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Beyond Shadows - Durch die Schatten: Band 2 des Urban Fantasy Abenteuers
Beyond Shadows - Durch die Schatten: Band 2 des Urban Fantasy Abenteuers
Beyond Shadows - Durch die Schatten: Band 2 des Urban Fantasy Abenteuers
eBook507 Seiten6 Stunden

Beyond Shadows - Durch die Schatten: Band 2 des Urban Fantasy Abenteuers

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Über dieses E-Book

"Sieh mich doch an … sieh, wer ich wirklich bin. Ich bin ein Monster, so wie sie es immer gesagt haben. Wie du es gesagt hast. Eine jämmerliche, todbringende Bestie."

Was gibt es Endgültigeres als den Tod?
Mella ist gefangen in einer Spirale aus Schuld und Hass, die sie mit sich in die Tiefe zu ziehen droht. Einzig die Gier nach Vergeltung gibt ihr die Kraft, weiterzumachen.
Doch die Rachsucht frisst sich in Mellas Seele wie Gift, bestimmt ihr Sein - und die Kontrolle zu verlieren, war noch nie eine gute Idee, wenn man am Abgrund tanzt ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Mai 2023
ISBN9783910615748
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    Buchvorschau

    Beyond Shadows - Durch die Schatten - Martina Wilms

    shadows.jpg

    Copyright 2022 by

    Dunkelstern Verlag GbR

    Lindenhof 1

    76698 Ubstadt-Weiher

    http://www.dunkelstern-verlag.de

    E-Mail: info@dunkelstern-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Für die Freiheit und die Menschlichkeit.

    Inhalt

    Triggerwarnung

    1.

    2.

    3.

    4.

    5.

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    26.

    27.

    28.

    29.

    Triggerwarnung

    Dark Romantasy ist ein Genre, das sowohl Romance- als auch Erotikelemente enthält, sich daneben aber auch grafisch mit düsteren, schweren Themen wie Gewalt, Folter, Mord, Trauer und tiefsten seelischen Abgründen auseinandersetzt.

    Die in diesem Buch dargestellten Inhalte könnten auf sensible Leserinnen und Leser belastend wirken.

    1.

    Seine Lippen berühren meine Haut. Sanft, kaum der Berührung eines Schmetterlings gleich, und doch so intensiv, dass ich mich ihnen entgegenbiege. Mehr, oh, mehr davon.

    »Mella.« Seine Stimme lässt mich vibrieren, jedes Mal, wenn ich sie höre, samtig und weich wie ein guter Cognac. Ich bade in seiner Wärme wie im Sonnenlicht. »Ich liebe dich.«

    O Gott, wie oft habe ich mir gewünscht, diese Worte aus seinem Mund zu hören! Ich reibe meine Nase an seinem Hals, atme seinen Duft ein, der mich an das Meer erinnert, an den Geruch von Waldboden nach einem Regenschauer. Seine Bartstoppeln kratzen über meine Haut und 
lassen dieses wunderbare Prickeln zurück, direkt unter der Oberfläche.

    »Ich dich auch, Lucas. So sehr.«

    Er zerbröselt in meinen Armen, fällt in sich zusammen wie eine Sandburg in der Flut. Seine Augen sehen mich an, vorwurfsvoll, sind nichts mehr als blinde Spiegel, grau und leer. Gefühllos.

    Weil er nichts mehr fühlt.

    Weil da nichts mehr ist, was fühlen kann.

    Norden, wispert der Wind und umschwärmt mich mit einer Sterbenskälte, wirbelt den Sand auf, der eben noch Lucas war. Norden, du nichtsnutziges Ding.

    Die Stimme verhallt in meinen Ohren und ich starre in die schwarze Nacht. Kalt ist mir, so kalt. Ich ziehe die Decke hoch bis an mein Kinn und rolle mich zu einem Ball zusammen, bis das Zittern in meinen Muskeln langsam nachlässt.

    Bald wird die Sonne aufgehen und ein neuer Tag beginnt.

    Ein weiterer Tag ohne ihn, einer von unendlich vielen. Er soll aus meinen Träumen verschwinden, so wie er aus meinem Leben 
verschwunden ist. Ich will nicht mehr an ihn denken. Nicht an sein Lächeln. Nicht an seine blitzenden Augen, eisblau und doch voller Wärme. Nicht an seine widerspenstigen Haare, so weich unter meinen Fingern, nicht an die Momente, in denen wir uns 
ganz nah waren. Nein, ich will nicht mehr von ihm träumen.

    Ich will ihn wiederhaben.

    Die Amseln singen ihr Morgenlied in der Hoffnung auf einen neuen, wunderschönen Spätsommertag, und ich könnte sie dafür töten. Ich will keine Normalität. Ich will keine Idylle. Ich will nur ihn.

    Zu schwach für einen weiteren Tag schließe ich die Augen, und sofort umfängt er mich von hinten. Seine Wärme überspült meinen frierenden Leib. Er presst sich an meinen Rücken und sein Herz schlägt in seiner Brust, kräftig, regelmäßig. Lebendig.

    Ich starre in die Dunkelheit und alles wird kalt. Seine Stimme ist nur ein Echo in meinem Kopf, eine vage Erinnerung an den Mann, der nur so kurz ein Teil von mir war. Sie wird das Erste sein, was ich von ihm vergesse.

    Ein dünner Streifen aus tiefem Rot durchbricht die Finsternis und hinterlässt eine schmale Spur am Horizont. Rot wie sein Blut an meinen Händen. Kostbar und glitzernd im Mondlicht. Ich werde nie vergessen, wie es langsam auf meiner Haut abkühlte, wie es im Abfluss verschwand in diesen wunderschönen roten Wirbeln, als Tom es mir vom Leibe wusch.

    Er hat mir nie gesagt, dass er mich liebt. Nicht ein einziges Mal. Jetzt, wo er für immer fort ist, höre ich diese Worte jede Nacht aus seinem Mund, in meinen Träumen, die so wunderschön sind, dass sie mich quälen, wenn ich wieder erwache. Und sie 
bedeuten gar nichts.

    Ich zittere. Meine Stimme auch. »Ich wünschte, du wärst hier«, flüstere ich in den Schmerz und schließe die Augen.

    Sein Lächeln ist so entspannt, so liebevoll, als hätten wir gerade miteinander geschlafen. »Das bin ich doch. Ich lasse dich nicht im Stich. Versprochen.«

    »Und warum hast du es dann getan?«, schreie ich den neuen Tag an und werfe ein Kissen nach ihm. Es knallt gegen die Fensterscheibe und sackt auf der breiten Bank davor zu einem weißen, unförmigen Etwas zusammen, doch es kann diesen wunderschönen Sonnenaufgang nicht aussperren.

    Ich will das nicht. Es darf keine wunderschönen Dinge geben, nicht nach dem, was geschehen ist. Langsam laufen die Farben ineinander, als ob ein Künstler zu viel Wasser auf ein Aquarell tröpfelt, und sie vermischen sich, bis nichts als ein tiefes Rot zurückbleibt.

    »Scheiße.« Ich presse mir meine Handballen so fest auf die Augen, dass hinter meinen Lidern weiße Sternchen zerplatzen. Das Schicksal ist ein sadistischer Mistkerl, ein fetter, selbstgefälliger Sack aus reiner Schadenfreude, der sich vom Glück der Menschen ernährt und nicht zufrieden ist, bis er alles zerstört hat.

    Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, dass es möglich ist zu sterben und doch auf dieser Welt zu bleiben, ich hätte ihn ausgelacht oder wäre mit wild fuchtelnden Armen schreiend vor ihm davongelaufen. Die Tatsache, dass ich hier aufgewacht bin, in diesem Herrenhaus mit seinem unverschämt atemberaubenden Meerblick, nachdem ich drei Monate zuvor umgebracht worden war, hätte mich wohl mehr verstören sollen, als es am Ende wirklich der Fall war.

    Nun bin ich für immer 29 Jahre alt und habe es nicht mal nach meinem Tod weit gebracht. Ich kann Lichtkugeln werfen, okay. Lichtwandeln klingt cool, zugegeben – es ist aber ziemlich nutzlos, wenn man nur in der Dunkelheit herumsteht und es nicht schafft, die Liebe seines Lebens zu retten.

    Das Lächeln auf meinem Gesicht ist ein ungewohnter Gast in letzter Zeit. Die Liebe meines Lebens … ausgerechnet er musste es sein, der Einzige, in den ich mich nicht verlieben durfte. Mein Wächter, der Mann, der mir sein Blut gab, um mich zu verwandeln, zu retten, und damit eine brisante Verbindung zu mir schuf, die eine Todesgefahr für seine gesamte Blutlinie bedeutete, die nun auch meine ist.

    Meine war.

    Jetzt gibt es nur noch mich.

    Denn Lucas ist tot und ich weiß einfach nicht, wie ich damit fertig werden soll.

    Keine Ahnung, wie lange ich heute Morgen versucht habe, mich in den Kissen zu ersticken, aber es hat offensichtlich wieder nicht geklappt.

    Das energische Klopfen an meiner Zimmertür lässt mich nicht einmal zusammenzucken. »Geh weg«, murmele ich durch die Daunen und bewege mich keinen Zentimeter.

    Es klopft lauter. »Mach die Tür auf, oder ich komme rein.« Toms Stimme hinter der dicken Holztür duldet keinen Widerspruch.

    »Abgeschlossen«, informiere ich ihn dumpf.

    »Das interessiert mich nicht sonderlich, wie du weißt.« Seine Stimme ist laut und klar. Er steht direkt neben meinem Bett.

    Ich ziehe die Kissen von meinem Gesicht. »Ich sollte das Licht im Badezimmer brennen lassen, damit du dich nicht einfach hier reinschleichen kannst. Hast du noch nie etwas von Privatsphäre gehört?«

    »Fühlst du dich so scheiße, wie du aussiehst?« Mit einem Ruck zieht er mir die Bettdecke weg.

    Ich blinzle nicht einmal. »Wie außergewöhnlich liebenswürdig von dir.« Mit beiden Händen greife ich nach dem Onyx, der an einer Silberkette um meinen Hals baumelt, und halte mich daran fest. Die Kette meiner Mutter, schwarz wie sein Element. Alles, was ich noch habe von ihnen beiden.

    »Ich finde, das ist eine berechtigte Frage. Du ersäufst hier in deinem Selbstmitleid und es kotzt mich an, wie schlecht es dir geht.« Vier Schritte braucht er bis zu meinem Fenster und er reißt es weit auf, lässt kühle Morgenluft herein. »Lass mich dir doch helfen, Mella.«

    Ich kann nur müde lächeln. »Und wie? Willst du ihn mir vielleicht zurückgeben?«

    Tom schluckt hart und schweigt.

    Leise schnaube ich und schmiege meine Wange tiefer in die Kissen, mustere ihn, wie er da am Fenster steht. »Ja, das dachte ich mir.«

    Sanft schüttelt er den Kopf. »Du musst mit dem Mist aufhören, Mella.«

    »Was für ein Mist?«

    »Ich kann ihn dir nicht zurückgeben.«

    »Denkst du, das wüsste ich nicht?«, blaffe ich ihn an und schlucke die Tränen hinunter, die munter meine Kehle hinaufklettern. Mist, verdammt! Nicht schon wieder!

    Doch Tom achtet gar nicht auf mich. Sein Blick wandert durch mein Zimmer, mustert die Haufen mit getragenen Klamotten, die überall verstreut herumliegen, und der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht schürt meine Wut wie ein plötzlicher Windstoß die Glut eines Lagerfeuers. »Ich nehme nicht an, dass du hier Modenschau gespielt hast, oder?«

    Ich antworte ihm mit einem aussagekräftigen Schulterzucken und bleibe liegen, wo ich liege. Vor dem Fenster trällern die Amseln voller Inbrunst ihre Morgenlieder. Wenn die nicht gleich 
aufhören, pflücke ich sie mit ein paar Lichtbällen von ihren Ästen.

    »Mella, los. Du liegst seit Wochen im Bett.«

    Ich rühre mich nicht. »Und warum soll ich ausgerechnet heute aufstehen?«

    Tom seufzt leise und hebt eine Jeans auf. »Um etwas zu tun. Irgendetwas. Um weiterzumachen.« Er dreht und wendet sie prüfend und nimmt eine zerknitterte Karobluse hoch, untersucht sie ebenfalls. Und dann – riecht er etwa daran? Missbilligend verzieht er das Gesicht und wirft mir beides zu. »Los, anziehen.«

    Ich mache nicht einmal einen Versuch, die Sachen aufzufangen. Sie landen auf meinen nackten Beinen und wärmen mich wenigstens ein bisschen. Ob ich diese verfluchten Viecher dazu bringen kann, nie wieder vor meinem Fenster herumzugrölen? Ich hasse ihren Gesang, so melancholisch und sanft und scheiße.

    Tom steht vor meinem Kleiderschrank und wühlt in einer Schublade. »Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich mal deine Unterwäsche in der Hand halte.« Er grinst zu mir hin.

    Stumm starre ich ihn an und gebe mir alle Mühe, so tot auszusehen, wie ich mich fühle. Tief atmet er durch und lässt die Schultern sinken. »Willst du, dass ich dich anziehe?«

    Ich angele nach der Jeans und der Bluse und quäle mich aus dem Bett. Auf dem Weg ins Badezimmer werfe ich sie zurück auf irgendeinen Haufen. Ich räume schon noch auf. Bestimmt. Wenn ich die Zeit dafür finde.

    Tom hält mir kommentarlos Slip und BH hin und ich schnappe sie im Gehen aus seiner Hand. Er steht mir im Weg, blockiert den Kleiderschrank mit seinem großen, schmalen Körper. Ich schubse ihn zur Seite. Eine einzige, halbwegs saubere Jeans und ein dunkelgraues Shirt, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Eine ziemlich magere Ausbeute. Wie auch immer.

    Ich rupfe die Sachen aus dem Schrank. Ein Kleiderbügel fällt heraus und landet scheppernd irgendwo auf dem Boden hinter mir.

    Tom bückt sich danach. »Ich habe keine Lust mehr, dich jeden verdammten Tag so zu sehen, Mella.« Er spricht leise, als wäre ich ein Pferd, das mit aufgeblähten Nüstern vor ihm herumtänzelt.

    Wortlos quetsche ich mich an ihm vorbei, verschwinde im Bad und knalle die Tür hinter mir ins Schloss, so laut ich nur kann. Soll er doch keine Lust dazu haben! Ich habe auch keine! Und wer fragt mich?

    Er kann mich doch einfach liegen lassen, hier in meinem großen Bett, bis ich verschimmele. Was hat es ihn zu interessieren, wie es mir geht und was ich tue? Ich schmeiße Jeans und Shirt auf den Boden, dass links und rechts die Staubflocken nur so davonstieben, und suche meinen Blick im Spiegel.

    Ich sehe immer noch aus wie ich. Wie sollte es auch anders sein? Ich werde nicht mehr älter, nicht eine verfickte Sekunde. Aber da fehlt etwas in meinen Augen. Leben? Lächeln? Alles an mir ist farblos.

    Jedes Make-up wäre verschwendet, und so zerre ich mir meine Klamotten über den Leib und schleppe mich zurück ins Schlafzimmer.

    Tom steht vor dem Fenster und sieht hinaus, genau wie Lucas damals, als ich ihn das erste Mal sah. Er hört mich kommen und dreht sich um. »Und? Geht’s dir besser?«

    Wieder attackieren mich die Tränen, doch ich fange sie in meiner Kehle ab und schlucke mehrfach, auch wenn es wehtut. Sie werden nicht gewinnen. Nicht hier. Nicht vor Tom, nicht schon wieder. »Was denkst du denn?«, würge ich hervor.

    Er schüttelt den Kopf, die Augenbrauen zusammengezogen. Mitleid. Wie ich es hasse. »Was soll ich denn denken, Mella?« Seine Stimme klingt ganz sanft, so als redete er mit einem Kind. »Meine Güte, er ist länger tot, als er überhaupt in deinem Leben war.« –

    Meine Lungenflügel beben unter dem verzweifelten Versuch, nicht loszuheulen. Das Blut rauscht in meinen Ohren wie ein Orkan. Kein Wort bringe ich heraus, und so starre ich ihn einfach nur an.

    Kurz presst er die Lippen zusammen, kommt langsam auf mich zu. »Es war nur eine Affäre, Mella, nichts weiter.«

    Der Kloß in meiner Kehle schmerzt fast noch mehr als seine Worte. Seit wann tut es weh, nicht zu weinen? Ich weigere mich, ihn anzusehen und starre auf die Knopfleiste seines Hemdes, als säße dort ein faszinierendes Insekt. »Hör auf damit«, wimmere ich. »Sei still.«

    »Warum?« Er schüttelt den Kopf, legt seine Hände auf meine Schultern. »Ich versuche nur dir zu helfen.«

    »Mir zu helfen? Indem du so etwas sagst?« Mein Stoß gegen seine Brust trifft ihn völlig unvorbereitet. »Wie kannst du es wagen, mir zu sagen, was ich fühlen soll? Spürst du es, jetzt in diesem Moment? Diese Leere, die ein Teil von dir wird, sich einbrennt in deine Eingeweide, wie ein Krebsgeschwür Besitz von dir ergreift und dein Denken und Handeln bestimmt, egal ob du wach bist oder schläfst?« Tränen laufen über mein Gesicht.

    »Bullshit!«, schreit er mich an, doch ich sehe ihn genau, diesen Schmerz in seinen Augen. »Ihr hattet euren Spaß miteinander, das ist alles!«

    »Spaß?« Wütend wische ich mir mit der Hand über die Wangen. Wieso zittert sie so? Ruckartig reiße ich sie herunter und versenke sie tief in meinen Hosentaschen. »Du denkst also, wir riskieren alles, nur weil wir ein bisschen Spaß haben wollten?«

    »Verflucht, ihr kanntet euch kaum!«

    Meine Kehle schnürt sich immer mehr zu. »Es ging nicht nur um Sex.«

    »Ach nein? Worum denn dann?« Toms Augen verengen sich zu Schlitzen. »Ich warne dich, wenn du jetzt das L-Wort benutzt, kotze ich dir direkt vor die Füße!«

    Ich fühle mich dumpf, geschlagen. Sämtlicher Atem entweicht meiner Lunge, und ich höre ihm zu, wie er zischend meinen Körper verlässt, langsam, quälend. »Ja«, sage ich mit einer Stimme, die nicht mehr wie meine klingt. »Dann werde ich es nicht benutzen.« Ich ziehe die Schultern hoch. »Ich will ja nicht, dass du noch mehr Widerlichkeiten von dir gibst.«

    »Es waren doch nur ein paar Wochen, Mella.« Tom seufzt und schüttelt sachte den Kopf. »Ich kannte Lucas viele Jahrzehnte. Er würde dir das Gleiche sagen, wenn er hier wäre.«

    Sein Name fährt mir wie ein Dolch ins Herz. Plötzlich schwankt der Sandsteinboden unter meinen Füßen und ich greife nach der Türzarge, als könnte sie mich vor dem Kentern retten. Weich schmiegt sich das glatte Holz an meine Handfläche, als wollte es mich trösten.

    »Glaub mir einfach.« Tom sieht alles andere als triumphierend aus. Nur traurig. »Ich habe ihn schon unzählige Male so gesehen. Da war nichts. Nichts, das es wert ist, sich so darin zu verlieren, wie du es gerade tust.«

    Meine Knie flattern. Hör auf, Tom, bitte. Es funktioniert nicht. Lass mich einfach in Ruhe.

    »Ich weiß, wie er dich angesehen hat. Genau wie all die Frauen vor dir, deren Namen er innerhalb von Minuten wieder vergessen hatte.«

    »Das ist nicht wahr«, protestiert diese fremde Stimme aus meinem Mund, fiepend wie ein geschlagener Hund. Seine Worte zerfressen mich wie Säure, höhlen mich aus.

    Mit zusammengezogenen Augenbrauen sieht er mich an. »Doch, das ist es, Mella, und das weißt du. Du musst es dir endlich selbst eingestehen.« Fast wirkt es so, als kämpfe er selbst mit den Tränen, dieser heuchlerische Mistkerl! Behutsam legt er die Hand auf meinen Arm. »Hak es ab.«

    »Lass mich!« Ich stoße ihn so hart von mir, dass er rückwärts gegen einen der Sessel taumelt.

    Er nimmt seinen Blick nicht von mir, und ich winde mich darunter wie ein Aal an Land. »Du musst ihn endlich loslassen!«

    Ich will das nicht hören! Ich will nicht! Dankbar atme ich durch, als das Sirren meinen Verstand einnimmt, und dann verschwinde ich im Licht, während Tom vor mir herumfuchtelt und ich kein Wort mehr von dem verstehe, was er sagt.

    Weg. Nur weg von hier!

    Es ist wunderbar still auf der Lichtung, auf unserer Lichtung. Keine Wolke steht am Himmel, er ist klar und so blau, wie seine Augen es waren. Staubpartikel flirren in der Luft, in ihrem Tanz nur gestört durch Insekten, die träge durch den sonnigen Tag summen. Immer noch ist es warm, auch wenn der Sommer eigentlich längst zu Ende sein müsste.

    Sonnenstrahlen fallen durch die Baumwipfel, golden gefärbt von den gelblichen Blättern, und schenken dem Ort etwas Sakrales. Es ist fast so, als wäre ich in einer Kirche … wie überaus passend.

    Das Moos schmiegt sich an meine Wange, ein wunderbar weiches, kühles Bett. Hier hat er gelegen, blutüberströmt, als ich ihm ein letztes Mal in die Augen sah. Längst haben der Wind und der Regen die letzten Körnchen seines Daseins weggespült, doch ich werde nie vergessen, wo er aus meinem Leben verschwand.

    Ein Blütenblatt tanzt vom Himmel, weiß und zart wie die Unschuld. Sanft legt es sich auf das spiegelglatte Wasser. Träge hebe ich meinen Arm, lasse eine Lichtkugel erscheinen und zermahle es zu Staub.

    Besser.

    So ist es besser.

    Ich rappele mich hoch, wische Grashalme und Moosreste von meiner Kleidung und konzentriere mich auf das Kribbeln unter meiner Haut. Eine so mächtige Kraft. Und so sinnlos, wenn man sie nicht im Griff hat.

    Mehrere in einer Reihe. Ja, ich kann es! Gut, sogar sehr gut. Tief atme ich ein, ziehe die Energie in meine Fingerspitzen und versuche es erneut. Eins, zwei, drei, vier, fünf! Kurz nacheinander schlagen die Lichtkugeln in einen toten Baum ein. Mit jedem Treffer splittern Holz und Rinde ab, fliegen umher wie kleine Geschosse. Dunkle Rauchschwaden winden sich in die laue Spätsommerluft und ich muss grinsen. Es sieht aus, als hätte ich eine Obstschale in den Stamm gebrannt.

    Ein Rascheln links von mir. Da! Ein Eichhörnchen! Kopfüber klettert es einen Baumstamm herab und springt auf den Waldboden, schnuppert suchend in die Luft. Wittert es den Brandgeruch? Seine schwarzen Knopfaugen glitzern aufgeregt, die Schnurrhaare zittern, und bevor ich weiß, was ich tue, hole ich aus: einmal, zweimal, dreimal.

    Das Eichhörnchen springt hoch wie ein kleines Känguru und macht sich davon, so schnell es kann. Ich verfolge es mit meinen Blitzen, doch es verschwindet im Unterholz, bevor ich es erwische.

    »Du musst die Bewegungen deines Gegners vorhersehen, sonst wirst du nie schnell genug sein.«

    Ich wirbele herum.

    Tom. Lässig steht er an die Felsspalte gelehnt. Sein Blick huscht hin und her zwischen mir und der Stelle, an der das Eichhörnchen im Wald verschwunden ist, und die Beunruhigung in seinen Augen ist nicht zu übersehen. Na wunderbar.

    »Dein kleiner Trick hat nicht funktioniert, Tom.« Ich wende mich von ihm ab und öffne meine Handflächen zum Himmel hin. In jeder entsteht ein Lichtball, klein wie eine Erbse. O ja, ich bin eine Waffe, Lucas hat es immer gesagt. Und ich werde alle das Fürchten lehren, die es auch nur wagen sollten, sich mir in den Weg zu stellen.

    »Ich denke doch. Immerhin lungerst du nicht mehr in deinem Bett herum.«

    »Du solltest an deinen Schauspielkünsten arbeiten.« Vielsagend hebe ich die Augenbrauen. »Ich habe dir kein Wort geglaubt.«

    Sein Blick ruht auf mir. »Dafür warst du aber ziemlich aufgewühlt.«

    »Ja«, sage ich leise. »Weil ich allein die Vorstellung, dass auch nur etwas von dem wahr ist, was du sagst, nicht ertragen könnte.« Sorgfältig ziele ich auf den Waldsee, verfolge die Strömung eine Weile und lasse schließlich beide Kugeln gehen. Zischend treffen sie auf zwei gelbe Blätter, die sofort in Rauch aufgehen. O ja, verdammt! Es funktioniert! Ich kann zwei Ziele gleichzeitig treffen! Die Blätter verglimmen zu Asche. Schwarz vermischt sie sich mit dem Wasser, in dem sich das Blau des Himmels spiegelt. Es erinnert mich an seine Augen, wenn er aus den Schatten kam, und mein Herz ist gelähmt vor Schmerz.

    »Du lernst schnell, Mella.«

    »Nicht schnell genug.« Ich drehe mich nicht um. Die Ascheschlieren verlieren sich in sanften Wellen, und langsam bekomme ich meinen Atem wieder in den Griff. »Ich hätte ihn retten müssen.«

    Tom seufzt leise. »Es war zu dunkel für dich. Du hattest keine Chance.«

    Ich fahre zu ihm herum. »Das zählt nicht. Es hätte einen Weg geben müssen – es gibt immer einen Weg.« Wütend stoße ich meine Faust drohend in Richtung Boden. Ein gewaltiger Knall lässt mich zusammenzucken. Direkt neben meinem rechten Schuh ist das Moos verkohlt, leichter Brandgeruch steigt mir in die Nase. »Du liebe Güte.«

    »O ja, das warst du.« Tom seufzt erneut und verzieht leicht das Gesicht. »Wir müssen deine Gefühle in den Griff bekommen, sonst fackelst du dich eines schönen Tages noch selbst ab.« Seine Stimme ist ernster als sonst. Ernster als früher. Kurz zögert er, dann greift er nach meiner Hand.

    Tränen schießen mir in die Augen. »Ich schaffe das nicht ohne ihn, dieses Leben.«

    »Du bist nicht allein.« Mit den Daumen wischt er meine Tränen fort. Neue strömen nach. Keine Chance, sie aufzuhalten, sie drängen einfach heraus. Tom verschwimmt vor meinen Augen zu einem fleischfarbenen Klumpen.

    »Das ist mir egal! Scheißegal, ob ich die letzte Frau auf der Welt bin oder eine unter zehn Milliarden. Es tut weh, Tom, so weh, dass ich manchmal nicht mehr atmen kann! Als ob mein unverbesserliches altes Herz abstirbt und verwest und jeden Teil von mir mit dem Tod infiziert.« Ich schniefe und senke den Kopf. »Es stirbt in mir, während ich lebe. Wie kann das sein?«

    Flach drückt Tom meine Hand auf meine Brust. »Spürst du das?«, fragt er leise. »Das ist dein Herz, dein wundervolles, liebendes Herz, und es schlägt, weil du da bist, Mella. Es wird immer schlagen.«

    »Es schlägt für ihn.«

    Er schüttelt den Kopf. »Nein, es schlägt für dich. Für niemanden sonst. Du bist nicht tot, und dass Lucas fort ist, wird dich nicht umbringen, glaube mir.«

    Sein Name facht den Schmerz in mir an und er lodert hell wie ein Feuer im Wind. Ich werde ihn nie wiedersehen, ihn nie wieder berühren oder seine Stimme hören. Meine Kehle versteinert. Kein Atemzug passt mehr hindurch. »Warum habe ich es ihm nie gesagt?«

    »Er weiß es.«

    »Nein, verdammt! Nichts weiß er! Und er kann auch gar nichts mehr wissen, weil er tot ist! Ich will ihn wiederhaben!« Tief seufze ich. »Wenn ich ihn nur noch ei…«

    »Jetzt komm mir nicht mit diesem Ich-will-nur-noch-einmal-Bullshit! Niemand will jemanden nur noch einmal!« Tom schnaubt und schüttelt erneut den Kopf, die Augen voller Schmerz. »Man bekommt nie genug. Nicht genug Zeit, nicht genug Worte, Blicke, Berührungen. Es wird immer etwas geben, was man mit dem, den man verloren hat, teilen will. Und genau das, was nie passieren wird, fehlt. Das ist es, was diese Löcher in unsere Herzen frisst. Verpasste Chancen, immer wieder, und kein ich-will-nur-noch-ein-Mal. Das ist nicht genug, niemals genug. Sie fehlen, und die Krater in unseren Herzen mögen vernarben, aber sie heilen nie. Nicht, solange wir atmen.«

    »Siehst du?« Ich lächele unter Tränen, ziehe leise die Nase hoch. »Das nehme ich dir jetzt ab.«

    Kurz schließt Tom die Augen. »Er fehlt mir. Und ich vermisse Josephine und alle, die ich in den letzten Jahrhunderten meiner armseligen Existenz verloren habe. Aber die Wahrheit zu ignorieren, Mella, und die, die wir lieben, nicht loslassen zu können, macht alles nur noch schlimmer. Es vergiftet dein Dasein und die Trauer wird niemals verschwinden. Du musst weitermachen – ohne ihn. Nimm deinen Schmerz, stell dich ihm und verwandle ihn in etwas, was dich dazu bringt, jeden Tag von Neuem aufzustehen.«

    Die Welt um mich herum ist wie in Watte gehüllt. »Es fühlt sich einfach nicht so an, Tom. So endgültig. Ich habe das Gefühl, er ist nur auf einem Einsatz, und kommt jeden Moment zurück.«

    »Mella«, haucht Tom. So viel Schmerz in seinen Augen, so viel Mitleid, dass mir übel wird.

    Mit dem Handrücken wische ich mir die Nase ab. »Nein, Tom. Ist schon gut. Ich kenne die Wahrheit. Nur scheint mein Herz sie nicht glauben zu wollen.« Ich bücke mich und hebe meine Sweatjacke vom Boden auf, nur um irgendetwas zu tun.

    »Die Société hat Häuser auf allen Kontinenten, Mella. Australien würde dir bestimmt gefallen. Nicht für immer – aber du musst wieder in die Spur kommen. Das hier ist doch kein Leben!«

    »Leben …« Ich schnaube verächtlich. »Was ist so toll daran, wenn es nur aus Langeweile und Schmerz besteht? Was hält mich überhaupt noch hier? Es ist egal! Alles ist völlig egal! Ich bin die letzte meiner Blutlinie …«

    Tom schenkt mir ein müdes Lächeln, doch die Sorge in seinem Blick kann er nicht vor mir verbergen. »Willst du dich selbst auslöschen, oder was?«

    Ich zucke mit den Schultern. »Sag mir nicht, dass du nie darüber nachgedacht hättest!«

    Er schnaubt leise. »Du weißt aber schon, für wen er gestorben ist, oder?«

    Wie ein Peitschenhieb ziehen seine Worte über meine Eingeweide. »Wie kannst du …«

    »Er hat das für dich getan, Mella. Er ist in diesem Tunnel aufgetaucht, am Ende seiner Kräfte, um dich da rauszuholen. Er wollte es selbst tun, obwohl er so schwach war, dass er kaum allein laufen konnte!«

    Alles in mir krümmt sich zusammen und verkümmert wie eine Pflanze in der Wüste.

    »Er hat sich für dich geopfert, weil du ihm so viel bedeutet hast, Mella, mehr als sein eigenes Leben! Wie kannst du auch nur daran denken, ihn so gering zu schätzen?«

    Mit einem dumpfen Geräusch landet meine Jacke wieder auf dem Boden. »Scheiße«, flüstere ich erstickt.

    Tom zieht mich in seine Arme. Fest drückt er meinen Kopf an seine Schulter. »Liebeskummer ist immer egoistisch, Mella. Und Trauer ist es auch. Wir sind wütend, weil wir das, wonach wir uns sehnen, nicht bekommen. Und auch nie bekommen werden.« Er legt seine Wange auf meinen Scheitel. »Du hast ihn bereits verloren.« Tom drückt mir einen Kuss aufs Haar. »Jetzt musst du weitermachen. Ich … ich habe mit Edith gesprochen.«

    »Edith?« Erfolglos versuche ich, ihm meine Hand zu entziehen. »Sie soll sich ja von mir fernhalten!«

    »Sie ist immer noch die Chefin der Société, Mella. Unsere beste Chance, Julians fixen Ideen ein Ende zu machen. Wenn nicht sogar die einzige.« Mit dem Daumen streicht er über meinen Handrücken, seinen Blick fest auf meine Augen gerichtet. »Wir könnten dich gut gebrauchen.«

    Ich blinzle. »Trotz allem?«

    Tom nickt und drückt meine Hand ein wenig fester. »Natürlich.« Mit dem Kinn deutet er auf den immer noch vor sich hin schwelenden Baum. »Deine Kräfte sind unfassbar.«

    »Im wahrsten Sinne des Wortes.« Ich seufze und schüttele den Kopf. »Sie beherrschen mich. Hast du … hast du das Eichhörnchen gesehen?« Ein Kloß verspreizt sich in meiner Kehle, und ich könnte nicht sagen, ob das Ekel oder Angst ist, was sich in mir ausbreitet. Vielleicht beides.

    Er lacht leise und senkt den Blick. »Natürlich habe ich es gesehen. Und es hat mir eine Scheißangst eingejagt.« Ich sehe sie in seinen Augen, als er wieder aufblickt. Sie ist echt. »Du musst über ihn hinwegkommen, und das sage ich dir nicht nur als dein Freund, dem du so sehr am Herzen liegst, Mella. Wenn du deine Kräfte beherrschst und nicht umgekehrt, wird dich Edith in der Société einsetzen und du bekommst deine Chance.«

    Jede Unruhe in mir verlöscht wie die brennenden Blätter im See. Die Vorfreude darauf, endlich etwas tun zu können, vielleicht sogar Helena in meine Finger zu kriegen, lodert in mir auf wie ein Feuer im Windstoß.

    »Aber ich kann das nicht einfach so abschalten, Tom. Ich weiß nicht, wie.«

    »Gefühle sind nicht hilfreich.« Wieder drückt er meine Hand und lässt sie plötzlich los. »Verschwendete Gefühle noch viel weniger.«

    Ich schlucke Stacheldraht, als mich die Trauer wieder hinterrücks angreift und zu überwältigen droht. Es tut weh, wahnsinnig weh, aber ich würge den Schmerz hinunter. »Du musst es ja wissen.« Die Energie flutet über meine Haut wie eine Impulswelle. Gut, dass er mich losgelassen hat!

    »Ich werde dich trainieren.« Tom ignoriert meine Worte, so wie er immer alles ignoriert, was ihm nicht in den Kram passt. »Du wirst lernen, dein Talent im Schlaf zu beherrschen, und ich werde dir beibringen, dich in der Dunkelheit zu verteidigen. Doch das alles hat keinen Sinn, wenn du nicht aufhörst …«

    Ich nicke und schlucke an meinen Tränen. »Zu trauern.«

    Tom streicht mir einmal über die Wange, sanft, als wolle er unsichtbare Tränen fortwischen. »Genau.«

    Langsam drehe ich mich um, mache ein paar Schritte auf den See zu. Hier habe ich ihn zum letzten Mal gesehen, getränkt von seinem Blut, kurz bevor er zu Staub im Wind wurde. Wie hört man auf zu trauern?

    Mechanisch bücke ich mich und hebe eine Eichel auf, hole aus und versenke sie in dem schwarzen Wasser. Ein leichter Wind bläst mir ins Gesicht, und ich weiß, was die Kühle auf meinen Wangen bedeutet. Die Tränen. Immer holen sie mich ein. »Es ist erst wenige Wochen her. Zu kurz, um zu vergessen.«

    Ich spüre Toms Wärme in meinem Rücken. »Am Anfang ist es immer am schlimmsten.«

    Ich sehe Lucas vor mir, wie er sich krümmte und zusammenbrach, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem wir jetzt stehen.

    »Nachdem Josephine und die Mädchen gestorben waren, glaubte ich, den Schmerz nicht ertragen zu können. Ich war nicht mehr in der Lage zu atmen – jeder Atemzug ohne sie versetzte mir unerträgliche Stiche. Hier.« Tom legt sich eine Hand auf die Brust. Wieder lösen sich Blätter von ihren Zweigen, segeln langsam zu Boden. »Mir war nicht klar, dass es körperlich weh tut.« Er schluckt, und der Schmerz in seinen Augen ist so unerträglich, dass ich wegsehen muss.

    Doch ich weiß, was er meint. Dafür, dass Lucas glaubte, wir hätten keine Seelen mehr, tut mir meine verflucht weh, jedes Mal, wenn ich an ihn denke.

    »Ich habe darauf gewartet, dass der Schmerz irgendwann vorübergeht. Aber das tut er nicht. Er tut es einfach nicht.«

    »Na wunderbar. Genau das, was ich hören wollte.« Shit.

    »Aber das ist gut so.« Tom lächelt. Wie kann er jetzt lächeln? »Ich habe mit den Jahren gelernt, dass dieser Schmerz nichts anderes ist als Liebe. Für die Toten kann es kein schöneres Kompliment geben, als dass die, die zurückbleiben, um sie weinen.«

    »Ich hasse weinen«, würge ich hervor und schlucke gegen die Tränen an, die meine Kehle hinaufkriechen.

    Tom legt meine Hand auf seine, und ich spüre seinen Herzschlag, ganz ruhig und gleichmäßig. »Aber weinen ist gut. Es gibt uns Zeit zum Nachdenken, zum Erinnern. Es ist ein Abschied, und es wird dir helfen, loszulassen.«

    »Bei Resa fühlte es sich so anders an.«

    Leise schüttelt Tom den Kopf. »Deine Mutter hatte ihr Leben, Mella. Das war ihre Zeit. Und am Ende war ihre Zeit eben vorbei. Wie es bei jedem Menschen sein sollte.«

    »Nur nicht bei uns.«

    »Ja, nur nicht bei uns.« Er seufzt. »Es ist immer schmerzhaft, wenn jemand geht. Aber dieser Schmerz raubt uns alles, wenn wir es zulassen. Er hält uns gefangen an einem einsamen, unwirtlichen Ort.« Er lässt meine Hand los. »Du wirst Lucas nie vergessen, Mella. Doch du musst dich über den Schmerz erheben und ohne ihn weitergehen. Das ist der einzige Weg, für jeden von uns. Nach vorn. Ich bin ihn gegangen, und du wirst ihn auch gehen.«

    Es ist nicht mein Trotz, der mich stumm bleiben lässt. Es ist der Schmerz und die Angst und die Verzweiflung, die mich von innen heraus auffressen und meine Zunge lähmen. Meine Trauer gehört mir, mir allein. Sie ist das Einzige, was ich noch von ihm habe.

    Tom räuspert sich leise. »Ich kann dir nur meine Hilfe anbieten. Ob du sie annimmst, entscheidest du. Aber nur so kommst du in die Société.« Ernst sieht mich an. »Ich mache mir Sorgen um dich.«

    Bitter lache ich auf. »Das brauchst du nicht. Ich lebe noch. Oder zumindest so etwas in der Art.«

    An seinem traurigen Lächeln erkenne ich, dass er mich genau verstanden hat. »Dein Leben hat einen Sinn, Mella.«

    Jetzt ist mein Lachen zynisch. »Und welchen, Tom? Niedliche kleine Eichhörnchen zu grillen und innerlich zu versteinern?«

    Kaum merklich schüttelt er den Kopf. »Wir brauchen dich, Mella. Wenn du wüsstest, wie sehr.«

    Ich zucke mit den Schultern und wende mich wieder dem See zu. »Und wofür? Entweder wird das Gute siegen oder das Böse. Ich bin dafür nicht wichtig.« Das Wasser hat sich mittlerweile wieder beruhigt. Glatt wie ein Spiegel liegt es da, ein Farbenspiel aus den schwarzen Schatten der Bäume und dem stahlblauen Himmel.

    »Jeder ist wichtig. Ich …« Tom verstummt urplötzlich, und neugierig wende ich mich um. Er scheint über etwas nachzudenken, kämpft förmlich mit sich selbst. Schließlich sieht er auf, steckt mir auffordernd seine Hand entgegen. »Komm«, sagt er mit fester Stimme. »Ich will dir etwas zeigen.«

    2.

    Wo zum Teufel hast du mich hingebracht, Tom?«

    Fauliges Wasser rinnt von den Wänden und bildet dunkle, glitschige Pfützen auf den Stufen einer engen, ausgetretenen Wendeltreppe.

    »In unser Verlies.«

    Meine Nackenhaare stellen sich auf. Verlies? Unser Verlies – wir halten sie im Herrenhaus gefangen? Nur wenige Meter unter mir hocken diese Schweine, die mir alles genommen haben?

    »Ich will, dass du dir etwas ansiehst … oder vielmehr jemanden. Vielleicht verstehst du dann, warum es so wichtig es ist, weiterzumachen.«

    Nacheinander klettern wir die Treppe hinunter, stets bemüht, nicht auszurutschen. Eine muffige Note, vermischt mit saurem Schweiß und einem Hauch von rostigem Eisen erfüllt die Luft.

    Unten erwartet uns eine Metalltür, der schlammfarbene Lack darauf aufgebläht wie Blasen in einem Hefeteig. Tom zieht sie auf und bedeutet mir stumm, hindurchzugehen.

    Hunderttausende von Schmetterlingen flattern in meinem Bauch umher. Warum fühlt sich diese beschissene Nervosität so an, als ob man verliebt wäre? Ich will das nicht fühlen! Nicht jetzt! Nie wieder! Einem Pistolenschuss gleich kracht die Tür hinter uns ins Schloss und ich zucke zusammen wie ein schreckhaftes Kind.

    Kaltes Neonlicht beleuchtet einen langen Flur, nicht annähernd breit genug, um sich quer hineinzulegen. Zwanzig, dreißig Türen säumen die Wände, aneinandergereiht wie die abgenutzten Perlen einer zu oft getragenen Kette.

    »Da sind sie drin? Julians Leute?« Mit dem Kopf deute ich den Gang hinunter.

    »Die Blutsüchtigen und die Gestaltwandler, ja. Für die anderen mussten wir uns etwas Besonderes einfallen lassen.«

    Meine Kehle schnürt sich so plötzlich zu, als hätte man mich im Weltall ausgesetzt. O ja, ich erinnere mich. Das schwarze Kellerloch, in dem sie mich gefangen hielten wie in einem Sarg tief unter der Erde. Ohne einen einzigen Lichtstrahl, mit dem ich irgendetwas hätte ausrichten können.

    Unauffällig mustere ich Tom von der Seite. Damals war ich mir so sicher, dass er es war, der uns verraten hatte. »Was habt ihr euch für ihn einfallen lassen?«

    Er sieht mich nicht an. »Für Lucas? Das willst du nicht wissen.« Tom setzt sich in Bewegung, den Blick starr nach vorn gerichtet. »Graves ist hier drin.« Er bleibt vor einer der Türen stehen und zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche.

    Ich lasse ihn stehen und laufe den Gang hinunter, von Tür zu Tür. Hinter kleinen, vergitterten Fenstern kauern schattenhafte Gestalten. Jede der Zellen ist belegt, und doch ist es gespenstisch still hier unten.

    »Warum sind sie so ruhig?« Ich hätte erwartet, dass sie randalieren, schreien, flehen – aber nicht, dass

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