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In eigenen Händen
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eBook361 Seiten4 Stunden

In eigenen Händen

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Über dieses E-Book

Es ist Herbst in der schwedischen Universitätsstadt Lund. Während die Apfelbäume Früchte tragen und die Astern und Ringelblumen blühen, wird in einer Schrebergartensiedlung ein Mann grausam ermordet. Angeblich war der Tote bei allen beliebt – ein engagierter Sozialarbeiter und echter Musterbürger. Doch Kommissarin Sara Vallén ist skeptisch. Warum musste er sterben? Je tiefer Sara und ihre Kollegen in die Vergangenheit des Toten eintauchen, desto mehr düstere Geheimnisse kommen ans Licht. Gleichzeitig hat Sara mit eigenen Problemen zu kämpfen. Der Prozess gegen ihren brutalen Ex-Partner zehrt an ihr und reißt alte Wunden auf. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum17. Nov. 2022
ISBN9788728263686
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    Buchvorschau

    In eigenen Händen - Cecilia Sahlström

    Cecilia Sahlström

    In eigenen Händen

    Aus dem Schwedischen übertragen von Alina Becker

    SAGA Egmont

    In eigenen Händen

    Übersezt von Alina Becker

    Titel der Originalausgabe: I egna händer

    Originalsprache: Schwedisch

    Copyright © 2018, 2022 Cecilia Sahlström und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788728263686

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    SAGA Egmont

    1

    „Endlich", flüsterte er.

    Endlich. Er küsste sie, drückte sie an sich und spürte, wie sich seine Wärme auf ihren Körper übertrug.

    Ihre Atmung beruhigte sich. Sein Duft, seine Lippen auf den ihren und sein ruhiger Herzschlag lösten ihre Angst und Verspannung. Große Hände strichen über ihr Haar.

    Überall auf dem Boden lagen ihre Kleider verstreut.

    Ihre nackten Körper bewegten sich in rhythmischem Einklang. Sie kam lange vor ihm zum Höhepunkt, und nachdem auch er gekommen war, war es an der Zeit, dass sie sich verabschieden mussten. Von Mal zu Mal wurde es schmerzhafter.

    Dann schlenderte sie durch die Straßen Hörbys nach Hause, ging den Slagtoftavägen entlang und bog nach rechts in die Storgatan ein. Die Nachtluft war erfrischend kühl, und die Sterne funkelten vom schwarzen Himmel herab. Sie kam am Autohaus Månsson vorbei, das um diese Uhrzeit natürlich wie ausgestorben wirkte, aber wie immer machte sie sich Sorgen, dass jemand sie sehen, ihr vielleicht sogar folgen könnte – dass jemand erfuhr, was sie getan hatte. Ein Gefühl des Unbehagens ergriff von ihr Besitz. Ein nicht unbekanntes Gefühl. Seit sie ihn kennengelernt hatte, den Mann ihrer Träume, war es ihr nächtlicher Begleiter, über all die Wochen, Monate hinweg. Sie ballte die Fäuste, kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Traute sich kaum zu atmen. Ihr Blick wanderte umher und suchte wie ein Scheinwerfer die Umgebung ab. Sie witterte Gefahr, war sich aber nicht sicher, wovon die Gefahr ausging. Und wovon nicht.

    Plötzlich hörte sie hinter sich ein knirschendes Geräusch. Wie von schweren Schritten auf Kiesboden. Ihr Herz begann zu rasen, und sie drehte sich so hastig um, dass ihr der lange geflochtene Zopf über den Rücken tanzte. Es war niemand zu sehen. Sie versuchte wiederholt, sich davon zu überzeugen, dass sie sich alles nur einbildete, blieb aber dennoch einen Moment stehen, um ihren Puls zu beruhigen und abzuwarten, dass das Rauschen in ihrem Kopf sich legte. Dann eilte sie leise weiter, vorbei an Sandahls Modehaus, über den Gamla torg, den Alten Platz, bis sie endlich ihr Zuhause erreicht hatte.

    Sie kroch ins Bett, von Liebe erfüllt, aber immer noch mit einem angstvollen Pochen in der Brust. Ihre Eltern schliefen, und das Schnarchen ihres Vaters drang bis in ihr Zimmer, obwohl sie die Tür hinter sich zugezogen hatte.

    2

    Tobias ging schnellen Schrittes hinaus auf den Parkplatz, öffnete die Autotür und zog den Kopf ein, um sich auf den Fahrersitz setzen zu können. Hinter sich hörte er ein Geräusch, aber ihm blieb keine Zeit, nachzusehen, was oder wer das sein könnte, denn schon klemmte irgendetwas seinen Kopf wie in einem Schraubstock ein. Er bekam keine Luft mehr, und ihm wurde schwindelig. Das Ding um seinen Hals war ein langer, kräftiger Arm. Vor Tobias’ Augen flackerte es, und ein Gedanke versuchte erfolglos, sich den Weg durch sein Gehirn zu bahnen.

    Tobias glaubte, wissen zu müssen, wer ihn da gefangen hielt, kam aber so schnell nicht darauf.

    Je mehr er sich bemühte, sich aus dem Griff zu befreien, desto fester packte der andere seinen Hals und desto weniger Luft drang in seine Lungen. Er versuchte, durch die Nase zu atmen und sich nicht von der Angst übermannen zu lassen. Tobias war selbst groß und kräftig, aber offensichtlich war der Mann, der ihn festhielt, noch größer. Schließlich blieb Tobias nichts anderes übrig, als sich zu entspannen, um atmen, seine Gedanken sortieren und schlussendlich handeln zu können.

    Auch der Mann hinter ihm holte tief Luft, und sein warmer Atem kitzelte Tobias im Nacken, während ein stechender Geruch nach Schweiß aufstieg, vermischt mit dem Aroma eines penetranten Herrenparfums.

    „Du wirst sie nie wieder sehen", zischte der Mann in Tobias’ rechtes Ohr.

    Sein Atem roch metallisch.

    Sie. Natürlich ging es um sie. Tobias versuchte zu antworten, brachte aber nichts heraus.

    „Ich warne dich nur ein einziges Mal."

    In Tobias’ Kopf rauschte und summte es. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf.

    „Sieh nicht hin", zischte die Stimme.

    Der Druck an Tobias’ Kehle ließ nach. Dann entfernten sich die dumpfen Schritte des Mannes immer weiter, aber Tobias wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren.

    Die Autotür stand noch offen, und sein Handy lag auf dem Sitz. Er wählte den Notruf, überlegte es sich dann aber anders, stieg stattdessen ins Auto, fuhr vom Parkplatz und bog nach links auf den Slagtoftavägen ab. Von dort aus fuhr er etwa einen Kilometer weit bis zur Auffahrt zur E22 und bog dann nach links in Richtung Lund ab. Plötzlich begannen seine Beine so stark zu zittern, dass er rechts ranfahren und am Straßenrand halten musste. Im selben Moment klingelte sein Handy.

    3

    Kommissarin Sara Vallén wachte langsam auf und tastete nach ihrem Handy. Sie atmete erleichtert auf, als sie auf dem Display sah, dass es erst acht Uhr war. Durch die Schlitze der Jalousien fielen die Sonnenstrahlen genau auf den Spiegel an der kurzen Seite des Raumes. Das ließ hoffen. Ein schöner Herbsttag, dachte Sara und streckte sich im Bett aus.

    Heute würde sie im Prozess gegen Peter Matsson aussagen. Die Verhandlung hatte mehrere Tage gedauert, und dies war der vorletzte. Morgen standen noch die Schlussplädoyers an, dann war alles vorbei, und Sara würde weitermachen können. An den anderen Tagen war es um all die Jahre gegangen, in denen Matsson seine Frau misshandelt hatte. Sara verspürte ehrliches Mitleid mit ihr, auch wenn es sie verärgerte, dass Linda Matsson das alles so lange mit sich hatte machen lassen. Nach so vielen Jahren bei der Polizei wusste Sara, wie schwierig es für Frauen sein konnte, sich aus gewalttätigen Beziehungen zu befreien. Der Prozess der Normalisierung war anstrengend. Sieh dich doch selbst an, dachte Sara und strich sich die kitzelnden Haare aus dem Gesicht.

    Sie schwang die Beine über die Bettkante, setzte sich auf und versuchte im wahrsten Sinne des Wortes, das Gefühl des Unbehagens abzuschütteln, das schwer auf ihren Schultern lastete. Der Angstknoten in ihrem Magen war allerdings nicht so einfach loszuwerden.

    Der Sommer lag noch nicht allzu weit zurück, aber für Sara fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Oder wie ein ganzes Leben. Sie würde diesen Sommer nie vergessen. Den wahrscheinlich schlimmsten, den sie je erlebt hatte. Dieser kummervolle Junge, der mehrere Morde begangen und sich dann erschossen hatte. Saras Sohn Johannes, der wegen eines Verbrechens verhaftet worden war, das er nicht begangen hatte. Und dann noch Peter Matsson, der Kollege, in den sie sich verliebt hatte, bevor er sich als Teufel hinter der heimtückischen Maske eines Charmeurs entpuppte. Aber die würde sie ihm heute herunterreißen.

    Allerdings hatte ihr dieser Sommer auch bewusst gemacht, wie fragil das Leben war und wie wichtig es war, zusammenzuhalten.

    Sara stieg unter die Dusche und entspannte sich unter dem fast brühendheißen Wasser. Sie betastete ihre Brüste, die ganz weich waren. Das hatte sie sich angewöhnt, seit sie angefangen hatte, zur Mammografie zu gehen. Also auch heute kein Brustkrebs, dachte sie, während sie das Wasser abstellte.

    Ihre Kleider hatte sie sich bereits zurechtgelegt, aber irgendwie war sie nicht zufrieden. Sie holte ein anderes Outfit aus dem Schrank. Nein, das war auch nicht ideal. Schließlich entschied sie sich für eine schwarze Jeans, ein weißes Oberteil und einen schwarzen Blazer. Sie nahm die Stiefel aus dem Schrank, die sie in Simrishamn gekauft hatte, und stellte sie in den Flur. „Na, sieh mal einer an", hatte Jonny Svensson gesagt, als sie damit auf der Arbeit erschienen war. Sara lächelte beim Gedanken daran. Sie hatte sich nicht umsonst in die schwarzen, mit leuchtenden Farben bestickten Stiefel verliebt.

    4

    Sara eilte die Kalendegatan entlang und betrat das Bezirksgericht Malmö. Sie winkte dem Rezeptionisten zu und nahm mehrere Stufen auf einmal die Treppe hinauf. Dort wartete die Anwältin Marit Ståhl auf sie.

    „Verdammte Stadt. Keine vernünftigen Parkplätze. Und jede Menge Wächter von Q-Park."

    „Tja, so ist das eben in den Städten. Gut, dass ich das Fahrrad nehmen kann. Haben Sie über Ihre Zeugenaussage nachgedacht?"

    „Ja, antwortete Sara. „Ich fasse es immer noch nicht, dass ich in diesen Typen verknallt war. Und dass ich trotz meiner jahrelangen Erfahrungen mit Gewaltverbrechen so verblendet war.

    „Nun ja, sagte die Anwältin mit einem freundlichen Lächeln. „Das ist nicht ungewöhnlich.

    „Nein, das stimmt, gab Sara zu und lachte bitter auf. „Aber es fällt mir trotzdem schwer, das zu akzeptieren. Immerhin habe ich die Zeichen schon nach kurzer Zeit erkannt. Und trotzdem.

    Sara verstummte. Der Sonderstaatsanwalt für Polizeiangelegenheiten, Stig Malmsten, trat im gleichen Moment in den Wartesaal wie Peter Matsson und dessen Verteidiger, und der Fall wurde aufgerufen. Sie alle betraten den Gerichtssaal und ließen sich auf den vorgesehenen Plätzen nieder. Die Staatsanwältin, Sara Vallén und Anwältin Marit Ståhl auf der einen Seite, Peter Matsson und sein Verteidiger auf der anderen.

    Sara wäre es lieber gewesen, Peter nicht ansehen zu müssen, aber sie zwang sich dazu und hielt seinem Blick stand, bis er sich abwandte.

    Obwohl es eiskalt im Saal war, glühten Saras Wangen. Sie erinnerte sich an die tröstenden Worte ihrer Freundin Rita Anker: So etwas passiert den Besten. Nicht dir sollte es peinlich sein, sondern ihm.

    Der Staatsanwalt trug seine Anklage vor, Matssons Anwalt seine Verteidigung. Dann sagten Rita Anker und Peter Matssons Kollegin Malva Gran aus. Anschließend der Gerichtsmediziner. Die Zeit kroch nur langsam voran. Als Sara von dem Verteidiger in die Mangel genommen wurde, konnte sie ihre Wut nur schwer zurückhalten.

    „Bestimmt haben Sie Peter Matsson provoziert", eröffnete der Verteidiger die Befragung und deutete auf den Angeklagten.

    „Wie meinen Sie das?"

    „Ich stelle hier die Fragen", blaffte der Verteidiger.

    „Ich kann nicht antworten, wenn ich Ihre Frage nicht verstehe", gab Sara mit grimmigem Blick zurück.

    „Ich formuliere meine Frage neu, sagte Matssons Anwalt und lehnte sich zurück. „Fällt es Ihnen schwer, Ihr Temperament zu zügeln?

    Sara starrte ihn an. „Schwer? Nein."

    „Aber Sie machen doch Judo, nicht wahr?"

    „Ja."

    „Und Sie haben Ihre Fähigkeiten in einem anderen Zusammenhang schon einmal gegen einen Mann eingesetzt?"

    „Ja. Gegen einen Mann, der mich angegriffen hat."

    „Also fällt es Ihnen schwer, sich zu kontrollieren? Immerhin haben Sie Peter Matsson misshandelt."

    „Was?"

    Der Richter drehte sich um und runzelte die Stirn. Die Staatsanwältin stand auf, wurde aber aufgefordert, sich wieder zu setzen.

    „Würde der Herr Verteidiger mir bitte sagen, worauf er hinauswill?", fragte der Richter.

    „Selbstverständlich. Peter Matsson weist Verletzungen auf, die auf Gewalteinwirkung hinweisen. Diese Verletzungen sollen ihm von der Klägerin Sara Vallén zugefügt worden sein. Hat Sara Vallén also Schwierigkeiten damit, sich unter Kontrolle zu halten? Das dürfte ja nun nicht das erste Mal sein."

    Sara traute ihren Ohren nicht.

    Die Staatsanwältin erhob sich erneut.

    „Was sollen das für Verletzungen sein, von denen wir noch nie etwas gehört haben?", fragte sie und rang die Hände.

    „Ja, von welchen Verletzungen sprechen Sie?", fragten Marit Ståhl und der Richter wie aus einem Mund.

    „Ich möchte einige Bilder als Beweismaterial vorlegen."

    Der Richter nickte und ließ sich vom Anwalt einen Stapel Fotos reichen. Auch an die Staatsanwältin und Marit Ståhl wurden Kopien ausgehändigt. Die Bilder waren mit einem Datum versehen – dem Datum, an dem auch Sara beim Arzt gewesen war, um ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen. Neben Peters rechtem Auge und an seinem rechten Schlüsselbein war jeweils eine Platzwunde zu erkennen sowie ein Bluterguss an seinem Kinn, nicht größer als eine Öremünze.

    Der Richter wirkte ausgesprochen unzufrieden.

    „Was soll das werden, Herr Verteidiger? Ich darf doch um ein Mindestmaß an Sinn und Verstand bitten. Die Zeugin muss die Frage nicht beantworten." Der letzte Satz des Richters war an Sara gerichtet.

    „Freie Beweisführung", widersprach der Anwalt und verzog das Gesicht, als wäre ihm übel.

    „Der Herr Verteidiger will offenbar suggerieren, dass das Gezeigte in einem angemessenen Verhältnis zu der Gewalt stünde, der Sara Vallén ausgesetzt war. Wie ich schon sagte, ein wenig Sinn und Verstand wäre wünschenswert."

    Der Anwalt erhob Einspruch gegen die Worte des Richters, erhielt aber keine Antwort und gab auf.

    Die Anhörung dauerte den ganzen Tag. Saras Anwältin plädierte auf Schmerzensgeld. Als Sara endlich den Gerichtssaal verlassen konnte, atmete sie erleichtert auf, und ein Teil der Anspannung fiel von ihr ab. Anwältin Ståhl tätschelte ihr sanft den Arm.

    „Es ist gut gelaufen", sagte sie.

    „Ja, aber das war verdammt anstrengend."

    „Das kann ich verstehen. Wir hören nach den Schlussplädoyers voneinander."

    Der Staatsanwalt hatte nicht einmal erwogen, Matsson wegen etwas anderem als schwerer Körperverletzung an Frauen anzuklagen, und sie alle waren davon überzeugt, dass es zu einer Verurteilung kommen würde, sowohl im Fall von Matssons Frau als auch in Saras Fall.

    Bevor Sara nach Hause fuhr, rief sie Rita an. „Bin nicht wirklich erleichtert. Fühle mich nur leer. Leer und traurig, aber danke, dass du da warst", sagte sie auf Ritas Frage, wie sie sich fühle.

    „Klar, das ist wahrscheinlich eine ganz normale Reaktion, erwiderte Rita. „Was passiert ist, ist passiert. Mehr können wir jetzt nicht mehr tun. Aber das war uns ja bewusst.

    „Stimmt. Aber das Wichtigste ist schon einmal, dass er mit hundertprozentiger Sicherheit nicht mehr bei der Polizei arbeiten wird. Und das ist gut. Dort hat er nämlich wirklich nichts verloren."

    5

    Sara war auf dem Weg nach draußen, um in der Stadt zu Mittag zu essen. Den ganzen Morgen über hatte das Telefon geklingelt. Sie musste sich beeilen. Als sie die Tür zufallen ließ und den ersten Schritt die Treppe hinunter tat, klingelte es schon wieder.

    „Hallo, hier ist Marit Ståhl."

    „Hallo."

    „Haben Sie eine Minute Zeit?"

    „Ja, natürlich. Wurde das Urteil gesprochen?"

    „Ja, er wurde zu einer Haftstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er dem Polizeidisziplinarausschuss PAN zufolge aus dem Dienst entlassen wird. Und Ihnen wird eine Entschädigung von fünfundzwanzigtausend Kronen zugesprochen."

    Sara schnaubte.

    „Ein Jahr und vier Monate. Das bekommt er dafür, dass er jahrelang seine Frau verprügelt hat? Und mich ebenfalls? Das ist nicht gerade ein Grund zur Freude."

    „So kann man es natürlich auch sehen, aber es ist immer noch eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass nicht alle Vorfälle genau geschildert und belegt werden konnten. Aber er wird aus dem Dienst entlassen und in Zukunft keinen Beruf mehr ausführen dürfen, in dem er mit Menschen zu tun hat."

    Sara wiederholte ihr Schnauben. „Natürlich. Aber trotzdem. Hat er überhaupt Geld? Welche Entschädigung hat Linda Matsson zugesprochen bekommen?"

    „Sie bekommt siebzigtausend Kronen."

    Sara hörte die Ablehnung in Marit Ståhls Stimme.

    „Siebzigtausend, das ist doch verrückt. Für so viele leidvolle Jahre."

    „Ich weiß."

    Sara fand, dass sich ihre Stimme wie eine alte knarrende Tür anhörte, und sie räusperte sich.

    „Tja, jetzt ist es sowieso vorbei. Es sei denn, er geht in Berufung."

    „Das bleibt abzuwarten."

    „Mich würde es jedenfalls nicht wundern."

    „Nein, mich auch nicht. Aber wenn es so wäre, glaube ich nicht, dass sich das Urteil verändern würde. Höchstens vielleicht verschärfen."

    „Wer weiß. Ich wünsche Ihnen alles Gute."

    „Ich Ihnen auch, Sara. Bis dann", beendete Marit Ståhl das Gespräch.

    Sara erreichte das La Cucina in der Hantverksgatan, betrat das Restaurant und setzte sich an einen Tisch am Fenster.

    Der Kellner brachte ihr die Speisekarte.

    „Hallo und herzlich willkommen. Was kann ich Ihnen bringen? Pasta all’Arrabiata?", fragte er mit einem Lächeln.

    „Genau. Wie immer, antwortete Sara. „Und Wasser mit Kohlensäure, bitte. Vielen Dank.

    Zurück im Büro setzte sie sich wieder an den Schreibtisch. Sie war mit einem ungelösten Fall beschäftigt, an dem sie sich schon seit Ewigkeiten die Zähne ausbissen. Aber immerhin ging es im Schneckentempo voran.

    Um halb fünf beschloss Sara, Feierabend zu machen. Sie steckte schon mit einem Arm im Jackenärmel, als ihr Handy klingelte. Eine interne Nummer.

    „Nicht schon wieder, murmelte sie, nahm den Anruf aber dennoch an. „Sara Vallén, gerade auf dem Heimweg.

    „Hallo Sara, hier ist die Bezirkswache. Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, aber ein älteres Ehepaar hat in der Kleingartenkolonie Västra Sommarstaden einen Toten gefunden. Sie sollten sich darum kümmern. Ich habe bereits eine Streife auf den Weg geschickt und die Spurensicherung benachrichtigt. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie da sind."

    „Ich kümmere mich darum", antwortete Sara mit einem Seufzer und beendete das Gespräch, während sie auf den Korridor hinausging und ihre Kollegen zu sich rief. Rita steckte den Kopf durch ihre Bürotür.

    „Toter Kerl im Schrebergarten", erklärte Sara kurz angebunden.

    Am Rand des Maskinvägens und auf einer kleinen Straße, die zu einer Grundschule hinaufführte, parkten mehrere Streifenwagen. Das Tor der Kleingartenanlage stand offen. Der Weg wurde durch einen Rettungswagen blockiert, und neben der entsprechenden Hütte wartete ein Polizeiauto. Das Blaulicht zuckte in den allmählich dunkler werdenden Himmel, und vor den Absperrungen hatten sich einige Schaulustige versammelt. Sara und Rita hoben das blau-weiße Flatterband an und betraten den herbstlichen Garten. In den Apfelbäumen hingen die reifen Früchte, und in den Beeten wuchsen Astern und Ringelblumen. Ein älteres Ehepaar stand auf dem Kiesweg nicht weit von der Hütte entfernt, eingewickelt in die hellblauen Decken der Notfallteams.

    „Hallo, sagte Sara, trat forschen Schrittes auf das Ehepaar zu und streckte die Hand aus. „Mein Name ist Sara Vallén. Ich bin Kriminalkommissarin und leite die Ermittlungen. Das ist Inspektorin Rita Anker. Sara zeigte auf ihre große, blonde und kräftige Kollegin, die ihr direkt auf den Fersen war.

    „Roland Bruhn", stellte sich der Mann fast tonlos vor.

    „Anja Bruhn, sagte seine Frau. Beim Nachnamen brach ihre Stimme. „Wir wissen gar nicht, was los ist. Wer würde denn so etwas tun?

    „Das wissen wir auch noch nicht, antwortete Sara, während sie den dünnen Unterarm der Frau tätschelte, der unter der Decke hervorlugte. „Ich denke, Sie sollten mit dem Rettungswagen fahren. Dann sind Sie im Warmen und werden gut betreut. Wir reden dann später, das ist schon in Ordnung. Sie nickte in Richtung des Fahrzeugs.

    „Aber wir wollen nicht im selben Krankenwagen fahren wie der Tote", wandte Anja Bruhn mit zitterndem Kinn ein. Sie biss die Zähne zusammen, um dem Beben entgegenzuwirken.

    „Machen Sie sich da keine Sorgen, beruhigte Sara die Frau. „Er braucht keinen Rettungswagen mehr. Der Tote wird in einem anderen Wagen abtransportiert.

    Anja Bruhns Mann verzog das Gesicht, und er fasste sich an die Brust. Einen Moment lang befürchtete Sara, er würde einen Herzinfarkt bekommen.

    „Wir brauchen hier einen Sanitäter", rief sie in Richtung des Rettungsteams, und einen Augenblick später kam eine Kollegin herbeigelaufen. Sara nickte in Roland Bruhns Richtung, und die Sanitäterin verfrachtete ihn gegen seinen Protest in den Krankenwagen. Anja Bruhn blieb stehen und schaute sich verwirrt um.

    „Ich bin mir sicher, dass alles in Ordnung ist, aber jetzt sollten wir zum Rettungswagen gehen, damit Sie beide mitfahren können. Das ist wirklich das Beste. Kommen Sie mit mir."

    Ritas Ton war entschlossen, aber freundlich, und die Frau gab nach. Sara hingegen machte sich auf den Weg zum Schrebergartenhaus, an dessen Tür sie auf den Arzt traf.

    „Verdammt. Er schnitt eine Grimasse. „Der Tote hat unzählige Stichwunden am ganzen Körper, da muss eine irrsinnige Wut im Spiel gewesen sein. Und man hat ihm die Fingernägel ausgerissen, er wurde also gefoltert. Die Spurensicherung ist schon da, und die Leiche geht direkt in die Gerichtsmedizin.

    Er verzog wieder das Gesicht, nickte ihr zu und ging weiter. Sara beobachtete, wie er ihre Kollegin begrüßte, und grinste. Als der Arzt mit ihr gesprochen hatte, musste er einen Buckel machen, um sich zu ihr herunterzubeugen. Jetzt, im Gespräch mit Rita, stand er so steif da, als hätte er einen Besen verschluckt.

    Einen Augenblick später gesellte sich Rita zu Sara, putzte ihre Schuhe auf der Fußmatte ab und legte Sara die Hand auf den Rücken, bevor sie die Hütte betraten.

    Der Mann lag mitten auf dem Boden. Sara zuckte zusammen. Scheiße, dachte sie. Der Arzt hatte Recht gehabt. Der Typ war gefoltert worden.

    „Oh, verflucht. Was ist das?", rief Rita in ihrem derben Värmländisch aus.

    Ove Ovesson, der leitende Kriminaltechniker, drehte sich um. Er stand über die Leiche gebeugt und stocherte in etwas herum, das nach Fingernägeln aussah. „Tja, ihm wurde die Kehle durchgeschnitten. Und vorher hat der Mörder ihn gefoltert. Er hat Brandmale im Gesicht, und seine Nägel wurden herausgerissen. Mal sehen, was der Gerichtsmediziner zu den Genitalien sagt. Auf jeden Fall ist da Blut an der Hose."

    6

    Polizeichefin Beatrice Larsson saß auf der Kante ihres Schreibtisches und ließ den Blick über Sara und die vier Kollegen schweifen, die Sara vorschriftsgemäß einberufen hatte. Larsson trommelte mit zwei Fingern gegen ihre linke Schläfe. Von ihrem Haaransatz löste sich eine Schweißperle.

    „Das Opfer wurde noch nicht identifiziert, aber wir haben die Liste vermisster Personen durchsucht und sind zu einem möglichen Ergebnis gekommen: Ein Tobias Klingström wurde gestern als vermisst gemeldet, ist aber wahrscheinlich schon seit ein paar Tagen verschwunden. Die Beschreibung stimmt mit dem Toten überein, aber leider müssen wir noch die Eltern oder einen Elternteil bitten, ihn zu identifizieren. Das wird unschön werden. Sara?"

    „Ja,

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