Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die erste Liebe
Die erste Liebe
Die erste Liebe
eBook317 Seiten4 Stunden

Die erste Liebe

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es werden verschiedene Paare in ihren Beziehungsentwicklungen vorgestellt, die positiv oder negativ ausgehen können. Es kommt auch zu dramatischen Szenen. Die einzelnen Kapitel sollen das reale Leben widerspiegeln. Eine der Geschichten führt uns auch zurück zum 19. Jahrhundert.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Dez. 2017
ISBN9783742763327
Die erste Liebe

Ähnlich wie Die erste Liebe

Ähnliche E-Books

Zeitgenössische Romantik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die erste Liebe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die erste Liebe - Joachim Strecker

    Hannes und Lilien

    Lilien stand mit einigen Mädchen aus ihrer Grundschule auf dem Hof des Gymnasiums, in das sie eingeschult werden sollten. Die Mädchen beobachteten die ihnen unbekannten Mitschüler und tauschten ihre Beobachtungen aus. Ein wenig Beklemmung erfasste die meisten von ihnen, und so war es nur gut, sich im vertrauten Kreis aufzuhalten.

    Einige hatten bereits abgesprochen, wer neben wem sitzen wollte. Zwei von ihnen sprachen sich auch mit Jungen ihrer ehemaligen Klasse ab, vorsichtshalber für den Fall, dass die sie nun übernehmende Lehrkraft darauf bestehen würde, es sollte stets ein Junge neben einem Mädchen sitzen. Die meisten fanden das zwar blöd, hätten dagegen aber wohl wissend nichts ausrichten können. Für einige Lehrer schien das nämlich der einzig richtige Weg in der modernen Zeit zu sein. Was vermochten sie als junge Menschen schon dagegen auszurichten, hätten sich lediglich vom Schwall der Begründungen abwenden können, um dennoch insgeheim zähneknirschend an ihrem eigenen Wunsch festzuhalten.

    Lehrer waren wortgewandter und ihnen in ihrer geistigen Schulung und Kapazität überlegen, was aber – und das fühlten sie tief im Inneren – noch lange nicht bedeutete, stets die richtige Ansicht auf ihrer Seite zu haben.

    Die Heranwachsenden standen eben als kleines Licht in einer Welt der Erwachsenen, durch die sie schon manch Gutes, aber auch einiges Unangenehme erfahren hatten.

    Es hieß eben abzuwarten, bis die eigene Person herangewachsen war und der Widerstand mit treffenden Argumenten eher Erfolg versprechend vorgetragen werden konnte.

    Einige Klassenkameraden hatten es bei ihren älteren Geschwistern bereits mit Genugtuung erlebt.

    Wen gegenwärtig diese Gedanken bewegten, der wurde augenblicklich abgelenkt und richtete seine Aufmerksamkeit dem etwa fünfzigjährigen Mann zu, der sich als ihr neuer Klassenlehrer vorstellte.

    Lilien verzog den Mund. Sie hing noch sehr an ihrer ehemaligen jungen Grundschullehrerin, mit der sie ein prima Auskommen gehabt hatte, deren gute Laune ansteckte und die stets wohlwollend den ihr anvertrauten Schülern begegnet war.

    Es würde auf der neuen Schule nun anders werden, das hatte ihr die große Schwester Kristina wiederholt sehr deutlich mitgeteilt. Dennoch hoffte Lilien im Stillen, der Übergang würde nicht so abrupt vor sich gehen.

    Lilien wusste, dass sie wohl ihren Vater und ebenso den Großvater ins Herz geschlossen hatte, gegenüber fremden Männern aber strikt Distanz bewahrte. Sie konnte ihrer sechszehnjährigen Schwester nur zustimmen, wenn die äußerte: „Männer haben häufig eine raue Note in ihrer Ausstrahlung, und das Lächeln scheint ihnen schwerer als Frauen zu fallen."

    Was Kristina allerdings hinzufügte: „Aber wer sie näher kennenlernt, der entdeckt durchaus auch nette Seiten", diese Erfahrung besaß Lilien einfach noch zu wenig.

    Anna-Lena stupste Lilien in die Seite und sagte: „Träum nicht, es geht rein. Wir wollen beim Betreten der Klasse nicht die Letzten sein, um mit dem Vorlieb nehmen zu müssen, was übrig bleibt."

    Lilien beeilte sich, der Freundin zu folgen und dachte dabei: „Eins aber weiß ich bereits: „Männer sind in der Regel großzügiger als Frauen und seltener verbissen. Und das heißt wohl gegenwärtig für mich, es wird kein Zwang ausgeübt werden, dass ich neben einem Jungen sitzen muss. Durchaus sehr wichtig!"

    Mit neugierigen Blicken betraten die Kinder den ihnen zugewiesenen Klassenraum. „Wie kahl und nüchtern!", stieß Anna-Lena neben ihr aus. Anfänglich noch mit anderen Gedanken beschäftig, schaute auch Lilien jetzt in ihr neues schulisches Zuhause. In der Tat, die Freundin hatte recht. Man sollte schleunigst wieder zur ehemaligen Schule zurückkehren.

    „Komm!", rief Anna-Lena und stürmte auf einen Tisch in der Mitte der linken Reihe zu. Fast hätte es dabei noch eine Rangelei mit zwei anderen Schülerinnen gegeben. Aber die Freundin setzte sich durch. Burschikos, nicht ohne einen leichten Schubs, hatte sie als Erste auf dem Stuhl Platz genommen. Mit schnellem Überblick machte sie dabei einen weiteren Tisch aus und wies die beiden ihnen noch unbekannten Mitschülerinnen darauf hin. So kam es zum Glück bei der Platzsuche nicht gleich zum Streit.

    Der Klassenlehrer, Herr Boje, überließ den Fünftklässlern das Belegen der Sitzplätze und schien ein wenig amüsiert zuzuschauen.

    Sicher gehörte es zu seinem pädagogischen Grundsatz: Die Schüler sollten die altersgemäß zu erledigenden Dinge selbstständig regeln.

    *

    Ein Jahr war auf dem Gymnasium für Lilien vergangen. Man kannte sich mittlerweile, und es hatten sich einige neue Freundschaften ergeben. Das galt aber nicht für Lilien. Sie hielt lange an „Bewährtem fest. Ganz anders stand es um Anna-Lena. Die war bereits wiederholt zu Geburtstagen eingeladen worden und verbrachte manchmal ihre Hofpause mit lebhafter Unterhaltung auch zwischen ehemals fremden Jungen. „Das wäre nichts für mich, sagte sich Lilien.

    Ihre Zurückgezogenheit fiel auf und hatte mitunter kleinere Sticheleien zur Folge. Doch Lilien war selbstbewusst, und wollte man ihr zu nahe treten, vermochte sie sich energisch zu wehren. Das verschaffte ihr mit der Zeit Respekt und Anerkennung.

    Ein Mitschüler hatte ihr anfangs beistehen wollen, doch Lilien erklärte: „Danke für deine Unterstützung gegenüber diesen ‚Kameraden’, aber das schaffe ich schon alleine."

    Der Klassenlehrer machte sich seine Gedanken über die einzelnen Schüler und urteilte über Lilien: „Eine sensible und zurückhaltende, gegebenenfalls jedoch auch energisch handelnde Person. Vom Äußeren ein zierliches Mädchen, das sich aber nicht unterkriegen lässt. Sofern ich es gestehen darf: Dieses Mädchen hätte mich in jungen Jahren einfangen können."

    Zum Ende der sechsten Klasse warfen einige Mitschülerinnen verstärkt Blicke auf die Vertreter des anderen Geschlechts. Teils auf Jungen der eigenen Klasse, teils auf Schüler ein oder zwei Jahrgangsstufen über ihnen.

    Lilien stand noch nicht der Sinn nach einer solchen Freundschaft, obwohl sich zwei Jungen für sie interessierten. Aus Frühreife, die die gegenwärtige Zeit nicht selten mit sich brachte, resultierte nach ihrer konsequenten Ablehnung die Bemerkung: „Die will wohl immer eine Jungfrau bleiben."

    Dieser unpassende Hinweis schreckte Lilien gänzlich, ab und sie verschloss sich hinfort allen pubertären Avancen sehr ernsthaft.

    Lilien hörte von ihrer Schwester Kristina, dass ein Ball der gymnasialen Oberstufe stattfand, zu dem der Vater seine Tochter hinfahren wollte. Spontan äußerte Lilien: „Da begleite ich euch. Es interessiert mich, ob die dort erscheinenden Jungen ebenfalls so flapsig sind, wie ich sie aus der Mittelstufe kenne."

    „Bitte gerne, erwiderte die große Schwester, „mich dünkt, in unserer Kleinen keimt eine besondere Neugier.

    „Ganz und gar nicht, wehrte Lilien ab, „ es handelt sich lediglich um eine ganz neutrale Orientierung. „Das redet man sich in deinem Alter gerne selber ein, ist mir nicht unbekannt", bemerkte die ältere. Rücksichtsvoll wechselte die Schwester aber schnell das Thema, zumal sie bemerkte, wie Lilien leicht errötete.

    Mit Sinn für die Ausgestaltung eines Festes bat Lilien bei der Ankunft, einen Blick in den Saal werfen zu dürfen. Das gestattete man ihr ganz selbstverständlich. Sie blickte sich sehr intensiv um und unterbreitete Verbesserungsvorschläge.

    Die Primaner hingegen schaute sie sich lediglich bei ihrem Rückweg zu Vaters Wagen an und dann eine zeitlang aus dem Auto heraus, bis der Herr Papa meinte: „Hat die junge Dame nun genug gesehen? „Du kannst fahren, erwiderte Lilien, „zudem glaube ich, für mich ist nichts dabei. „Das will ich doch stark hoffen, meinte Herr Danzer. Worauf Lilien mutig erwiderte: „Du verstehst mich nicht. Mir geht es lediglich um den Typ."

    Vater und Tochter schwiegen sich auf der Rückfahrt aus. Als Lilien nach der Heimkehr die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, rief ihr der Papa noch nach: „Abholen werde ich Sybille allein. Du solltest dann schon schlafen."

    „Natürlich", erwiderte Lilien ohne Groll. Zum Nachtschwärmen tendierte sie in diesem Alter so gar nicht.

    *

    Lilien war nun selbst zur Primanerin geworden, und wie es zu ihrer Jugendzeit öfters passierte, wurde bei dem einen oder anderen Mitschüler eine Party veranstaltet, zu der Lilien hin und wieder eine Einladung erhielt. „Soll ich zusagen oder nicht?", fragte sie sich manchmal zweifelnd, entschied aber, sich von diesen Festlichkeiten nicht gänzlich fernzuhalten.

    „Ich muss mich auskennen, sollte nicht naiv unwissend bleiben, was da so abgeht", dachte Lilien und wurde natürlich auch enttäuscht. Aber das hatte sie einkalkuliert. Da diese Partys im Rahmen zumindest größtenteils bekannter Personen stattfanden, in der Regel in von den Eltern zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten eines Einzelhauses, durfte sie sich hinsichtlich der eigenen Sicherheit eigentlich nicht gefährdet sehen.

    Ihre Teilnahme sollte anfänglich sehr bewusst auch dazu dienen, sich selbst in ihren individuellen Wünschen auszuloten und nach den gewonnenen Erfahrungen hinfort bei einer Zusage sehr bewusst nur den eigenen Grundsätzen zu folgen.

    Lilien sagte sich bei dieser Sondierung: „Da gibt es ja notfalls eine Tür fürs Fortgehen", und ihr Sicherheitsgefühl geriet nicht ins Wanken.

    Dann aber kam es einmal doch zu einer brenzligen Situation. Es war spät geworden auf dieser Feier. Lilien hatte längst aufbrechen wollen, doch ein interessantes Gespräch mir einer etwas älteren Schülerin des letzten Abiturjahrgangs hatte sie festgehalten, und ehe sich Lilien versah, schlug die Standuhr eine Stunde nach Mitternacht. „Oh!", entfuhr es ihr und sie blickte um sich.

    Im nunmehr eingeschalteten Dämmerlicht hatten sich die verbliebenen männlichen Jugendlichen teilweise mit ihren Mädchen in halbdunkle Ecken zurückgezogen und nahmen sich der Damen recht intensiv an.

    „Hier muss ich raus!, entschied Lilien umgehend und sprang auf. „Bleib doch!, vernahm sie ihre Gesprächspartnerin, die überraschenderweise Gefallen an dem Geschehen zu erkennen gab und sich suchend nach einem ihr zusagenden Jungen umsah.

    Lilien war leicht geschockt, gerade weil sie die junge Frau anders eingeschätzt hatte. Als sie sich davonmachte, rief ihr die Susi nach: „Jetzt kommt doch das Schönste."

    Der Klang dieser Worte hallte in Lilien fort und sie musste sich sagen: „Es lag nichts Unmoralisches in der Stimme, auch keine abstoßende Gier, sondern geradezu angenehme Sehnsucht. Seltsam. Lilien fragte sich später: „Bin ich noch zu unreif und daher unempfänglich für dieses Zueinanderfinden? Sie entschied: „Das müssen mich spätere Jahre lehren. Auch sollte ich den individuellen Hintergrund der mir weitestgehend unbekannten jungen Frau kennen, um speziell über sie ein zutreffendes Urteil abgeben zu können.

    Momentan aber bin ich auf der Flucht und daran wird festgehalten."

    Lilien hatte mit den Eltern verabredet, ihr Fortgehen von der Veranstaltung über Mobilfunk mitzuteilen, damit der Vater sie an diesem Sonnabendabend mit dem Auto abholte.

    Aber oh Schreck, das Handy befand sich nicht am üblichen Ort.

    Lilien durchsuchte alle Taschen, jedoch erfolglos. Die junge Frau blieb dennoch gefasst. An Selbstvertrauen und Mut mangelte es ihr nicht und daher überlegte sie, wie am besten aus dieser Situation herauszukommen sei.

    Es würde sich um einen 5 Kilometer langen Fußweg durch die Nacht handeln, der im Dauerlauf in etwa zwanzig Minuten zu bewältigen war. Aber sollte sie das riskieren? In diesem Vorort tauchte nur hin und wieder ein Auto auf, und welche Gefahr aus einem unbekannten Fahrzeug drohen konnte, wurde ihr erst kürzlich im Fernsehen verdeutlicht. Sicherheit verhieß in dieser Hinsicht auch ein gesichtetes Pärchen nicht.

    Was also tun? Eine Buslinie verkehrte auf der angrenzenden Straße. Ob es da am Wochenende eine Nachtbedienung gab? Doch alleine an einer Haltestelle zu warten, gab sicher einen bedenklich sichtbaren Blickfang ab.

    Lilien überlegte: „Soll ich hier am Haus warten, bis ein anderes Mädchen abgeholt wird oder mit eigenem Auto zur Heimfahrt aufbricht?"

    Beschloss aber, sich diese Blöße nicht zu geben.

    Auch sagte sie sich: „Vielleicht knutscht das Pärchen weiter ungestört im irgendwo geparkten Wagen. Im ‚günstigsten Falle’ dürfte ich dann zusehen oder würde unter Umständen sogar zum Mitmachen aufgefordert. Nein, danke."

    So lenkte Lilien rein mechanisch ihre Schritte zur Bushaltestelle. Bald überlegte sie: „Das ist auch die Strecke zum Elternhaus, vielleicht begegne ich Vater, der sorgenvoll nach Gutdünken aufbricht, um die ‚überfällige Tochter’ endlich heimzuholen."

    „Wie unangenehm kann doch die Nacht sein", dachte Lilien fröstelnd auf der Bank der Haltestelle. Da hielt ein Wagen. Der Fahrer ließ das Seitenfenster herunter und rief: „Hat man Sie vergessen? Es verkehrt kein Bus mehr, der Fahrplan ist geändert worden. Jetzt in der Dunkelheit sind die neuen Abfahrtzeiten nicht zu lesen.

    Steigen Sie ein, ich bringe Sie zügig nach Hause."

    Die Primanerin war für solch eine ungebetene Ansprache psychologisch geschult worden und wusste, wenn man zumindest eine notdürftige Schutzwand um sich aufbauen wollte, dann dadurch, dass jede eigene Reaktion unterblieb. Es durfte keinen Anknüpfungspunkt geben, sondern alles musste an dem Adressaten abprallen. Das verunsicherte den anderen und schuf die Chance, eine mögliche Zudringlichkeit abzuwehren.

    Die Stimme des fremden Herrn klang sympathisch, aber was besagte das schon? Raffiniert maskiert vermag sich das Böse zu nähern.

    Es schien sich jedoch um ein ehrliches Angebot zu handeln, denn das Fenster wurde wieder geschlossen und der Wagen fuhr fort.

    „Hätte wohl eine gute Gelegenheit abgegeben, dachte Lilien. „Aber, so setzte sie ihre Überlegungen fort, „wenn auch von vornherein nichts Verwerfliches geplant sein dürfte, es könnte sich dennoch ergeben. Man sagt: Ich sei eine attraktive junge Frau und meine lebendige Nähe mit dem Duft des Parfüms … Führe uns nicht in Versuchung. Da bleibe ich lieber auf der sicheren Seite."

    Ein Junge aus der Partygesellschaft tauchte aus der Dunkelheit auf.

    „Hallo Lilien!, hieß es, „du wohnst doch nicht weit von uns, gehen wir gemeinsam nach Hause.

    Der junge Mann stammte nicht aus der eigenen Klasse und Lilien hatte ihn in inniger Umarmung mit Joy gesehen. So antwortete sie denn sogleich: „Mein Vater holt mich hier ab. „Na denn, hieß es und schon hatte die Nacht den Tobias verschluckt.

    „Wieder nichts, dachte Lilien durchaus auch ein wenig im Selbstvorwurf. Eine Viertelstunde verstrich, Autoscheinwerfer näherten sich und bald schon verloren sich die Rückleuchten in der Ferne. „Ich werde hier noch Wurzeln schlagen, dachte Lilien und der Gedanke an die sicher sehr beunruhigten Eltern quälte sie. Dann stieg unvermittelt Zorn in Lilien auf, und sie rief in die Finsternis: „Rührt sich denn kein Instinkt bei euch? Es liegt doch nahe, dass irgendetwas nicht stimmt. Da kommt man und schaut nach, ihr Eltern! Euer Verhalten ist erbärmlich, ich bin enttäuscht."

    Ein fremder Wagen hielt. Und diesmal stieg der Fahrer gleich aus. Lilien, noch in ihrer Wut befangen, bemerkte den Unbekannten erst, als er unmittelbar vor ihr stand.

    Sie sprang auf, schüttelte die Berührung ab und spurtete davon.

    Der fremde, etwas beleibte Mann schätzte seine „Chancen" richtig ein und folgte dem sportlichen Mädchen nicht mit eigenem Lauf. Aber es stand ihm das Auto zur Verfügung. Bald befand er sich damit parallel zu Lilien und schätzte die Möglichkeit ab, durch einen plötzlichen Schwenk dem Mädchen den Weg abzuschneiden. Oder sollte er abwarten, bis die Davonstrebende erschöpft innehielt und sich dann leicht in ihr Schicksal ergeben würde?

    Diese Gefahr war Lilien wohl bewusst.

    Auf der linken Seite der Straße lagen Felder, ein verborgenes und finsteres Terrain, das nicht dazu einlud, dorthin zu fliehen. Zur rechten standen hin und wieder Einzelhäuser. Lilien schaute mit gehetztem Blick, wo zu dieser späten Stunde noch Licht brannte, um dort Sturm zu klingeln.

    Endlich hatte sie ein Gebäude entdeckt, eilte durch die Eingangspforte und drückte den Klingelknopf.

    Das Auto mit dem wohl als Unhold einzuschätzenden Menschen hielt in knapp zwanzig Meter Entfernung, und der furchterregende Mann wartete ab, was sich tun würde. Sein rückwärtiges Nummernschild hatte er inzwischen abgedeckt.

    In dem Haus regte sich nichts, allem Anschein nach hatten die Bewohner lediglich zur Abschreckung gegenüber Einbrechern im Inneren die Lampen eingeschaltet. Da die Bewegungsmelder den Vorplatz hell erleuchteten, war das sich an die Tür pressende Mädchen von der Straße her deutlich zu erkennen.

    Langsam setzte der Wagen nun rückwärts auf den Eingang zu. Lilien erkannte ihre bedrohliche Lage.

    Sie blickte um sich und entdeckte einen um das Grundstück installierten hohen Zaun, bei dem oben Stacheldraht verlief. War sie in eine Falle geraten?

    Im Gespräch von Frau zu Frau hatte eine Verwandte ihr einmal gesagt: „Beschädigst du einem Mann sein geschätztes Spielzeug, das Auto, dann hat er in der Regel durch den ausgelösten, tief sitzenden Schmerz für einen Moment nur Sinn für das geliebte Fahrzeug. Da ergibt sich im Bedarfsfall unter Umständen die Möglichkeit zu entkommen." In Liliens Kopf arbeitete es. Sie suchte den rettenden Ausweg. Da fiel ihr Blick auf die rundlichen, weißen Steine, die wie eine Perlenschnur die Rabatten zierten.

    Kurz entschlossen bückte sie sich und warf den größten von ihnen gegen das Heck des parkenden Wagens. Mit einen zweiten, kleineren, bedachte sie den erschreckten Fremden und traf ihn am Kopf. Ach, können Männer wehleidig sein! Und Lilien ergriff die sich bietende Gelegenheit zur Flucht. Diesmal zurück zum Ort des geselligen Zusammenseins.

    Nun hatte sie keine Hemmungen, auch einen gerade im Flur aufbruchbereiten Gast um sein Handy zu bitten. Die Mutter nahm ab, doch bevor Lilien zu sprechen begann, hörte sie die Stimme ihres Vaters aus dem Wohnzimmer. Sie übergab hastig das Mobilfunkgerät, eilte zu dem seinerzeit fluchtartig verlassenen Raum und umklammerte die so vertraute Person, die während ihrer gerade überstandenen Odyssee vergeblich herbeigewünscht worden war.

    Welche Erklärung gab es für dieses unvermutete Zusammentreffen?

    Auf Mutters Drängen war der Vater schließlich ohne den abgesprochnen vorherigen Telefonkontakt verdrießlich losgefahren.

    Es war ein Glücksumstand, dass Herr Danzer von Liliens Verlassen der Party nichts erfahren hatte. Die daraus für seine Fahrtüchtigkeit resultierende Gefahr blieb deshalb außen vor. Zum Vorteil gereichte paradoxerweise, dass die Telefonnummer der die Party ausrichtende Familie nicht im Telefonbuch verzeichnet war. Zugute kam ihnen auch, dass der Vater mit seiner sportlichen Tochter Schlagballwerfen trainiert hatte.

    Lilien bemerkte in den unteren Klassen ärgerlich, wie ungeschickt sich Mädchen beim Werfen anstellten. Das gefiel ihr gar nicht, zumal beim Laufen manch eine Mitschülerin der Grundschule den Jungen durchaus davonzurennen vermochte.

    „Wie kommt das?, fragte sie damals ihren Vater. Und der erklärte: „Die weibliche Anatomie ist anders angelegt. Die Muskelstränge der Arme nehmen einen besonderen, geschlechtsspezifischen Verlauf.

    „Hmm, entgegnete Lilien, „und lässt sich da nicht nachhelfen? Wir sind doch auf manch einem Gebiet unleugbar geschickter und fixer als ihr teilweise weniger wendigen Männer.

    „Mit geeignetem Training kannst du dich verbessern, antwortete der Vater und schlug vor: „Lass uns am Wochenende damit anfangen. Und Lilien machte Fortschritte. Schon bald verfehlte kein Ball mehr die beabsichtigte Richtung, geschweige denn, dass er wie bei Mitschülerinnen beobachtet gar nach hinten flog.

    Diese Übungen kamen der Tochter in ihrer Ausnahmesituation nun zu Hilfe. Von Nachteil allerdings war, dass Herr Danzer einen anderen Weg als auf der Hinfahrt benutzte, so dass er nicht als rettender Engel bei seiner bedrohten Tochter auftauchen konnte.

    Aber immerhin fanden sie sich und Lilien blieb unversehrt.

    Übrigens Nachforschungen hinsichtlich des Unholds blieben ergebnislos. Lilien jedoch hatte das Geschehen einen Schock versetzt. Sie mied lange Zeit Partys und meinte zu ihrer Mutter: „Ich werde mich von dem männlichen Geschlecht zurückziehen. So schnell kriegt mich keiner." Was die Eltern teils begrüßten, ihnen aber auch zu denken gab.

    Doch Lilien besaß eine robuste seelische Konstitution. Der Wunsch, erst vollständig heranzuwachsen und in punkto Zweisamkeit noch einige Jahre abzuwarten, war bereits in ihrer Natur angelegt und wurde als persönliche Ausrichtung durch das besondere Erlebnis lediglich begrenzt verstärkt.

    *

    Lilien verließ als Abiturientin die Schule. Zahlreiche Mitschüler nahmen ein Studium auf, doch dafür vermochte sich die junge Frau nicht zu erwärmen, obwohl befreundete Klassenkameraden sie gerne überredet hätten.

    „Nein, sagte sie auch zu ihren Eltern, „das ist mir zu intellektuell. Ich möchte mit mehr Konkretem zu tun haben, und dabei sollte die Begegnung mit anderen Menschen nicht zu kurz kommen.

    Worauf der Vater vorschlug: „Wie wäre es mit der Im- und Exportfirma, in der ich tätig bin? Du musst nicht befürchten, dort stets unter väterlicher Aufsicht zu stehen. Durch meine leitende Stellung könnte ich dir hingegen im Bedarfsfall vielleicht einmal behilflich sein. Der raue Wind, der mitunter in der Geschäftswelt weht, dürfte dich damit nicht schonungslos treffen. Wie ich meine Tochter kenne, besitzt sie eine sensible Seite, durch die sie bei Auseinandersetzungen besonders belastet werden dürfte."

    Lilien sah ihren Vater an, überlegte kurz und meinte dann: „Ich bleibe aber nicht für immer nur die Tochter? „In gewisser Hinsicht hoffentlich schon, aber deine Persönlichkeit soll sich frei entfalten, entgegnete der Vater.

    „Gib mir Bedenkzeit", bat Lilien.

    Am übernächsten Tag lautete die Antwort: „Einverstanden."

    Der Einstieg in Vaters Firma brachte – zumindest fürs Erste – durchaus die erwarteten Vorteile mit sich. Die Angestellten hielten sich bei eigener unguter Gemütsverfassung in ihrem aggressiven Verhalten gegenüber der Tochter des Vorgesetzten zurück.

    Und es gelang der Auszubildenden trotz der gewahrten Distanz, sich mit sympathischen Mitarbeitern anzufreunden, ohne dass es jedoch zu einem betont vertrauten Kontakt kam. Was Lilien ihrer Natur nach nur recht sein konnte. Denn sie selbst hielt grundsätzlich gerne Abstand und beschränkte die emotionale Nähe sehr bewusst auf die Familie und ihre einzige wirkliche Freundin, Anna-Lena.

    Einen Gewinn bewirkte Vaters Gegenwart gerade in Bezug auf die männlichen Betriebsangehörigen. Sie hielten sich in Äußerungen und Avancen sehr zurück, so dass sich eine heranwachsende junge Frau, jedenfalls in den Firmenräumen, in einer Art Schutzzone befand und nicht frühzeitig Unannehmlichkeiten von Seiten männlicher Angestellter ausgesetzt war. Dass Lilien dennoch nicht verzärtelt und mit Illusionen aufwuchs, dafür sorgte ihre Tätigkeit im Außendienst.

    Die Begegnung mit Kunden bereitete ihr in der Regel Freude. Sie vermochte sich dabei ohne Beistand eines anderen selbständig zu entwickeln und verstand es obendrein, manche sich in den Weg stellende Klippe alleine zu meistern.

    Die dadurch erfahrene Anerkennung des Firmenbesitzers machte sie stolz und motivierte zu weiteren Erfolgen.

    Als der Chef Liliens Vater seine Zufriedenheit mit der Arbeit der Tochter bekundete, vernahm Herr Danzer das mit Stolz nur zu gern. Und er sagte sich: „Nun trägt doch tatsächlich Lilien mit dazu bei, dass meine Stellung weiter gefestigt wird. Ich würde überzeugt sagen: ‚Das Experiment Tochter beim Vater mit im Betrieb ist zum Vorteil beider gediehen.’"

    Herr Danzer lud Lilien anschließend ohne seine Ehefrau zu einem Essen in einem vornehmen Lokal ein. Als Lilien nachfragte, womit sie das verdient habe, erhielt sie zur Antwort: „Weil wir alle mit dir zufrieden sind." Worauf Lilien bewegt und etwas verschämt den Blick senkte. Was ihr ausgezeichnet stand.

    Herr

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1