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Tristan: Eine Chronik über den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts
Tristan: Eine Chronik über den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts
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eBook321 Seiten4 Stunden

Tristan: Eine Chronik über den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts

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Über dieses E-Book

Tauche ein in die Finanzmetropole Europas – London – kurz vor Ausbruch der Finanzkrise und lerne Tristan kennen: Investmentbanker und gefeierter Dandy der Stadt. Jung, erfolgreich und wunderschön erhebt sich mit Tristan einer der größten Verführer unserer Zeit und bricht auf, König der City zu werden.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum21. Dez. 2012
ISBN9783844243925
Tristan: Eine Chronik über den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts

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    Buchvorschau

    Tristan - Paul Sandmann

    Über das Buch

    Tauche ein in die Finanzmetropole Europas – London – kurz vor Ausbruch der Finanzkrise und lerne Tristan kennen: Investmentbanker und gefeierter Dandy der Stadt. Jung, erfolgreich und wunderschön erhebt sich mit Tristan einer der größten Verführer unserer Zeit und bricht auf, König der City zu werden.

    Über den Autor

    Paul Sandmann ist Dauer-Reisender, Träumer, Liebhaber klassischer Musik und der bildenden Künste. Er schreibt seitdem er zwölf Jahre alt ist und liest seiner Freundin seit wenigen Monaten seine Geschichten vor. An dem vorliegenden Roman hat er sechs Jahre gearbeitet.

    Paul Sandmann ist gefühlte dreiunddreißig Jahre alt.

    www.twitter.com/paulsandmann

    Paul Sandmann

    Tristan

    Eine Chronik über den Zeitgeist

    des 21. Jahrhunderts

    Roman

    logo.png

    Impressum

    Tristan: Eine Chronik über den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts

    Paul Sandmann

    Lektorat: Dr. Joern Rauser

    Umschlaggestaltung: Paul Sandmann

    Umschlagmotiv: El Ángel Rebelde von Salvatore Buemi

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Paul Sandmann

    ISBN 978-3-8442-4392-5

    Widmung

    Meinen Lesern, die über dieses Buch twittern, sprechen und schreiben.

    Gemeinsam können wir erst uns und dann die Welt verändern.

    I

    Lustvoll geschwungene Bögen, von seidener Haut bespannt. So zart! Lachsfarben scheint das Fleisch darunter hindurch. Durstig wölbt es sich nach außen. Nach Liebe heischend, unersättlich vor Gier. Darüber fließen filigrane Fältchen - bis zu den Schatten der Öffnung. So mikroskopisch fein, dass bloß Liebende sie bemerken und sogleich in ihren Bann geschlagen werden. Jede einzelne verläuft in nur einer Richtung, zur Öffnung hin. Wie Sirenen ergreifen sie den nahen Betrachter, befehlen ihm, noch näher zu kommen. So nah, dass sein Atem bald die Haut streift. Dann geschieht es: Die Schatten öffnen sich und beider Atem verschmilzt miteinander. Mit einem Mal ist ihr Fleisch einander so nah, wie es nur beim Kuss geschieht. Lediglich von einem Hauch von Nichts getrennt, um das heiß pulsierende Blut im Körper zu halten. Wie viel näher kann man einem Menschen sein als beim Kuss, fragte er sich.

    Er strich sich die gerade geknotete Krawatte zurecht und trat einen Schritt vom Spiegel zurück. Feine hellblaue Streifen durchzogen das Rosa der chinesischen Seide. Er legte sich das Jackett um die Schultern und zog die mit silbernen Manschettenknöpfen geschlossenen Ärmel seines weißen Hemdes unter dem schwarzen Stoff um einige Zentimeter hervor. Dann betrachtete er sich erneut und blähte die Nasenflügel, als ein Dufthauch Parfüm von seinem frisch rasierten Hals unter dem markanten Kinn aufstieg. An diesem Morgen vermochte sein Geruch, der sich allmählich um ihn herum entfaltete, die lästigen Gedanken, die ihn befallen hatten, nicht zu verscheuchen. Sein Blick fiel wieder auf die eigenen breiten Lippen.

    Wie viele Münder hatten sie schon geküsst?

    Und wie viele nur um des Geschmacks, aber nicht um der Liebe willen? Genau wie in der letzten Nacht.

    Darf man so überhaupt fragen, überlegte er. Oder dürfte man dann nie wieder küssen?

    Ich will sie küssen, dachte er sich. Will, dass ihr Lachen mir gehört - dann, wenn die Fältchen wie von Zauberhand verschwinden und die weißen Zähne zu mir lächeln. Ist, diesen Mund zu küssen, das ersehnte Versprechen? Gilt es denn noch etwas, jemanden zu küssen? So inflationär, wie ich mit meinen Küssen umgehe, darf ich das nicht erwarten.

    Nervös lächelte er.

    Hab ich denn jede Einzelne geliebt, die ich küsste? Sicher nicht. Dann wär ich wahrscheinlich verdurstet. Lässt man die Knospen der Jugend verwelken, weil man es zu ernst mit der Liebe nimmt? Reicht nicht schon Zuneigung, aus der später Liebe entspringen kann? Diejenigen, die ihre wahre Liebe mit dem ersten Kuss beschenken, haben das leidenschaftliche Gestern für ein sicheres Morgen verschenkt. Aus Angst ließen sie sich nicht fallen. Nicht von ihren Träumen leiten. Dadurch konnten sie nie enttäuscht oder verletzt werden. Denn der Enttäuschung sitzt man auf, wenn man das von eigenen Träumen und Wünschen umspannte Gegenüber gewähren lässt. Bereut man deshalb den Kuss, wenn der Kokon, der die Illusion zusammenhält, zerplatzt ist?

    In diesem Augenblick hörte er das Wasser der Brause abbrechen und seinen Besuch aus der Dusche treten. Sekunden später tauchte der Körper nackt im Spiegelbild hinter ihm auf, die weiße Haut von hunderten kleiner Wassertropfen bedeckt.

    „Na, schöner Mann? Hätte ich gewusst, dass du so früh aufstehen musst, wär ich gar nicht mit dir nach Hause gekommen", sagte die Unbekannte, als sie ihm den Kopf auf die Schulter legte und seinen Blick suchte. Er fühlte, wie der Stoff seines Sakkos die Feuchtigkeit ihres Kinns aufsog.

    „Doch, das wärst du", entgegnete er, ohne sie anzublicken. Er richtete sich noch einmal kurz die Krawatte, dann drehte er sich um und strich ihr einen Wassertropfen von der Nasenspitze.

    „Die Bank ruft, schlaf dich aus. Wenn du gehst, zieh die Tür einfach zu. Zum Frühstück müsste noch etwas Sushi im Kühlschrank sein."

    Sie verzog das Gesicht. Ihre blauen Augen und der Schmollmund hatten es ihm wirklich angetan - gestern. Jetzt sah sie etwas müde aus. Flüchtig drückte er ihr einen Kuss auf die Wange, dann nahm er die schwarze Tasche von der Kommode und ging hinaus; er hatte die düsteren Gedanken des Morgens fast ganz abgeschüttelt. Noch einmal wallten sie vor dem Fahrstuhl in ihm auf, doch als er seine Nachbarin und den Portier gegrüßt hatte und eingestiegen war, dachte er: Sollte man sich seines leidenschaftlichen Gesterns schämen? Sollte man gar, wegen der zahlreichen Enttäuschungen, die Hoffnung in den Wind schreiben?

    Nein, nicht! Jeden Morgen halte man seine Träume fest, bevor sie entrinnen. Rette sie bis in den Tag hinein. Jeden Tag von neuem. Und wenn dir die Welt die Träume anschlägt, sie dir blutig schneidet, schütze sie mit allen Mitteln. Schenk ihnen die Nacht zur Heilung und bewahr dir ihre Gegenwart - jeden Tag aufs Neue. Niemals darfst du sie verraten, die Hoffnung auf eine Liebe verlieren. Sonst stirbt dein Herz. In diesem Moment dachte er an ihren wunderbaren Körper, wie er sich an diesem Morgen, als sie noch schlief, unter den Bettlaken abgezeichnet hatte.

    Er zog die Wangen zwischen seinen halb geöffneten Zähnen etwas ein, hob den Blick auf die polierte Metalltür des Fahrstuhls, und ein gewinnendes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, das seine alte Nachbarin seufzen ließ.

    II

    Sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Er ist gegangen, sie war allein. Doch kein Gefühl der Einsamkeit oder des Bedauerns überkam sie, dass er sie so früh verlassen hatte. Gestern erst hatten sie sich in einer Szenebar kennen gelernt. Er sah gut aus, der Körper wirkte durchtrainiert, das Lächeln unwiderstehlich. Außerdem war er charmant. Er hörte sich wie einer dieser Schauspieler aus den Filmen an, die sie liebte. Jeder Satz hatte gepasst. Warum also sollte sie nicht mit ihm gehen? Zwar kannte sie ihn erst ein paar Stunden, doch die Versuchung war einfach zu groß gewesen. Sie ging in die Küche, um nach einem Saft zu suchen. Die Wohnung war chic, mit allen Annehmlichkeiten, die man sich vorstellen konnte. Dort drüben neben der Tür: die im Marmorboden eingelassene, symmetrische Vertiefung, gefüllt mit schwarzen Kieselsteinen, zwischen denen drei Bambusstämme bis in die Decke wuchsen. Eben die Dusche, die neben der Brause auch noch Wasserstrahlen aus allen vier Wänden auf sie abgefeuert hatte. Das Wohnzimmer mit der Glasfront, durch die die frühe Morgensonne fiel - und durch die man einen wunderbaren Ausblick auf die Londoner Straßen und Viertel hatte. Und hier die schwarze Ledercouch, auf der sie nun nackt mit im Schneidersitz zusammengefalteten Beinen saß und ihren Orangensaft trank. Das Sushi im Kühlschrank hatte sie unberührt gelassen, sie mochte dieses exotische Zeug nicht. Ihr Blick fiel auf die Wand voller CDs und Schallplatten. Für die Wohnung eines Mannes kam ihr alles ungewöhnlich aufgeräumt und sauber vor. Keines seiner dunklen Haare, das auf dem weißen Boden aufgefallen wäre – und selbst die Klobrille war heruntergeklappt gewesen! Sie konnte das Gefühl, das sie damit verknüpfte, nicht gleich mit Worten beschreiben, also schob sie den Gedanken vorerst beiseite.

    Marie stellte das Glas ab. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Als sie am Fußende des Bettes stand, wurde ihr plötzlich klar, welchen Begriff sie eben gesucht hatte: steril, das war das Wort, das die Atmosphäre in Tristans Wohnzimmer eben so treffend beschrieben hätte. Die Wohnung war nicht gemütlich, sondern eher zu sauber und ordentlich - zumindest für ihre Begriffe. Sie mochte sich kaum vorstellen, wie ein Mensch hier leben konnte. Obwohl alles auf den ersten Blick modern und stilvoll aussah, erschrak sie über die Kälte, die sie spürte. Wer putzte hier eigentlich? – Ach, nein, beruhigte sie sich: Er ist ein Mann. Männer sind nur auf das Notwendigste und Praktische bedacht und legen keinen Wert auf Accessoires wie Kerzen, Pflanzen oder so was. Wahrscheinlich hat er eine hyperaktive mexikanische Putzfrau. Ihre Freunde hatten ein solches Glück – Miranda, eine kleine, kompakte Mittvierzigerin aus Puerto Ángel faltete selbst die Bettdecke über den Kindern neu, wenn die eingeschlafen waren.

    Dann kamen ihre Gedanken zu diesem Mann zurück, den sie noch kaum kannte und mit dem alles so schnell gegangen war. Tristan wirkte einfühlsam und charmant, sie hätte nicht gedacht, dass sie noch einmal einem solchen Mann begegnen würde. Die Nacht war umwerfend gewesen, nie zuvor hatte sie solche Wellen der Ekstase erlebt – bis gestern. Er schien immer zu wissen, was sie gerade dachte und wollte. Ohne es auszusprechen, ging er direkt auf sie ein. Als bestehe eine durchsichtige Verbindung zwischen ihnen, dieses Gefühl war ihr vollkommen neu. Aber eigentlich war sie auch noch gar nicht so oft mit einem Fremden nach Haus gegangen, zu ihm. Nachdem sie sich fertig angezogen hatte, nahm sie ihre Handtasche vom Sofa und ging in Richtung Wohnungstür. Sie öffnete und warf noch einen letzten Blick zurück in das Wohnzimmer. Mit einem zufriedenen Lächeln schloss sie die Tür hinter sich.

    Das warme Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, verschwand sofort, als sie auf die Straße trat. Ein Blick auf die Uhr genügte, um ihre innere Ruhe in Nervosität umschlagen zu lassen. Es war Viertel vor neun. Sie hielt nach einem Taxi Ausschau, aber natürlich war keins in Sicht. Als hätten sich auf einmal alle gegen sie verschworen. Sie musste um neun Uhr bei der Arbeit sein, darum hastete sie jetzt die Straße hinunter und bog in eine weniger befahrene Seitengasse ein. Nach 8-minütigem Fußweg fand sie schließlich ein freies Taxi und lies sich zur Brompton Road fahren. Als sie völlig abgehetzt im Kaufhaus ankam und in die Parfüm-Abteilung trat, wurde sie mit einem Zwinkern von ihrer Kollegin Angelina begrüßt.

    „Ich hab schon gesagt, du hättest einen Arzttermin und würdest später kommen. Bist also bei Mr. Howard entschuldigt und kannst dir ein nerviges Gespräch sparen."

    „Du bist einfach ein Schatz, Angie. Du hast was gut bei mir. – Gehn wir heut Mittag essen?"

    „Aber sicher – wenn du zahlst."

    Sie lachten.

    „Dann um eins. Bis später."

    Marie ging weiter. Gleich darauf machte sie sich daran, neue Waren in die Regale einzuräumen und die übrigen aufzufüllen. Die Zeit bis zum Mittagessen verging wie im Flug, weil sie immer wieder an den Abend mit Tristan dachte, und an all die Zärtlichkeiten, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte. Die unangenehmen Gedanken zu seiner Wohnung hatte sie bereits vergessen und genoss jetzt einfach nur die schönen Erinnerungen an die letzte Nacht. Natürlich war sie sich darüber im Klaren, dass es lediglich eine einzige Nacht gewesen war und er vielleicht gerade in diesem Augenblick mit einer anderen Frau flirtete. Allerdings - schon so früh aufzugeben, dafür war sie nicht der Typ.

    Sie hatte ihm eine kurze und provokative Nachricht auf dem Küchentresen hinterlassen und hoffte, dass er sich früher oder später wieder bei ihr melden werde. In dieser Hinsicht war Marie noch ziemlich altmodisch, sie tat nie den ersten Schritt, sondern wartete immer auf die Initiative des Mannes. Wie oft waren ihr deshalb schon Männer entwischt, einfach weil sie zu passiv war. Doch alte Gewohnheiten änderte man nicht so einfach über Nacht, und sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass Tristan sie auf jeden Fall anrufen werde, weil auch er die Nacht sehr genossen hatte. Sie musste einfach daran glauben. 

    Plötzlich riss eine Kundin sie mit ein paar Worten aus den Gedanken: „Wo finde ich das Duschgel, das zu diesem Duft passt?"

    Tristan warf den Hörer auf die Gabel und tippte etwas in seinen Computer. Er kniff die Augen zusammen, während er den Kurs eines Versicherungsunternehmens betrachtete, der gerade in den Boden schoss.

    „Was ist denn da passiert?", flüsterte er bei sich und wechselte auf ein anderes Fenster, um die Ursache für den Absturz zu verstehen. Aber keine der Daten boten ihm eine Erklärung.

    „Was ist hier los?", rief er seinem Kollegen Marcus zu, der keine anderthalb Meter von ihm entfernt saß. Der tippte noch schnell ein paar Zeichen, drückte die Enter-Taste und stieß seinen rollenden Stuhl zu Tristan hinüber. Dabei warf er den über und über mit Kartons von chinesischem Fast Food gefüllten Mülleimer fast um, der zwischen ihnen stand.

    „Ach, Fensec. Ja, Tom hat eben seine positive Analyse für die kommenden Monate durch die Kameras nach New York und Tokyo geschickt. Dabei ist ihm aber die Nasenscheidewand aufgeplatzt und das Blut hat ihm die Show gestohlen. Da haben die Händler schnell geschaltet und das hier, Marcus wies auf die schräg nach unten weisende, flackernde Linie, „das hier ist dabei herausgekommen.

    „Glückwunsch!", stieß Tristan mit einem sardonischen Lächeln aus und schüttelte den Kopf. Doch Marcus hatte sich schon wieder abgestoßen und war lachend an seinen Platz zurückgerollt.

    Beim Mittagstisch in einem dieser kleinen französischen Straßencafes in der Nähe der City unterhielt sich Tristan mit zwei Kollegen über Toms Missgeschick.

    „Du bist ein Idiot, Tom", sagte Steve gerade, ein hagerer Mann mit kurz geschorenem, blondem Haar.

    Tom blickte sichtlich irritiert, kratzte sich an der Nase und bedachte Steve mit einem wütenden Blick. Noch während die anderen lachten warf er mit fester Stimme in die Runde: „Das hätte jedem von euch passieren können. Also warum haust du nicht ab und fickst dich selbst?"

    Doch seine Worte ließen die anderen nur in noch größeres Lachen ausbrechen. George nahm sich die Ketchup-Flasche, wandte sich ab und hatte, als er sich wieder zu Tom hindrehte, einen blutroten, dicken Schnauzer über der Oberlippe.

    „Siehst du, so hast du in Tokyo ausgesehen, Tom!"

    Er wandte sich kurz ab und dann wieder den anderen zu. Nichts hatte sich verändert. Noch immer troff ihm das Tomatenmark aus der Nase.

    „Und so hast du in New York ausgesehen!"

    Toms Gesicht verfärbte sich dunkelrot. Durch zusammengezogene Augenlider entsandte er Giftpfeile in Richtung der anderen. Seine hellblauen Augen blitzten vor Wut. Dann schoss schon wieder Blut aus seiner Nase und auf seine frisch gewechselte Krawatte.

    „Und so hast du in Frankfurt ausgesehen!", schrie George und schlug auf den Tisch, so dass eine der Bedienungen vor Schreck ein Messer fallen ließ. Tristan beugte sich zu Boden und nahm das Messer auf, das neben seinen Schuh gefallen war, während die anderen beiden laut grölend das gesamte Lokal zum Stillschweigen brachten. Als er den Kopf hob und die peinlich berührte Bedienung anblickte, legte er ein Lächeln auf die Lippen. Das Mädchen trug weiße Kniestrümpfe unter dem dunklen Rock. Das weiße Hemd zierte eine schwarze Fliege. Aus den kurzen Ärmeln staken zwei Arme, die von einem solch zarten Rosa waren, als bestünden sie aus Porzellan. Er berührte ihre Finger flüchtig, als er ihr das Messer in die Hand legte.

    „Schaut her, Tris interessiert es gar nicht, obwohl es zum Schreien ist", rief einer in das Lachen der anderen.

    „Doch, köstlich", sagte Tristan mit leicht verzogener Miene. Er blickte auf Toms Hemd und biss in sein Baguette. Tom bemerkte, dass das Tupfen der Serviette nunmehr weder sein Hemd noch seine Krawatte retten konnte. Deshalb legte er diese ab und sah Tristan an.

    „Was war eigentlich gestern noch mit dir und diesem Ding?", fragte er Tristan.

    Der blickte von seinem Salat auf und ließ den Blick für einen Moment auf dem verspannten Gesicht des Bankers ruhen.

    „Mit uns? Nicht viel", antwortete Tristan schließlich, wandte den Blick wieder ab und probierte von der Lachsterrine.

    „Das kannst du vergessen, der spricht nie über seine Affären. Er nimmt sie eine nach der anderen mit nach Hause, aber passieren tut angeblich nie was. Steve klopfte Tristan auf die Schultern. „Denn Tristan ist ein Mönch, wisst ihr?

    „Bei mir, warf George ein, „wurde gestern noch gefeiert. Die Kleine hat geschrien wie eine Harpyie, aber ich sage euch, meine Lieben, der Abend war lustvoll. Dabei machte er eine eindeutige Geste, die Tristan die Terrine im Halse stecken bleiben ließ. Nun drohte eines jener Gespräche zu entbrennen, das wieder zur allgemeinen Verbrüderung beitragen musste, indem ein jeder wie ein Jäger das noch blutige Wildbret knallend auf den Tisch wirft und damit beginnt, den anderen die Geschichte seines Erfolges zu erzählen. Und wie sie auf diese Weise ihre Beute ein zweites Mal vor den vor Neugier weit aufgerissenen Augen der Brüder ausweideten, leerte sich das Lokal langsam, denn die Mittagspausen neigten sich dem Ende zu. Wie erlöst übernahm Tristan für heute die Rechnung, ließ die anderen schon vorausgehen, um eine Zigarette zu rauchen und sagte dem Mädchen beim Aufstehen: „Es tut mir leid, Mademoiselle. Ich hoffe, Sie verzeihen diesen Rohlingen."

    „Kein Problem." Sie lächelte schüchtern.

    „Sind Sie neu in der Stadt?", fragte er.

    Sie nickte.

    Er betrachtete die Blonde einen Augenblick. Sie selbst schien nicht daran zu glauben, dass er ihr nun eine weitere Frage stellen würde. Deshalb lächelte er nur, nickte dem Mädchen zu und öffnete die Tür des Lokals.

    Tom schob sich an George und Steve vorbei durch die Tür, rempelte einen Passanten an und entfernte sich mit verärgerter Miene. Er lief an den Schaufenstern der Bistros und Cafés vorbei, die die Straße säumten.

    Toms Gesicht war das eines schönen Mannes. Allerdings begann eine Anspannung, die nie daraus weichen zu wollen schien, allmählich ihre Spuren darin zu hinterlassen. Die Kiefer, die immer etwas nach vorn geschoben waren, hatten den Muskelbau beeinflusst und jene Filamente seitlich des Gesichts gestärkt, während sie jene an den Wangen, die für das Lachen zuständig waren, schwächten. Solange die Fasern über Zähnen und Knochen noch jung gewesen waren, hatten sie keiner Entspannung bedurft. Jetzt aber begannen die Wangen einzufallen. Seitlich des Mundes wölbte sich die Haut und warf senkrecht von den Mundwinkeln abfallende Falten, die eine lang anhaltende Unzufriedenheit verrieten. Er mochte sich einbilden, dass dies genetische Veranlagung sei, aber kein Gesicht ist gegen die Zehntausenden von Stunden des immergleichen Mienenspiels gefeit, die letztlich ihre Spuren werfen müssen.

    Auch schien Toms Hautfarbe nicht mehr so frisch wie die seiner Kollegen gleichen Alters zu sein. Aber wie sollte die Haut auch strahlen, wenn das Gewebe, das darunterlag, solch einer andauernden Anspannung ausgesetzt war? Toms Gesicht fehlte es angesichts dieser eingeschliffenen Verbissenheit an Spontaneität. Er lächelte regelmäßig um wenige Sekunden verspätet, sein Lachen konnte sich einer gewissen maskenhaften Erstarrung nie vollends entledigen.

    Unbewusst auf diesen Makel reagierend, um seine Gesprächspartner nicht zu entfremden, hatte sich Tom angewöhnt, die Aussagen seines Gegenübers durch zustimmendes Nicken oder aufmerksame Laute zu unterstützen. Dies gab ihm manchmal einen Zug von Unsicherheit, dem jedoch ein Missverständnis zugrunde lag.

    Toms Augen hingegen hatten nie ihre Lebhaftigkeit verloren. Auch wenn sie ihr Gegenüber die meiste Zeit über scharf in den Blick fassten, reagierten sie auf jede humoristische Spitze mit einem Lächeln. Der scharfe Sinn dieses Mannes ließ seine Augen diese Reaktion vielleicht schneller verraten, als es bei anderen Menschen der Fall war, wodurch Toms Augen und Mundpartie in einen eigentümlichen Kontrast traten, wenn die Gespräche weniger ernsthaft wurden. Alles in allem war Tom die Verkörperung des Widerspruchs. Seine Schönheit, seine Intelligenz und Sportlichkeit hätten ihn in die Mitte jeder Gesellschaft befördern sollen. Aber sein zu jeder Sekunde bis zum Zerreissen gespannter Geist und sein unruhiges Wesen verhinderten dies. Diese Tatsache musste diesen Menschen schließlich zerstören.

    Und genauso sprach Tom auch. Seine Stimme klang verzerrt, wie von dem Wissen um seinen eigenen Widerspruch schrecklich plärrend. Ganz so, als wollte ein Teil seiner Stimmbänder dem Gesagten Ausdruck verleihen - hoch und voller Emotionen -, während der andere Teil dunkel klang und Stärke vermitteln sollte.

    Wieder rempelte Tom einen Fußgänger an, entschuldigte sich höflich, machte noch ein paar Schritte und verschwand dann im Büroturm der Bank.

    III

    Acht Stunden später drehte Tristan den Schlüssel in dem Türschloss zu seiner Wohnung herum. Eine halbe Umdrehung genügte, das Mädchen vom Vorabend hatte die Tür also einfach hinter sich zugezogen. Dunkelblau schien das Licht der Stadt durch die Glaswände seines Apartments. Er legte die Hand auf den Schalter und machte Licht. Die Ledertasche ließ er auf das Sofa fallen, dann ging er zum Kühlschrank hinüber und öffnete ihn. Das Sushi war noch da. Er griff danach, träufelte sich etwas von der schwarzen Sojasauce auf die kleinen Röllchen, deren Reis sich sogleich durstig verfärbte. Wo hatte er das Wasabi gelassen? Er ging zum Schrank hinüber, doch dort war die grüne Paste nicht. Er kniete sich zu Boden und öffnete die hüfthohen Holztüren. Fehlanzeige. Auch drüben am Herd war nichts zu finden.

    „Das Haus hat kein Wasabi mehr", sagte er verblüfft zu sich selbst und ging zu dem Stehtisch, der die Küche von dem Badeingang abgrenzte. Darauf lag etwas, was vorher nicht dort gewesen war. Er griff nach dem Zettel. In geschwungenen Lettern waren dort ein paar Worte und eine Telefonnummer aufgeschrieben worden. Marie hatte fünfzehn Minuten gebraucht, um die Worte richtig zu Papier zu bringen. Jetzt, da Tristan sie las, stieß er einen kurzen Luftstoß aus, der wohl ein abgehacktes Lachen zu sein schien, drehte den Zettel um und vermerkte hier für seine Haushälterin Marta in klar lesbarer Schrift: Wasabi. Er hob den Kopf, blickte kurz nachdenklich aus dem Fenster in die anbrechende Nacht und schrieb weiter. Er brauchte dringend zwei Flaschen Champagner. Marta kannte den kleinen Laden, der seine Lieblingsmarke führte. Dann heftete Tristan den Zettel an den Kühlschrank, zog sich aus und ging ins Bad. Er musste sich etwas beeilen - in einer Stunde war er mit zwei Kollegen in der Skylounge verabredet.

    Gerade stieg der Mond wächsern hinter den fahlen Hochhäusern der City auf, als Tristan die Bar betrat. Eingerahmt von seinen zwei Freunden schritt er langsam an den tiefen Sitzkissen und den gedämpften Unterhaltungen vorbei. Sein dunkelbraunes Haar war noch feucht und hing ihm bis zu den Wangen ins Gesicht. Zum Rasieren hatte er keine Zeit mehr gehabt, so dass ein leichter Schatten in seinem Gesicht lag, der seinen blauen Augen einen feinen Kontrast bot. Hier in der lauen Brise der Stadt, die zum abendlichen Leben erwachte, gingen die drei Männer zu ihrem reservierten Tisch. Sie setzten sich. Marcus entledigte sich seines Jacketts und krempelte die Ärmel hoch, ganz so als mache er sich nun an den zweiten Teil seines Arbeitstages. Dabei bestellte er lediglich einen Gin Tonic. Der andere orderte einen Absinth.

    „Und für Sie, mein Herr?", fragte der klassisch gekleidete Ober.

    „Einen Rum Cola. Kubanischen Rum bitte."

    „Sehr wohl", sagte der indische Junge und drehte ab. Wie auf Schienen glitt er an weiteren Gästen vorbei und verschwand in Richtung Bar. Marcus begann sich mit dem anderen, Cirrus Baker, zu unterhalten. Cirrus arbeitete nicht in der City, Marcus kannte ihn noch aus der Schule. Er war freischaffender Künstler, hatte im Dachgeschoss eines alten Backsteingebäudes an der Carnaby Street sein Atelier und verdiente

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