelle auf den Platz hin, an dem Bruno wahrscheinlich abends vor dem Fernseher seinen täglichen Rausch ausgeschlafen hatte. Zumindest, bis er zum Opfer seines Mörders geworden war.

    Es war eine Ironie des Schicksals, dass Bruno inmitten seines eigenen Mülls umgebracht worden war. Im Grunde war Bruno genau das, was umgangssprachlich als ‚Abschaum der Gesellschaft’ bezeichnet wurde. Seine Strafkartei glich einem Sammelsurium unterschiedlichster Delikte quer durch das Strafgesetzbuch: Hehlerei, Betrug, Körperverletzung, Drogenhandel, um nur ein paar zu nennen.

    Erst vor knapp vier Wochen war er wegen Drogenbesitzes und Drogenhandels verhaftet, aber kurz darauf wegen eines Formfehlers und mit Hilfe eines windigen Anwalts wieder auf freien Fuß gesetzt worden, trotz überwältigender Beweislast. Nach wie vor war es mir ein Rätsel, wie ein schmieriger Typ wie Bruno Bauer sich einen derart teuren Anwalt hatte leisten können. Doch wie sich die neue Faktenlage darstellte, hatte auch das ihm nichts genutzt. Offensichtlich hatte er sich nicht lange an seiner neu gewonnenen Freiheit erfreuen können.

    „Wie lange liegt er hier schon?, fragte ich näselnd, das Taschentuch immer noch dicht über meinen Mund gepresst. Großkopf, der immer noch prüfend über dem Leichnam kniete, schaute auf und zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Ein paar Wochen. Genauer eingrenzen kann ich den Todeszeitpunkt erst nach der Obduktion.

    Ich seufzte auf und wendete mich dem jungen Polizisten zu, der mit bleichem Gesicht eng an die Wand gedrückt stand und die Szenerie mit angeekeltem Blick musterte. Ihm war die zweifelhafte Ehre zugefallen, den Toten zu entdecken. Nur ungern zog ich das Taschentuch vom Mund, um mit ihm sprechen zu können. Ich achtete darauf, durch den Mund zu atmen, um möglichst wenig des beißenden Gestanks an meine armen Geruchsrezeptoren zu lassen.

    „Wer hat den Toten gemeldet?", fragte ich, sorgsam darauf bedacht, selbst meine Haltung zu bewahren und dem jungen Mann nicht mein Mittagessen vor die Füße zu spucken. Das hätte mit Sicherheit kein gutes Licht auf meine Führungsqualitäten geworfen.

    „Die Nachbarin über dieser Wohnung. Ihr ist der stechende Geruch im Hausflur aufgefallen."

    „Wurde sie bereits befragt?"

    „Ja. Sie ist arbeitslos und ist deswegen nach eigenen Angaben die meiste Zeit in ihrer Wohnung. Trotzdem gibt sie an, nichts Verdächtiges gesehen oder gehört zu haben."

    „Nicht überraschend", murmelte ich, leise genug, damit der junge Polizist meine Bemerkung nicht hören konnte. Diese Aussage verwunderte mich nicht. In einer Wohngegend wie dieser waren Polizisten nicht gerne gesehen. Die Gegend war ein Tummelplatz gescheiterter Existenzen, die zwar regelmäßig ihr Geld vom Staat bezogen, ansonsten aber jegliche Form staatlicher Autorität ablehnten und verachteten. Es war nicht zu erwarten, dass wir auch nur einen brauchbaren Hinweis von den liebreizenden Nachbarn unseres Toten erhalten würden. Und trotzdem würde es mir und den Kollegen nicht erspart bleiben, an jeder Tür persönlich zu klingeln und jeden einzelnen der Anwohner zu befragen. Polizeiarbeit war überwiegend Fleiß- und Beinarbeit, gepaart mit der Hoffnung auf das seltene Glück, den richtigen Hinweis zur richtigen Zeit geliefert zu bekommen.

    Eine Hand auf meiner Schulter riss mich aus den Gedanken und ließ mich herumfahren. Großkopf! Etwas pikiert stellte ich fest, dass der Gerichtsmediziner immer noch seine blauen Handschuhe trug, mit denen er den Leichnam begutachtet hatte, und sich erst jetzt mit einer bedächtigen Bewegung des Latex entledigte. Sofort kehrte die Übelkeit zurück. Mein Jackett würde ich auf jeden Fall heute Abend noch in die Reinigung bringen müssen. Verbrennen war wahrscheinlich die bessere Idee. Gedanklich schüttelte ich mich und überlegte bereits, wie ich mich unauffällig meiner Anzugsjacke entledigen konnte, während ich versuchte, mit professioneller Miene den Ausführungen des Nicht-Pathologen zu folgen.

    „Das Opfer wurde übel zugerichtet, stellte er mit unbeteiligter Stimme fest. „Zahlreiche Hämatome am Kopf, am Oberkörper und an den Beinen deuten darauf hin, dass er vor seinem Tod brutal zusammengeschlagen wurde.

    „Vor seinem Tod? Was war die Todesursache?"

    „Ohne Obduktion ist das schwer zu sagen. Keine der äußeren Verletzungen scheint mir schwerwiegend genug zu sein, um den Tod herbeizuführen. Allerdings scheint sein Martyrium mehrere Stunden gedauert zu haben. Wen auch immer er verärgert hat, der Täter hat sich viel Zeit genommen, seine Wut an dem Opfer auszulassen."

    Er zupfte mit spitzen Fingern an seiner Brille. Vielleicht hoffte er, durch diese Geste professionell oder intelligent zu wirken, allerdings verlieh sie ihm eher eine unbeholfene Note. Der Gerichtsmediziner war nicht mehr sonderlich jung, doch jeder Altersweisheit zum Trotz passte er durch seine schlaksige Art und durch seinen dürren, ausgemergelten Körper optisch nicht ganz in das stereotype Bild eines gebildeten wie belesenen Mediziners.

    „Eine Sache ist mir allerdings noch aufgefallen, ergänzte er, mit einem kurzen Blick auf die Leiche. „Unter dem Toten habe ich das hier gefunden.

    Er hielt eine Einwegspritze in die Höhe. „Er hat mit Sicherheit nicht regelmäßig Drogen oder andere Substanzen konsumiert. Ich habe nur eine Einstichstelle in seinem linken Arm gefunden, die allerdings von allerhand Hämatomen umgeben ist. Anhand der Verteilung würde ich vermuten, dass jemand Fremdes diese Spritze mit viel Kraft in den Arm gestoßen hat."

    „Also wurde er vergiftet?"

    „Das werden die Blutuntersuchungen zeigen, aber ja, ich würde darauf wetten, dass der Tod durch die Spritze herbeigeführt wurde."

    „Interessant, murmelte ich gedankenverloren, während meine Haut an der Stelle, an der mich der Gerichtsmediziner berührt hatte, anfing zu jucken. Das Jucken steigerte sich mit der Zeit zu einem kaum zu ignorierenden Schmerz. „Was war in der Spritze?

    Großkopf zuckte erneut mit seinen Schultern. „Heroin, würde ich vermuten. Das wird allerdings das Ergebnis der toxikologischen Untersuchungen zeigen."

    „Heroin, murmelte ich. „Bauer war selbst Dealer, vielleicht ein verärgerter Kunde?, überlegte ich laut.

    „Der Kerl dürfte bei seinem Strafregister eine Feindesliste haben, die länger als das Düsseldorfer Telefonbuch ist, warf Bobby brummelnd hinter mir ein. „Da kommen viele in Frage. Ich drehte mich halb zu ihm um. Er war nach mir am Tatort eingetroffen und hatte bisher noch kein Wort mit mir gewechselt. Er kam gerade aus der kleinen Küche des Apartments gestiefelt und wirkte etwas bleich um die Nase, aber das war bei dem Geruch in der kleinen Wohnung kein Wunder. „Die Küche ist ein einziger Dreckstall. Die Spurensicherung wird eine Heidenarbeit haben, den ganzen Abfall auszuwerten."

    Die Spurensicherung war bereits abgezogen. Besonders glücklich hatten die Kollegen angesichts dieser Herkulesaufgabe nicht ausgesehen.

    „Nicht nur die Küche", antwortete ich, als mich erneut eine Hand an meinem Arm herumfahren ließ. Im letzten Moment sah ich, wie Großkopf seine Hand zurückzog. Entsetzt starrte ich auf den weichen Stoff meines Jacketts.

    Was war nur los mit dem Kerl!? Konnte er seine Finger nicht bei sich lassen!?

    „Mir ist noch etwa aufgefallen, bemerkte er mit seiner ruhigen Stimme, ohne auf meinen kaum verhohlenen Ekel zu reagieren. „Es ist mir erst ins Auge gestochen, als ich das Hemd des Toten beiseite geschoben habe. Ich denke, es ist besser, ich zeige es Ihnen persönlich.

    Er kniete sich neben Bruno Bauer, beziehungsweise vor das, was die Insektenmaden von ihm übriggelassen hatten, und zog vorsichtig, mit der Spitze seines Bleistifts im Knopfloch, das Hemd beiseite. Ein Teil einer eingefallenen, haarigen Männerbrust erschien mit einem ekelerregenden Schmatzen unter dem Stoff.

    „Was zum Teufel?, fluchte Bobby hinter mir. „Hält sich der Kerl für Zorro!?

    Er hatte nicht ganz Unrecht. Doch statt eines ‚Z’ als Markenzeichen, wie Zorro es in allen Filmen verwendet hatte, zeigte die freigelegte Brust ein tief eingeritztes ‚R’ aus schwarzem, geronnenem Blut.

    12 Stunden danach

    Mein Kopf dröhnte, als hätte ich Stunden eines außer Kontrolle geratenen Saufgelages hinter mir, aber das war auch nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt. Ich musste mich stark konzentrieren, um den Ausführungen des jungen Arztes folgen zu können, der vor wenigen Sekunden das Zimmer betreten hatte. Nach einem kurzen Studium meiner Krankenakte, die er seinem Gesichtsausdruck zufolge das erste Mal vor Augen hatte, teilte er mir in gehobenen Medizinerchinesisch mit, ich hätte nicht mit bleibenden Schäden zu rechnen. Zumindest, soweit es meine körperlichen Funktionen betraf. Mit routinierter Stimme und nur marginalem Interesse leierte er meine Wehwehchen herunter, während sein Zeigefinger der Liste auf dem Klemmbrett mit stoischer Ruhe folgte. Ich fragte mich, wozu er sich überhaupt die Mühe machte. Er hätte uns beiden diesen mühevollen Moment ersparen können, indem er mir die verdammte Liste einfach zum Lesen gereicht und sich auf dem Weg zum nächsten Patienten gemacht hätte.

    Ich hätte keine schwerwiegende äußere Verletzung, murmelte er leise in endloser Monotonie, sowie keine Organschäden oder Frakturen. In meinem Blut fanden sich allerdings größere Mengen eines verschreibungspflichtigen Hypnotikums, was meine Ohnmacht und meine Schwindelanfälle erklärten.

    Das waren allerdings keine Neuigkeiten für mich.

    Er nickte mir jovial zu, steckte sich das Klemmbrett unter den Arm und empfahl sich mit einem kurzen Gruß. Als die Tür sich mit einem leisen Klicken schloss, kehrten die Einsamkeit und die Stille ins Zimmer zurück.

    Wahrscheinlich hatte er mich bereits mit dem Schließen der Tür aus seinem Kurzzeitgedächtnis gestrichen. Von seinem medizinischen Standpunkt aus gesehen war ich vermutlich keine weitere Minute seiner kostbaren Zeit wert. Ich wies keine Verletzungen auf, die sofortige ärztliche Behandlung erforderten, so dass er sich aus seiner Sicht dringenderen Fällen widmen konnte.

    Was er übersah, war, dass es nicht meine körperlichen Beschwerden waren, die in unerträglicher Qual meine Brust zu zerreißen drohten. Es mag der Stress des Krankenhausalltags gewesen sein, zwischen Patienten, Operationen, Spritzen und Krankenakten, aber seine Gleichgültigkeit brannte wie Zunder in dem Feuer meiner Seelenqual. Er ließ mich alleine im Krankenzimmer zurück, dazu verdammt, einen einsamen, vergeblichen Kampf gegen die Dämonen der Erinnerung auszufechten.

    Ich versuchte es mit Verleugnung, versuchte mir einzureden, dass nichts von dem passiert war, an das ich mich erinnerte, dass Sandra lediglich zum Einkaufen gefahren war, spazieren, oder in ihrem Yoga-Kurs. Aber es gelang mir nicht. Mein Realitätssinn stellte sich jeglichen Bemühungen entgegen, die grausame Wahrheit zum Wohle meines Seelenheils ignorieren oder verdrängen zu können. So sehr ich auch versuchte, mir vorzustellen, Sandra jede Minute im Türrahmen stehen zu sehen; mein Verstand beharrte unnachgiebig darauf, dass sie tot war und nie wieder zu mir zurückkehren würde.

    Ich würde sie nie wiedersehen. Niemals. Nichts würde meine Fehler und mein Versagen ungeschehen machen. So sehr ich es mir auch wünschte, sie würde nicht plötzlich in der Tür zu meinem Krankenzimmer auftauchen. Nicht so wie vor fünf Jahren, als ich von einem flüchtigen Verdächtigen angeschossen worden war. Sie hatte für einen Moment zögernd in der Tür gestanden, mit einem schiefen Lächeln auf ihren weichen Zügen, das gleichzeitig Sorge wie Vorwurf ausgedrückt hatte. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dich von Ärger fernhalten!", hatte sie tadelnd gesagt, doch eine kleine Träne im Auge hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Sorge ihren Ärger überwogen hatte. Aber diesmal würde es nicht so ablaufen. Es war alles anders, denn diesmal war sie es, der etwas passiert war. Sie würde nicht kommen. Nie mehr.

    Mein Leben war schlagartig zu einer unerträglichen Seelenpein verkommen, als hätte jemand in meinen Brustkorb gegriffen und brutal Teile meines Gefühlslebens herausgerissen. Es gab kein Zurück mehr; in meinen Ohren konnte ich immer noch Sandras letzten Schrei widerhallen hören; ein Schrei, den ich für den Rest meines Lebens zu hören verdammt war und der mir jede Illusion nahm, sie irgendwann wieder in den Armen halten zu können. Ich fing an zu weinen, hilflos, ein wehrloses Opfer meiner persönlichen Hölle.

    Ich hörte erst auf, als mich ein verlegendes Hüsteln aufschreckte. Steinmann und Bobby standen in der Tür und musterten mich mit versteinerter Miene.

    „Tut mir leid, Mann, murmelte Bobby, als er sich vorsichtig ans Ende meines Bettes setzte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er verstummte schlagartig und fuhr sich fahrig durch die Haare, wie immer, wenn er nervös war.

    „Wie geht es Ihnen?", erkundigte sich Steinmann mit einer merkwürdig flachen Stimme, die ihre Kraft wahrscheinlich irgendwo in meinem Wohnzimmer verloren hatte.

    „Keine schwerwiegenden Verletzungen", antwortete ich. Ich vermied Worte wie ‚Gut’, oder ‚Den Umständen entsprechend’. Sie wären alle gelogen gewesen und hätte nicht annäherungsweise das ausgedrückt, was ich empfand.

    Steinmann räusperte sich. „Es tut mir leid. Er bedachte mit diesen Worten nicht nur meinen Verlust, sondern entschuldigte sich gleichzeitig für das, was jetzt unweigerlich folgen musste. Ich wusste, wie es ablief. Ich war selbst zu lange Polizist, um so ein Gespräch nicht bereits mehrere tausend Male geführt zu haben. Zuerst wurde der Zeuge nach seinem Befinden gefragt, verständnisvoll genickt und das persönliche Beileid ausgesprochen. Schema F, direkt aus dem Polizeihandbuch. Anschließend musste lediglich eine geschickte Überleitung gewählt werden, die nachsichtig aber mit Nachdruck die Wichtigkeit der Informationen betonte, die der Zeuge tief unter seinem Trauma verbarg. Sie würden so etwas sagen wie „So schwer es Ihnen fällt, bitte versuchen Sie sich an die letzte Nacht zu erinnern. Jedes Detail könnte von Bedeutung sein und ich würde traurig nicken und ihrem Wunsch nachkommen.

    Ich ersparte ihnen die Pein, dieses Drama mit ihrem Kollegen und Freund durchspielen zu müssen.

    „Ich kann mich kaum an etwas erinnern, kam ich ihnen zuvor. „Nur ihr Schrei ist mir in Erinnerung geblieben…, mir brach die Stimme weg, bevor ich fortfahren konnte.

    „Weißt du, ob er es war?", fragte Bobby. Mir entgingen nicht die leisen Zweifel, die in seiner Stimme mitschwangen.

    Ich schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich weiß gar nichts! Es könnte genauso gut einer von euch gewesen sein, ohne dass ich mich daran erinnern könnte… Ich atmete tief ein. „Es hat an der Tür geklingelt, fuhr ich mit mühsam kontrollierter Stimme fort. „Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist. Die Tür wurde unerwartet heftig aufgestoßen und ich ging zu Boden. Bevor ich reagieren konnte, beugte sich ein Mann über mich, spritzte mir etwas in den Arm… Ich rieb gedankenverloren meine Armbeuge. „Er trug eine Skimaske, oder eine ähnliche Kopfbedeckung. Und dann hörte ich nur noch Sandras Schreie. Ich wollte ihr helfen, aber ich konnte mich kaum bewegen. Ich verstummte. „Ich habe es versucht, aber es ging nicht", ergänzte ich leise. Meine eigene Stimme klang fremd.

    „Ketamin, sagte Steinmann. „Er hat Ihnen Ketamin gespritzt. Ein Narkosemittel, das auch als Partydroge verwendet wird und dementsprechend auf dem Markt leicht zu besorgen sein dürfte. Er hat ihnen genug verabreicht, um Sie auszuschalten, aber zu wenig, um Sie sofort das Bewusstsein verlieren zu lassen.

    „Ach, was!", giftete ich. Auf die gut gemeinten Erklärungen des alten Haudegens konnte ich verzichten. Seine sachlichen Worte hörten sich in meiner gereizten Gemütslage wie der reinste Hohn an. Ich konnte es nicht verhindern, dass die Tränen zurückkehrten.

    „Mein Gott. Ich habe zuhören müssen, wir Sandra starb! Dieser Mistkerl hat meine Frau vor meinen eigenen Augen umgebracht!"

    Ich schluckte meine Wut und Tränen herunter. „Moment!, murmelte ich und starrte Bobby an. Verlegen wich er meinem Blick aus. „Wieso kommt ihr auf die Idee, dass ‚Er’ es war? Hat er, ich meine, er hat doch nicht?, stotterte ich und ließ das Ende unausgesprochen.

    „Doch, bestätigte Steinmann und nickte. Er sah in diesem Moment zu Tode betrübt aus. „Ein ‚R’, wie bei den anderen Opfern.

    „Ich weiß nicht, brauste Bobby unerwartet auf. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn! Die anderen Opfer waren alle Kriminelle! Sandra passt überhaupt nicht in das Opferschema!

    „Vielleicht sind wir ihm zu dicht auf den Fersen, mutmaßte Steinmann. „Vielleicht will er uns eine Warnung zukommen lassen. Er trat näher ans Bett und ergriff meine Hand. „Was immer seine Gründe auch sind, ich verspreche Ihnen, Erik, hoch und heilig; wir werden diesen Bastard zur Strecke bringen!"

    21 Tage davor

    Steinmann erwartete uns bereits im Flur des heruntergekommenen Mehrfamilienhauses. Vor der Haustür hatte er zwei Polizisten platziert, für den unwahrscheinlichen Fall, dass einige findige Journalisten einen Weg durch die zahlreichen Polizeisperren fanden und sich in Dinge einmischten, die Steinmann so lange wie möglich von der Öffentlichkeit fernhalten wollte. Sie nickten unverbindlich, als wir forschen Schrittes an ihnen vorbei in den dunklen, kühlen Flur schritten. Sie kamen mir vage bekannt vor, wahrscheinlich von der letzten Weihnachtsfeier unseres Reviers, allerdings konnte ich keine konkrete Erinnerung mit ihnen verbinden.

    Noch bevor mein Blick auf Steinmann fiel, schlug mir der ranzige Geruch nach altem Fett und Schimmel entgegen. Die penetranten Schwaden aus dem nahe gelegenen Chinaimbiss vermischten sich mit dem uralten Mief der vergangenen fünfzig Jahre zu einer luftraubenden Herausforderung für unsere Nasen. Das Treppenhaus zeigte symptomatisch für die ganze Wohngegend die typischen Anzeichen stetigen Zerfalls, der sich seit Jahrzehnten ungestört ausbreitete und über die Jahre eine ehemals aufstrebende Wohnsiedlung zu einem Düsseldorfer Problemviertel hatte verkommen lassen.

    „Wir stecken tief in der Scheiße, brummelte Steinmann zur Begrüßung. Er hielt seine Hände tief in seinen Anzugtaschen vergraben und machte keine Anstalten, sie für einen Händedruck herauszuholen. „Eine Mordserie mitten in Düsseldorf. Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn wir nicht bald mit ein paar brauchbaren Hinweisen aufwarten können, wird uns die Staatsanwaltschaft die Hölle heißmachen."

    „Der gleiche Täter wie bei Bruno Bauer?", fragte ich.

    „Sieht so aus. Entweder ein Einzeltäter oder eine Gruppe. Beides wäre übel. Düsseldorf als Schauplatz eines Bandenkrieges wäre der Super-GAU."

    Er blickte die Treppe hinauf. Von oben waren undeutlich die Stimmen mehrerer Männer zu hören. Wahrscheinlich die Spurensicherung, die Millimeter für Millimeter den Tatort absuchte. Geduld war die wichtigste Eigenschaft, die zu ihrem Beruf gehörte. Ich beneidete sie nicht darum.

    Durch die mittlerweile zahlreichen, modernen Krimiserien war ihre Arbeit nicht einfacher geworden. Gerade amerikanische Fernsehserien vermittelten gerne den trügerischen Eindruck, jeder Mordfall wäre im Grunde nichts anderes als die Suche nach ein paar Faserspuren oder Blutstropfen, die mit Hilfe absonderlicher Wunderapparaturen sofort den gesuchten Verdächtigen mit Namen, Anschrift und Vorstrafenregister ausspuckten. Leider war die Polizeiarbeit im normalen Leben nicht so einfach. Selbst wenn sich Spuren des Täters finden ließen, führten sie nur in den seltensten Fällen zu einer Verhaftung. Dafür waren zu

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