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Narbensammler: Schnittwunden
Narbensammler: Schnittwunden
Narbensammler: Schnittwunden
eBook403 Seiten5 Stunden

Narbensammler: Schnittwunden

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Über dieses E-Book

Laute Musik, zu viel Alkohol und ein heißer Flirt sind die einzigen Erinnerungen, die Alex an die Nacht hat, in der ein Fremder sie aus einer heiklen Lage rettete. Aus dieser zufälligen Begegnung entwickelt sich schnell eine leidenschaftliche Affäre, die ihr schon bald mehr schlaflose Nächte bereitet, als ihr lieb ist. Eine bedrohliche Nachricht macht Alex jedoch klar, dass ihre Gefühle nicht ihr größtes Problem sind.

Der Narbensammler, der seit einem Jahr Frauen jagt, hat sie in sein Visier genommen. Sein Vorgehen ist der Polizei und den Medien bekannt. Doch diesmal ändert er sein Spiel. Als eine E-Mail einen beängstigenden Verdacht weckt, erkennt Alex, dass sie den falschen Menschen vertraut.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Juni 2022
ISBN9783347606784
Narbensammler: Schnittwunden
Autor

Jessica Keim

Als überzeugte Selfpublisherin lege ich Wert auf die Qualität meiner Arbeit. Derzeit veröffentliche ich mein zweites Buch, welches als Nachfolger des ersten die Geschichte fortführt, aber auch vollkommen unabhängig gelesen werden kann. Ich freue mich auf auch.

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    Buchvorschau

    Narbensammler - Jessica Keim

    Der Narbensammler

    Graue Vorhänge dunkeln das Schlafzimmer ab und das warm-weiße Licht der Nachttischlampe erschafft eine beinahe romantische Atmosphäre.

    »Deine Wohnung gefällt mir. Man sieht, wie viel Mühe du dir bei der Gestaltung gegeben hast.« Er steht vor dem Bett und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, vorbei an den hochwertigen Möbeln. »Die Einrichtung ist etwas zu gewöhnlich für meinen Geschmack«, spricht er weiter und nimmt sie mit seinen grauen Augen ins Visier.

    Die Hoffnungslosigkeit in ihrem Gesicht bringt ihn zum Lächeln, denn das war vor ein paar Stunden noch anders. Als sie frisch geduscht aus dem Badezimmer trat und ihn vor der geschlossenen Wohnungstür stehen sah. Mit ihrem Schlüssel in einer und dem Messer in der anderen Hand. Große Augen starrten ihn an. Ihr Mund öffnete sich, doch im ersten Moment brachte sie keinen Ton heraus. Innerhalb von Sekunden war die Angst zu sehen.

    Jetzt hegt sie auf ihrem Bett. Hilflos. Ihm vollkommen ausgeliefert. Dieser Anblick ist ebenso befriedigend wie frustrierend. Es ist doch immer dasselbe. Verzweifelt zerrt sie an dem Klebeband, mit dem ihre Hände gefesselt sind. Sie versucht zu entkommen.

    »Es gibt hier keinen Ausweg. Spar dir deine Kraft, du wirst sie brauchen«, erklärt er, höchst amüsiert über diese nutzlosen Bemühungen.

    »Was hast du mit mir vor?«, zetert sie ihm entgegen. Ihren Mut nimmt er erfreut zur Kenntnis.

    »Wir werden Spaß miteinander haben. Darüber hatten wir uns vor einigen Wochen so nett unterhalten.«

    »Ich habe dich noch nie gesehen.«

    »Doch, nur erinnerst du dich nicht mehr daran.«

    »Bitte, ich habe Geld, nimm dir was du brauchst.«

    Ein erbärmlicher Versuch. Diese Flittchen sind alle gleich. Er kniet sich neben sie, streicht mit einer Hand über ihren Bauch und spürt, wie sich ihr Körper unter seiner Berührung verspannt.

    »Du liegst nackt und gefesselt vor mir. Das ist keine günstige Verhandlungsposition, weißt du? Ist es nötig, irgendwen über deinen Kurzurlaub zu informieren? Wir wollen nicht gestört werden. Wenn jemand ungebeten auftaucht, gibt es am Ende nur Tote. So weit sollte es nicht kommen.«

    »Nein, bitte!« Hastig versucht sie, sich wegzudrehen um seiner Nähe zu entkommen.

    Er ist schneller, packt ihre Haare und zieht sie mit einem Ruck an sich ran. »Gibt es jemanden?«, wiederholt er die Frage, bedrohlich ernst.

    »Nein. Bitte, ich will nicht sterben!«, antwortet sie mit zitternder Stimme. Tränen laufen ihre Wangen entlang.

    »Das passiert nur, wenn es nötig ist. Also hör auf zu heulen. Das bringt dir nichts und die Zeit können wir besser nutzen.« Er holt eine Box Kondome aus seiner Tasche, anschließend nimmt er sein Messer, das auf ihrem Nachttisch bereit liegt. »Jetzt kein Wort mehr«, erklärt er und sticht mit der Spitze leicht in ihre Wade, sie wimmert.

    »So ist es brav.« Mit weiteren Stichen arbeitet er sich ihren Körper hinauf. Als er an ihrem Bauch ankommt, fängt sie wieder an zu heulen.

    »Bitte, bitte, ich will nicht sterben«, fleht sie ihn an.

    »Wer stirbt denn hier? Wir haben nur ein wenig Spaß.«

    Er lächelt und schneidet tief in ihre Haut. Genau an der Stelle, an der er war, als diese nervtötende Heulerei angefangen hat.

    »Jetzt müssen wir von vorne anfangen. Ich habe doch gesagt nicht reden und hör auf zu jammern. Es tut dir niemand was.«

    Er achtet nicht auf ihre Reaktion. Der erste Schnitt fasziniert ihn viel mehr. Genüsslich lässt er seine Finger darüber gleiten, ehe er mit einem Stich in die Wade wieder von vorne anfängt. Drei weitere Schnittwunden hinterlässt er auf ihrer Haut, bevor er nach einem Kondom greift, wodurch er eine regelrechte Panikreaktion auslöst.

    Als er fertig ist, spürt er den zitternden Körper unter sich. Sie weint. Er lässt ihr einen Moment, um sich zu fangen. Schwer atmend rollt er von ihr herunter und bleibt neben ihr hegen. Der Wecker auf dem Nachttisch fällt ihm ins Auge. Zehn Minuten.

    Wie üblich bedauert er zutiefst, dass es nicht länger gedauert hat. Das erste Mal hat immer einen gewissen Reiz. Wenn diese Flittchen verzweifelt schlagen oder treten, um ihn aufzuhalten. Dann der Moment, in dem die Augen leer werden und ausdruckslos durch ihn durchblicken. Sie begreifen, dass er nicht aufhören wird. Die angespannten Körper unter ihm, die mit jedem Stoß weiter verkrampfen.

    Das benutzte Kondom lässt er auf den Boden fallen und beobachtet sie eine Weile. Bis ihm das Geheule auf die Nerven geht. »Ich verstehe euch Flittchen nicht«, beginnt er mit ihr zu reden. »Ihr sucht doch ganze Kerle.«

    »Wieso tust du das?« Sie spricht so leise, dass es ihm schwerfällt, alles zu verstehen.

    »Ihr verdient es nicht anders. Ihr tötet Babys, macht uns krank, dann wimmert ihr und erwartet Gnade.«

    »Ich kenne dich nicht einmal.«

    »Doch und du wirst mich nie wieder vergessen, das verspreche ich dir.« Er rollt sich auf die Seite, fixiert ihr tränennasses Gesicht. »Du brauchst keine Angst zu haben. Tu einfach, was ich dir sage. Dann wird es um einiges angenehmer für dich. Jetzt hör mit dieser Heulerei auf.«

    »Bitte, tu mir nicht mehr weh, ich will nicht sterben.« Ihre Stimme ist getränkt von Angst.

    »Wenn du brav bist, stirbst du nicht«, antwortet er beiläufig und betrachtet fasziniert die Schnittwunden an ihrem Bauch und den Beinen. Als er seine Finger über eine der Wunden gleiten lässt, verkrampft sie erneut.

    »Du bist ein gestörter Hurensohn!«, schreit sie ihn plötzlich an. Ein letzter Wutanfall. Das kennt er zu gut.

    »Das ist nicht nett!« Er greift nach dem Messer.

    »Nein, bitte, es tut mir leid. Bitte nicht, es tut mir so leid.« Ihre Worte überschlagen sich regelrecht.

    »Ihr Flittchen seid frustrierend, weißt du das?«

    Sie antwortet ihm nicht. Ohne das zu kommentieren, schneidet er in ihre Haut. »Denk an die Regeln. Versteh mich nicht falsch, aber es ist doch immer dasselbe mit euch. Jetzt sorgen wir dafür, dass du bei Kräften bleibst.«

    Bevor er den Raum verlässt, nimmt er ihre gefesselten Hände und fixiert sie mit Handschellen an dem Kopfteil ihres Bettes.

    Von allen Tieren ist der Mensch das Einzige, das grausam ist. Keines außer ihm fügt anderen Schmerz zum eigenen Vergnügen zu.

    Mark Twain

    Achtzehn Wochen später

    Alex

    Freitag

    »Sind Sie sicher, dass Sie kein Taxi brauchen?« Alex nimmt den besorgten Tonfall ihres Chefs wahr.

    »Ich werde abgeholt«, erklärt sie ihm lächelnd und betätigt den Knopf, der den Fahrstuhl kommen lässt. »Vielen Dank für die Einladung.«

    »Es hat mich gefreut, dass Sie da waren. Wenn Sie nächste Woche im Büro sind, setzen wir uns wegen Jack zusammen.« Mit einem Mal wirkt der sonst so besonnene ältere Herr mit den grau melierten Schläfen verärgert. Wie schon letzte Woche, als Alex das Gespräch mit ihm suchte. Er versprach aufrichtig, die Sache ernst zu nehmen. Der Kollege wurde noch am selben Tag beurlaubt.

    »Für die Unterstützung bin ich Ihnen dankbar. Mitte der Woche bin ich im Büro. Kommen Sie und Ihre Frau gut nach Hause.« Alex steigt in den Fahrstuhl und verlässt die Weihnachtsfeier. Eine halbe Stunde später als geplant.

    Während der Aufzug nach unten saust, schreibt sie eine Nachricht: Entschuldige, es hat länger gedauert, ich bin unterwegs. Patricks Antwort ist eine Adresse - etwa zehn Minuten Fußweg - und das Versprechen, dass er dort auf sie wartet.

    Draußen bringt ein kalter Windstoß ihre langen braunen Haare durcheinander. Das erinnert Alex an ihren Mantel. Der hängt an der Garderobe. Sie hat jedoch keine Lust, zurückzugehen und gleich im Auto ist es warm.

    Am Eingang zum Park stockt sie und überlegt eine Sekunde. Allerdings ist sie spät dran, also biegt sie rechts ab und verlässt die Hauptstraße. Diese Abkürzung ist jedoch verdammt unheimlich. Alex sieht sich um. Abseits der Straßenlaternen liegt die Dunkelheit wie ein Laken über dem sonst belebten Stadtpark. Abgesehen von leichten Schattenspielen der Büsche und Bäume auf dem Weg, die durch das spärliche Licht des Mondes entstehen.

    Das Wissen, dass es nicht mehr lange dauert, bis sie endlich im Auto sitzt, beruhigt Alex. Ein wenig.

    Um sich nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen, dass genau mit solchen Szenen unzählige Horrorfilme ihren Anfang nehmen, lenkt Alex sich mit Gedanken an Patrick ab. Sein Vorschlag, sie heute abzuholen. »Ich hole dich ab, Kleine. Du rufst ja doch wieder an, weil du glaubst, es ist lustig zu Fuß zu gehen und dich dann langweilst. Außerdem bist du mir nachts und betrunken am liebsten.« Mit diesen Worten sowie einem Lächeln verabschiedete er sich vor vier Tagen und beendete die Diskussion darüber.

    Patrick Seed. Er ist der interessanteste Mann, den Alex seit Jahren kennengelernt hat. Etwas an ihm fasziniert sie. Auch wenn sie gar nicht so genau weiß, was eigentlich. Außerdem sucht er dasselbe wie sie. Spaß und keine Verpflichtungen. Dann denkt sie an ihr Kennenlernen zurück. Vor fünfzehn Wochen. Heute genau.

    Das Joker’s. Eine Bar, Alkohol, zu laute Musik. Dort stolperte sie in diesen Mann. Groß, breite Schultern, scharf. Genau ihr Beuteschema. Es folgten ein paar Drinks und Tanzen mit viel Körperkontakt. Der Flirt hatte vielversprechend angefangen. Endete jedoch mit einem Korb für Alex, welchen sie mithilfe von Rum herunterspülte.

    Am nächsten Tag fühlte sie sich regelrecht erschlagen. Jeder Versuch, sich an den Rest der Nacht zu erinnern, scheiterte kläglich. Zwar war der Abend mit den Arbeitskollegen feucht-fröhlich gewesen, aber nicht ausreichend für einen Filmriss. Außerdem hatte sie kaum Geld ausgegeben und das Joker’s lag nicht gerade in der Nähe ihrer Wohnung. Wie ist sie nach Hause gekommen?

    Dieses Geheimnis wurde auch durch das Telefonat mit einer besorgten Kollegin nicht gelüftet. Offenbar war sie irgendwann einfach verschwunden.

    Im Laufe des Vormittags fand sie den Weg aus dem Bett und entdeckte in ihrer Handtasche eine Serviette mit einer Handynummer. ›Heile angekommen?‹, stand daneben. So sehr sie sich bemühte, sie erinnerte sich nicht daran, wie diese Nummer in ihre Tasche gekommen war. Aber die Neugier war geweckt. Daher schrieb sie den Unbekannten an. Ein wenig verlegen. Er antwortete schnell. Nach einigen Nachrichten wusste sie, es war der heiße Typ, der sie hat abblitzen lassen. Alex erfuhr weiter, dass er sie später in ein Taxi gesetzt hatte. Sie bestand darauf, ihm das Geld für die Fahrt wiederzugeben. Er stimmte zu, es abzuholen. So erwartete sie ihn am frühen Abend.

    Etwas nervös und in einem typischen ich-verlasse-das-Haus-nur-wenn-es-brennt Outfit, bestehend aus einer Jogginghose und einem Fanshirt ihrer Lieblingsband, öffnete sie die Tür.

    »Hallo Fremder«, begrüßte sie ihn.

    »Guten Abend, Fremde«, antwortete er, mit einem hinreißenden Lächeln auf den Lippen.

    Sie bat ihn rein und musterte den Mann, möglichst unauffällig. Von Alkoholvernebelung konnte keine Rede sein. Nüchtern und bei Tageslicht fand sie ihn sogar noch anziehender. Von dem dezent fruchtig-süßen Duft, den er in ihre Wohnung trug, über die dunkle, gut sitzenden Jeans bis zu den Boots. Alles an ihm wirkte gepflegt. Etwa eins neunzig groß, den kräftigen Körperbau erkannte sie, trotz der schwarzen Lederjacke. Seine durchdringenden grauen Augen hatten Alex gestern schon gefesselt. Glatze und ein Dreitagebart rundeten den Anblick ab.

    Er folgte ihr in die Küche. Dort bot sie ihm was zu trinken an. Ein kurzes Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen, als sie ein Glas aus einem der Hängeschränke holte. Den Blick, der über ihren Körper wanderte, spürte sie deutlich. Männer sind doch alle gleich. Ob ein kurzer Rock oder eine Jogginghose.

    »Wie viel hast du für das Taxi bezahlt?« Alex stand am Ende des Raumes vor dem Fenster.

    »Lass mal. Du hattest fünfzig Dollar bei dir und hättest selbst bezahlen können.« Er lehnte mit einer Schulter am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt.

    Ein Schock fuhr ihr durch die Glieder. »Du hast meine Sachen durchsucht?« Das klang angreifender als geplant.

    Seine Reaktion war ein weiteres charmantes Lächeln. »Ich brauchte den Ausweis, wegen der Adresse«, antwortete er und trat einen Schritt auf sie zu, wobei er sich umsah. Sie folgte seinem Blick entlang der grünweiß gestrichenen Wand hinter dem massiven Esstisch. Vorbei an der weißen Einbauküche und den modernen Elektrogeräten. Bis seine stahlgrauen Augen wieder bei ihr ankamen.

    »Wenn du nicht vor hast, dein Geld abzuholen, wieso bist du dann hier?« Diesmal war der angreifende Ton Absicht, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

    Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu. »Du bist leichtsinnig«, sagte er gelassen, statt ihr zu antworten.

    »Du bist unverschämt und hast meine Frage nicht beantwortet.« Um Abstand halten zu können, wich sie ein Stück zurück. Er ließ sich nicht beirren.

    »Wir haben etwas nachzuholen«, erklärte er.

    Alex wurde heiß und kalt. Panik stieg in ihr auf, denn er stand zwischen ihr und der Tür. Sie bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Doch mit ihren eins achtundsechzig war sie deutlich kleiner als er. Ihre schlanke Figur wäre diesen breiten Schultern gegenüber eindeutig im Nachteil gewesen. Dann wurde sie auf seine Hand aufmerksam, die in seiner Jackentasche verschwand. Sie hielt die Luft an. Ihr Verstand war damit beschäftigt, herauszufinden, was sich darin verbergen könnte. Da kam eine Karte zum Vorschein. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie den Personalausweis. Es war ihrer.

    Patrick stand dicht vor ihr. Alex schaute hoch, um sein Gesicht zu sehen und bemerkte seine an Arroganz grenzende Belustigung. Dann zog er sich zurück, warf einen Blick auf den Ausweis und legte ihn auf den Tisch.

    »Du hast keine Ahnung, was gestern Nacht passiert ist oder, Alexandra?«

    »Alex bitte. Ehrlich gesagt, nicht so richtig.« Sie spürte, wie ihr Gesicht warm wurde, denn die Abfuhr war ihr unangenehm und dass er darüber redete, erst recht.

    Er nickte. »Dann kläre ich dich mal auf, Alex. Nachdem unsere, nennen wir es mal Unterhaltung, zu Ende war, habe ich mitbekommen, dass du weiter geflirtet hast. Später konnte ich beobachten, wie ein Mann, der dir eindeutig nicht so gut gefallen hat, wie ich …« Seine Lippen verzogen sich zu einem unverschämten Grinsen. »… zudringlich wurde. Nachdem du ihn zurückgestoßen hast, entschuldigte er sich mit einem Drink. Rum mit Cola ist das Getränk erster Wahl oder?«

    Patrick ließ einen Moment vergehen, vermutlich, um ihr Zeit zu geben, sich zu erinnern. Es gelang ihr nicht. Ein bedrückendes Gefühl breitete sich in ihr aus und ließ sie ihre Arme um ihren Körper schlingen. Mehr als ein Nicken brachte sie nicht zustande.

    »Dieser Typ stand am Tresen neben mir. Ich bekam mit, wie er etwas in dein Glas gemischt hat und zügig zurück zu dir ging. Die Bar war überfüllt, sodass ich mich nicht schnell genug zu euch durchdrängeln konnte, um zu verhindern, dass du davon trinkst.«

    Wieder unterbrach Patrick sich und fixierte ihr Gesicht. Scheinbar erkannte er, wie sie sich fühlte. Er rückte einen der dunkelbraunen Stühle ein Stück vom Tisch ab und deutete ihr damit, sich zu setzen. Nachdem sie Platz genommen hatte, warf er ihr einen verhaltenen Blick zu. Erst auf ihr Nicken hin zog er seine Jacke aus und setzte sich.

    »Irgendwann schaffte ich es zu euch. Doch bevor ich eine Chance hatte, ihn festzuhalten, ist er in der Menge verschwunden. Diese Mittel sind zuverlässig. Du wurdest immer benommener«, führte er weiter aus. Alex glaubte, Sorge in seiner Stimme zu hören.

    »Dich in diesem Zustand dort zu lassen, wäre an Fahrlässigkeit kaum zu überbieten gewesen. In der Menschenmasse hatte ich keine Möglichkeit jemanden zu finden, der zu dir gehört. Der Türsteher ist ein Freund und hat mir deine Tasche gegeben. Ich habe nur den Ausweis gesucht.« Er warf Alex einen eindringlichen Blick zu. »Um sicherzu gehen, dass du trotzdem heile zu Hause ankommst, rief ich eine befreundete Taxifahrerin an und habe sie bezahlt, damit sie dich bis in deine Wohnung begleitet. Ich war selbst mit meiner Schwester dort, die konnte ich unmöglich alleine lassen. Den Ausweis habe ich am nächsten Morgen in der Hosentasche gefunden. Auf einen Wildfang wie dich aufzupassen war keine leichte Aufgabe. Ich hab ihn versehentlich eingesteckt.«

    Alex nickte nur. Im ersten Moment war sie unfähig etwas dazu zu sagen oder ihre Gefühle zu sortieren.

    »Du hast eben gefragt, wieso ich hier bin. Ich wollte mich persönlich davon überzeugen, dass es dir gut geht. Deswegen meine Handynummer in deiner Tasche.«

    Ein lautes Poltern reißt Alex brutal aus ihren Gedanken. Zurück in die kalte Realität. Hektisch sieht sie sich um. In der Dunkelheit ist nichts zu erkennen. Abgesehen von dem gruseligen Schattenspiel auf dem Boden.

    Ich freue mich auf die betrunkene Alex und bin gleich da, Kleine. Geh nicht durch den Park. Schrieb er ihr, als sie sich auf den Weg machte. Wieso sie nicht auf ihn gehört hat, ist ihr selbst nicht klar.

    Aufmerksam setzt sie ihren Weg fort. Beschleunigt ihre Schritte, orientiert sich an der hohen Mauer, um nicht von allen Seiten angreifbar zu sein. Sie versucht, die aufsteigende Angst zu unterdrücken. Spürt aber, wie ihr Herz kräftiger schlägt. Der Versuch, Patrick zu erreichen scheitert. Sie sucht in ihrer Handtasche das Pfefferspray, das er ihr vor einigen Wochen gab.

    »Das hilft, aber es schadet nicht, vorsichtiger zu sein. Wenn es jemand auf dich abgesehen hat und angreift, musst du schneller sein und dich laut bemerkbar machen«, erinnert sie sich an seine Worte. Alex hält die Luft an und lauscht. Es ist still, oder? Nein! Sie ist sich sicher, Schritte zu hören. Nur ist sie nicht in der Lage einzuordnen, von wo. Wieder sieht sie sich um. Wieder erkennt sie nichts. Zitternd sucht sie nach Scheinwerfern. In der Hoffnung, Patrick würde irgendwo in Sichtweite stehen. Aber vergebens. Die Schritte kommen näher. Werden bedrohlicher. Ihr Puls rast. Blut rauscht in ihren Ohren. Kampf oder Flucht nennt man diesen Instinkt. Der Körper bereitet sich auf eine Gefahr vor.

    »Mach dich laut bemerkbar.« Wirklich hilfreich, wenn nicht eine Menschenseele in … Alex kann nicht zu Ende denken. Bevor sie versteht, was passiert, spürt sie eisige Finger am Handgelenk. Es wird auf dem Rücken fixiert. Grob, aber nicht schmerzhaft. Das Pfefferspray hält sie fest. Dann die Kälte der Mauer an ihrem Gesicht. Eine Hand legt sich vor ihren Mund. Mit einem bedrohlichen Zischen mahnt der Fremde sie zur Ruhe. Instinktiv versucht sie, trotzdem zu schreien. Doch mehr als gedämpfte Laute sind nicht zu hören. Ihr Gewicht gegen den Angreifer zu stemmen ist auch vergebens. Der Mann ist stärker.

    »Lass es los!«, knurrt eine heisere Stimme. Ihr Handgelenk hat er fest im Griff.

    Sie lässt das Pfefferspray nicht los. Versucht, ein weiteres Mal, von ihm loszukommen. Zwecklos. Sein Körper an ihren gepresst. Sein Atem an ihrem Ohr. Dann Worte, die ihr bewusst machen, sie hat keine Chance.

    Als er seine Hand von ihrem Handgelenk löst und an ihren Hals legt, schließt Alex ihre Augen.

    Alex

    Sorgfältig rückt Alex ihren Rock zurecht und knöpft die obersten Knöpfe ihrer Bluse zu. Ihre Hände zittern leicht. Auch ihr Herzschlag braucht noch ein wenig Zeit, um sich wieder zu beruhigen.

    Patrick tritt einen Schritt an sie heran. Behutsam streichen seine Knöchel über ihre Wange.

    »Alles in Ordnung?«, erkundigt er sich.

    Alex schenkt ihm ihr charmantestes Lächeln. »Das war aufregend«, beruhigt sie ihn, ehe sie ihre Arme um seinen warmen Körper schlingt und sich an ihn schmiegt. Einen Augenblick genießt sie die Nähe, dann löst Patrick sich abrupt von ihr und streift seine Jacke ab.

    »Zieh die an, du bist eiskalt«, bemerkt er, legt ihr einen Arm um die Schulter und hält sie auf dem Weg zum Parkplatz an sich gedrückt.

    Als Patrick das Auto auf die Hauptstraße lenkt, kuschelt Alex sich tiefer in seine Lederjacke. Sie fühlt sich leicht schwindelig, was wohl die Mischung aus Wein von der Feier und dem nachlassenden Adrenalin ist. Bevor sie den Kopf gegen die gepolsterte Lehne legt, sieht sie, wie er zur Mittelkonsole greift und die Heizung höher dreht.

    »Wieso hast du keinen Mantel dabei?«, zieht seine Stimme ihre Aufmerksamkeit auf sich.

    »Der ist im Büro. Mein neuer Kollege hat ein Auge auf mich geworfen«, wechselt sie das Thema, denn der ober-lehrerhafte Tonfall nervt sie schon im Ansatz.

    Er schüttelt den Kopf, wegen des vergessenen Mantels wie sie vermutet. »Hat er das?«

    Die Neugier in seiner Stimme nimmt sie grinsend zur Kenntnis. »Oh ja. Er hat den ganzen Abend geflirtet.«

    Eine rote Ampel gibt Patrick Zeit, kurz zu ihr zu sehen. Misstrauisch hebt er eine Augenbraue. »Muss an diesem Rock liegen. Wie ist das weitergegangen?«

    »Wie schon? Ich habe ihn charmant zurückgewiesen.«

    »Armer Kerl. Was ist das für ein Typ?« Ein triumphierendes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.

    »Er ist neu und überwiegend im Innendienst. Ich weiß nicht viel über ihn.« Sie zuckt mit den Schultern.

    »So ein Schreibtischhengst? Was hat er denn getan?«

    »Eher ein Schreibtischpony. Er wollte mich mit Wein in seine Wohnung locken.«

    »Er hatte vor, dich und deinen Rock abzuschleppen?«

    »Und meine Bluse.«

    An einer Kreuzung hält Patrick erneut und sieht zu Alex. Dann greift er rüber und schiebt seine Jacke ein Stück zur Seite, sodass ihre schwarze Bluse zum Vorschein kommt. Unverblümt mustert er ihren Ausschnitt.

    »Kann man ihm bei dem Anblick kaum verdenken«, stellt er fest. Alex überlegt, ob das nun ein Kompliment oder Kritik an der Wahl ihres Outfits ist.

    Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung. Sie dreht die Heizung etwas runter. Inzwischen ist ihr warm. Dann schließt sie ihre Augen und denkt einige Minuten zurück, an den Park. Es war, als hätte sie das Adrenalin ebenso deutlich spüren können wie seinen Körper, dicht an ihrem. Leidenschaftlich küsste er ihren Hals, schob den Rock hoch … Es sind solche Spielchen, die den Reiz dieser Affäre ausmachen. Patrick ist eine aufregende Mischung aus distanzierter Kälte und einfühlsamer Nähe. Er weiß genau, was er will und wagt sich an Grenzen. Offene Gespräche über Fantasien und Vorlieben sorgen dafür, dass er diese nur selten überschreitet. Wobei er meist zuhört und selbst wenig erzählt.

    Es kommt vor, wie diese Woche, dass sie sich tagelang nicht sehen. Was Alex nicht stört. Allerdings vermisst sie ihn immer öfter. Sie erwischte sich mehrfach dabei, dass sie auf seine Nachrichten oder Anrufe wartete. Dann redet sie sich ein, dass es der Sex ist, der ihr fehlt. Doch neuerdings sind es die Kleinigkeiten. Sein schamloses Lächeln, wenn er ihr pikante Worte zuflüstert. Seine sanften Berührungen, wenn er seine Hand an ihren Hals legt, wann immer er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit will oder wenn er sie sanft auf die Stirn küsst, bevor er geht.

    »Hey, du Wilde, wir sind da«, zieht Patrick sie aus ihrer Welt. Eilig schiebt Alex ihre Gedanken so weit wie möglich beiseite und sieht sich um. Er hält in zweiter Reihe.

    »Parkst du nicht?«, fragt sie irritiert.

    »Ich muss früher arbeiten.« Das heißt Nein. »Aber am Sonntag steht Nachtschicht auf dem Plan, da kann ich morgen etwas brauchen, das mich wach hält.« Er lächelt.

    »Ich bin immer gerne der Grund für deine schlaflosen Nächte«, antwortet sie, doch die Enttäuschung dabei zu verbergen fällt ihr schwer.

    »Kleine, ich würde sofort mitkommen. Nur dann sind wir noch einige Stunden wach. Das wissen wir beide. Es wäre was anderes, wenn ich …«

    »Okay, schon gut«, unterbricht sie ihn, denn sie weiß, wohin dieses Gespräch führt.

    Zwar ist es meist Patrick, der entscheidet, wann die beiden sich treffen, doch sie bleiben nie über Nacht zusammen. Denn die Nacht miteinander verbringen, schlafend, ist für sie Beziehungssache, dazu ist sie nicht bereit. Also ist es immer Alex, die entscheidet, wann die gemeinsamen Stunden enden. Da sie sich gewöhnlich bei ihr treffen, ist er gezwungen, meist spät nach Hause zu fahren. Daher sehen sie sich an Tagen, an denen er früh arbeitet, nur ausgesprochen selten.

    Sie lehnt sich rüber, schmiegt ihren Kopf an seine Schulter und schließt die Augen. Mit einer Hand schiebt er ihr Kinn hoch, sie fühlt seine Finger in ihren Haaren. Seine Lippen so dicht an ihren, dass sie seinen Atem spürt.

    »Schau mich an«, schlängelt sich seine raue Stimme in ihren Kopf. Ein vorsichtiger Ruck an ihrer Mähne und sie öffnet die Augen. »Bist du dir sicher?«

    »Es geht nicht«, gibt sie leise zurück. Wobei sie das dringende Bedürfnis überkommt, sich zu ohrfeigen.

    Einen Augenblick bleibt er mit seinen Lippen noch dicht an ihren, als wolle er sie küssen. Doch wie üblich passiert das nicht. Was für sie gemeinsames Übernachten ist, ist für ihn das Küssen. Küsse auf den Mund gibt es nur beim Vorspiel und Sex.

    »Wie du meinst«, sagt er und atmet tief durch.

    »Aber ich freue mich auf morgen.«

    Ein ernüchtertes Lächeln, gefolgt von einem Kuss auf die Stirn. »Dann bis morgen.«

    In ihrer Wohnung schaut Alex aus dem Wohnzimmerfenster auf die Straße. Patrick wartet immer, bis er Licht im Wohnzimmer sieht. So kann sie noch beobachten, wie sich der Wagen in Bewegung setzt. Der dunkelblaue Lack wirkt in der Nacht fast schwarz. Sie folgt den roten Rückleuchten, bis sie links abbiegen. Frust überkommt sie. Darüber, dass er nicht hier ist und darüber, dass sie das frustriert.

    Nach dem Abschminken kuschelt Alex sich in ihr Bett und schaltet die Nachttischleuchte aus. Ihr Blick fällt auf das leere Kissen, auf dem Patrick liegen sollte. Sie legt sich auf den Rücken und beobachtet ihre Gedanken, wie sie aus ihrem Kopf an die hohe Decke ihrer Altbauwohnung springen. Eine ganze Nacht mit ihm? Das überfordert sie. Es ist sechs Jahre her, seit sie zum letzten Mal über Nacht mit einem Mann zusammen war. Vorsichtig streicht Alex ihren Bauch entlang. Die Narbe ist heute nicht mehr so deutlich zu spüren, aber sie ist da. Ein verheilter Schnitt.

    Sie dreht sich wieder, knipst das Licht an, öffnet ihre Nachttischschublade und schnappt ein Buch daraus. Am oberen Rand ist der Teil eines Fotos zu sehen, das zieht sie heraus und betrachtet es.

    Eine jüngere Alex drückt einem Mann einen Kuss auf den Mundwinkel, während er in die Kamera lächelt. Es ist eine furchtbar schlechte Aufnahme, verwackelt und unscharf. Die Sonne blendet hinter dem glücklichen Pärchen.

    Das Bild stellt sie an die Lampe und wischt sich Tränen von der Wange. Dann schließt sie ihre Augen und ist wieder in jener Nacht. Der Streit, den sie mit dem Mann auf dem Foto hatte. Alex denkt daran, dass es ihre Schuld war und wie oft ihr erklärt wurde, dass das nicht stimmt. Polizei, Krankenwagen, Sanitäter und Ärzte.

    Dieser Blick in die Vergangenheit ist schmerzhaft. Deswegen dreht sie sich wieder herum und verjagt die düsteren Erinnerungen aus ihrem Kopf. Als sie das leere Kissen betrachtet, malt ihr Verstand ein angenehmeres Bild von Patrick. Sie will vor sich selbst nicht zugeben, wie gerne sie ihn hier hätte. Dass sie sich bei ihm sicher fühlt oder dass sie dabei ist, sich in ihn zu verlieben.

    Diesen Gedanken kann sie vor dem Einschlafen nicht mehr beiseiteschieben.

    Alex

    Samstag

    Alex wirft einen Blick auf ihr Smartphone. In etwa zwei Stunden will Patrick bei ihr sein. Genug Zeit, das Bad zu genießen und zu entspannen. Also lehnt sie sich zurück und schließt die Augen. Patrick und sie haben

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