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Eine ungewöhnliche Freundschaft
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eBook279 Seiten3 Stunden

Eine ungewöhnliche Freundschaft

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Über dieses E-Book

Lisa ist ein elfjähriges Mädchen, das nur einen Wunsch hat: sie möchte normal sein. Das ist aber nicht so einfach, wenn man hin und wieder mal Blut trinken muss, um zu überleben. Lisa schlägt sich aber tapfer durch, bis sie zwei gleichaltrige Kinder in ihrer neuen Schule kennenlernt, mit denen sie gerne befreundet sein möchte. Wie soll sie es nur anstellen, dass sie diese Freundschaft bekommt, ohne ihnen von ihrem Anderssein zu erzählen?

SpracheDeutsch
HerausgeberBernd Löwe
Erscheinungsdatum12. Nov. 2014
ISBN9781310185700
Eine ungewöhnliche Freundschaft

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    Buchvorschau

    Eine ungewöhnliche Freundschaft - Bernd Löwe

    Kapitel 1

    Alle Augen richteten sich auf Lisa, als ihre neue Klassenlehrerin, Frau Kleves, mit ihr in das Klassenzimmer trat und sich mit Lisa vor dem Pult aufstellte.

    »Dies ist Lisa Anderson. Sie ist ab heute eure neue Mitschülerin.«

    Einige Schüler begannen zu tuscheln, andere grinsten unverhohlen in Lisas Richtung.

    »Ich darf doch sehr bitten, Sebastian!«

    Ein Junge mit kurzen rötlich blonden Haaren und braunen Augen versteckte sein Grinsen schnell hinter einer Hand.

    Frau Kleves bedachte ihn mit einem strengen Blick und sah dann ihre Schüler der Reihe nach an. Dann sagte sie ernst: »Lisa hat eine Sonnenallergie, deshalb trägt sie eine Sonnenbrille.«

    »Hier drin?«, prustete Sebastian fröhlich.

    Lisa betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen hinter ihrer Sonnenbrille. Na das fängt ja gut an, dachte sie.

    »Es freut mich«, sagte Frau Kleves, »dass du dich gleich von deiner besten Seite zeigst, Sebastian.«

    Sebastian verstummte sofort. Dafür funkelte er seine Lehrerin an. Sein ohnehin schon schmaler Mund wurde zu einem Strich. Sein Blick huschte schnell von Frau Kleves zu Lisa und wieder zurück. Schließlich senkte er den Kopf und begann etwas in ein Heft zu schreiben, das vor ihm lag.

    Lisa beobachtete ihn und dachte unwillkürlich an ihre Großmutter, die genauso voller Zorn steckte wie dieser Junge.

    »Also«, nahm die Lehrerin ihren Faden wieder auf, »Lisa ist also eure neue Mitschülerin und ich erwarte von euch, dass ihr ihr die Eingewöhnungszeit so angenehm wie möglich gestaltet. Und wehe, wenn sich jemand über ihre Allergie lustig macht!« Sie warf einen flüchtigen Blick zu Sebastian, der immer noch hochkonzentriert in sein Heft schrieb und blickte sich dann in ihrer Klasse um. Ihr Blick blieb auf einem kleinen Jungen haften, der seinen Kopf gesenkt hielt und nervös mit einem Bleistift spielte.

    »Tobias.«

    Der Junge ließ seinen Bleistift fallen und hob den Kopf.

    Lisa, die die ganze Zeit Sebastian beobachtet hatte, ließ ihren Blick zu dem Jungen schweifen, den Frau Kleves mit Tobias angesprochen hatte und schielte kurz über ihre Sonnenbrille, damit sie ihn besser sehen konnte. Er hatte kurzes braunes Haar, braune Augen mit langen Wimpern, eine kleine Nase in seinem schmalen Gesicht und einen schmalen Mund.

    »Das ist ja schön«, sagte Frau Kleves und riss Lisa damit aus ihren Gedanken, »neben dir ist ja noch ein Plätzchen frei.« Sie sah sich noch einmal in der Klasse um und sagte dann erneut: »Ja, das ist ja schön. Tobias ist genau der Richtige. Du wirst dich gut mit ihm verstehen.« Frau Kleves strahlte und führte Lisa an den Bänken vorbei zu ihrem neuen Platz.

    Als sie dort waren, ließ sich Lisa schwer auf den Stuhl fallen und betrachtete das Chaos ihres neuen Mitschülers. Mehrere Stifte lagen neben seinem Schreibheft, ein Radiergummi, ein Mathematikbuch, obwohl die Klasse dem Plan nach, den ihr Frau Kleves gegeben hatte, eigentlich Biologieunterricht hatte. Tobias wirkte sehr nervös; immer wieder kratzte er sich am Hinterkopf und dabei gingen seine Augenbrauen jedes Mal in die Höhe.

    Sie beobachtete ihn noch kurz und lehnte sich dann in ihrem Stuhl zurück. Bedächtig ließ sie ihren Blick, der immer noch gut versteckt hinter ihrer Sonnenbrille verborgen war, durch das Zimmer gleiten. Die Klasse war typisch Schule, wie man sich ein Klassenzimmer vorstellte. An der Wand mit der Tür befand sich ein langes Regal, an der gegenüberliegenden Wand befanden sich drei große Fenster, die einen nicht gerade schönen Ausblick auf den Schulhof gewährten. Hinten in dem Klassenzimmer stand ein großer Schrank und daneben war noch eine Tür. Die Tische, an denen die Schüler saßen, waren U-förmig angeordnet und Lisa saß genau in der Mitte der vier Tische, die die Verbindung zu den beiden langen Schenkeln bildeten. Einerseits fand sie diese Position ganz gut, weil sie von hier aus jeden Schüler prima sehen konnte und nicht einmal den Kopf drehen musste, um auf die Tafel zu sehen. Andererseits fand sie aber, dass sie hier ziemlich frei den Blicken ihrer Mitschüler ausgesetzt war und das gefiel ihr nicht besonders gut.

    Sie merkte, dass Sebastian sie immer wieder mit einem Blick streifte und dann mit seinen Nachbarn tuschelte. Sie beschloss, ihn fürs Erste zu ignorieren und sich die anderen Schüler anzusehen.

    Ein Mädchen fiel ihr besonders auf und so ließ sie ihren Blick etwas länger auf ihr ruhen. Das Auffälligste an ihr war, dass sie schwarz war. Eigentlich hätte das ihre Aufmerksamkeit nicht besonders geweckt, aber die Tatsache, dass das Mädchen, das auf dem linken Schenkel des U saß, immer wieder mal einen Blick in Sebastians Richtung warf, weckte ihre Neugier. Auch er warf oft einen Blick in ihre Richtung; in seinen Augen funkelte der Zorn. Aha, dachte Lisa, noch jemand, den er nicht leiden kann.

    Sie betrachtete das Mädchen genauer. Sie hatte lange glatte schwarze Haare, die ihr bis zu den Schultern reichten und braune Augen mit schönen langen Wimpern. Ihre Nase war schmal und nur ihre Lippen waren voller, wenn auch nicht so voll wie bei einigen anderen, die Lisa schon gesehen hatte. Ihr Gesicht war schmal, aber nicht so schmal wie ihr eigenes. Das erinnerte sie sofort daran, dass sie ihr eigenes Äußeres nicht leiden konnte. Sie hatte schon immer gefunden, dass ihr Gesicht zu schmal war und erst ihre Sommersprossen!

    Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Tobias erneut seinen Bleistift fallen ließ. Er sah rasch zu ihr und kratzte sich im Nacken. Dann sah er aber sofort wieder nach vorne.

    Lisa betrachtete ihn noch einen Augenblick und griff dann in ihren Ranzen, um ihr Biologiebuch herauszuholen. Dann sah sie sich noch einmal kurz in der Klasse um und folgte dann dem Unterricht.

    Frau Kleves´ Unterricht war sehr gut, fand Lisa. Zumindest im Vergleich zu dem, den sie auf ihrer alten Schule kennengelernt hatte.

    Da dies ihr erster Tag war und sie noch keine Hausaufgaben gemacht haben konnte, saß sie die ersten zwanzig Minuten nur still auf ihrem Platz und hörte den anderen zu, wie sie ihre Hausaufgaben vortrugen. Ihr fiel auf, dass besonders Tobias und das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren besonders oft ihre Hände erhoben hatten, um etwas zu sagen. Sebastian und die beiden neben ihm beteiligten sich nicht ein einziges Mal am Unterricht, während die meisten anderen auch hin und wieder ihre Hände in die Höhe streckten.

    Der Rest der Stunde ging dann schnell vorbei, ohne dass etwas Besonderes vorgefallen wäre. Das Einzige, was außergewöhnlich war, war Sebastian, der immer mal wieder den Unterricht störte, indem er mit seinen Nachbarn redete und diese dann laut kicherten. Frau Kleves ignorierte die drei meistens, doch zwei Mal ermahnte sie ihn scharf. Dann verstummte er für ein paar Minuten und danach ging es wieder von Neuem los.

    Als der Gong die zweite Stunde ankündigte, entkam Sebastian gerade noch einer dritten Ermahnung.

    Lisa fragte sich, was dieser Junge dachte. Wenn er nichts lernen wollte, war das sein Problem, er störte aber seine Mitschüler durch sein Verhalten.

    In der zweiten Stunde hatten sie Englisch bei einem Mr. Kent. So stand es auf dem Stundenplan, den sie bekommen hatte. Lisa war schon neugierig auf diesen Lehrer, der scheinbar aus England kam und sie unterrichten würde. Da Lisa durch ihren Vater bereits fließend Englisch sprach, würden ihr diese Stunden nicht viel ausmachen.

    Als der nicht sehr große Mann mit der kleinen Brille, den kurzen schwarzen Haaren und den braunen Augen in die Klasse kam, begrüßte er Lisa mit einem Lächeln.

    Auch er besprach zuerst die Hausaufgaben; das gab Lisa wieder die Gelegenheit, sich ihre Mitschüler anzusehen. Bis auf die Tatsache, dass Nadine, so sprach ihr Lehrer das schwarze Mädchen an, oft die Hand hob, fiel ihr nichts auf. Sebastian und seine beiden Nachbarn beteiligten sich auch hier nicht am Unterricht, sie tuschelten aber weniger, was wohl an der natürlichen Autorität lag, die ihr Lehrer ausstrahlte.

    Eines fiel Lisa auf: obwohl sie jetzt Englischunterricht hatten, lag vor Tobias immer noch das Mathematikbuch. Das kam ihr zwar komisch vor, sie dachte aber nicht weiter darüber nach.

    Was ihr im Verlauf des Unterrichts auffiel, waren die Blicke, die Sebastian Tobias zuwarf. Tobias erwiderte den Blick nie direkt, er schielte immer nur zu Sebastian, als hätte er Angst vor ihm.

    Als es dann zur ersten Pause läutete, stand Lisa langsam auf und trottete hinter den anderen her auf den Schulhof. Da dies ihr erster Tag war und sie noch niemanden kannte, streifte sie nur ziellos über den Pausenhof und ließ ihren Blick über das Gelände schweifen.

    Das Gymnasium war ringsum von einem Metallzaun umgeben, in dem es nur zwei Öffnungen gab: das große Eingangstor auf der östlichen Seite des Geländes und einen kleineren Nebeneingang im Norden, der zu den Lehrerparkplätzen führte. Der Pausenhof war rechteckig, nicht besonders sauber und hatte in der Nähe des Haupttores einen Fahrradständer, wo alle Schüler ihre Räder unterstellen konnten. Vielleicht als Sichtschutz gedacht, wuchs vor dem östlichen Zaun eine Hecke, die bis zum Haupttor reichte und den Hof vor neugierigen Blicken schützte. Obwohl die Hecke sehr eng an den Zaun gepflanzt worden war, schafften es einige Schüler trotzdem, sich zwischen die Hecke und den Zaun zu quetschen, um mal schnell eine Zigarette zu rauchen. Das war zwar verboten, das hielt die Schüler natürlich nicht davon ab, es trotzdem zu tun. Und weil es so viele waren, konnte man glauben, dass sich hinter der Hecke ein Fabrikgebäude befand, das reichlich aus seinen Schloten qualmte. Lisa hätte den Qualm gar nicht erst sehen müssen, sie roch den Gestank schon einen halben Kilometer weit und nahm den Geruch auf der Kleidung von ihren Mitschülern mit gerümpfter Nase zur Kenntnis.

    Links neben dem Fahrradständer standen steinerne Bänke, und während ihr Blick jetzt über den Hof schweifte, fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter.

    »Na, hast du die ersten zwei Stunden überlebt?« Grinsend stand Nadine neben ihr.

    Lisa sah sie an und sagte: »Ja, danke.« Ihr Blick ruhte, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf Tobias, der ganz allein auf einer der Bänke saß und in einem Buch blätterte.

    Nadine, die Lisas Blick folgte, sagte: »Du hast Glück gehabt. Tobias ist total nett.«

    Lisa sah Nadine an und sah, wie ihre Mundwinkel zuckten.

    »He, er ist wirklich nett«, sagte Nadine, »Nur ...«

    Lisas Neugier war geweckt. »Nur?«

    Nadine sah Lisa kurz und nachdenklich an, dann sagte sie: »Na ja, er ist halt ein Streber.« Erst hielt sie ihr Lachen noch zurück, doch dann prustete sie laut los.

    Lisa sah das andere Mädchen nur fragend an.

    »Hey«, sagte Nadine und legte Lisa noch einmal eine Hand auf die Schulter, »Ich bin auch ein Streber. Deshalb verstehe ich mich gut mit ihm.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Es fehlt ihm an Selbstbewusstsein. Deshalb ist es ziemlich leicht, ihn ... herumzuschubsen.«

    Gerade in diesem Moment schlenderte Sebastian mit seinen beiden Tischnachbarn an ihnen vorbei und grinste. »Oh, hat die Streberin eine neue Freundin gefunden?«

    »Ach, hau doch ab«, sagte Nadine und machte eine wedelnde Handbewegung in Richtung Fahrradständer. »Wenn du deine Lunge vergiften willst, musst du dich beeilen, die Pause ist bald vorbei.«

    Sebastians Grinsen wurde noch breiter: »Sollte mich das stören?« Er sah aber auf seine Uhr und nickte dann seinen stummen Begleitern zu. Dann gingen sie gemeinsam auf die Hecke zu, um noch schnell eine Zigarette zu rauchen.

    »Wie gut, dass ich nicht neben ihm sitze«, sagte Nadine, »Sonst könnte ich mich gar nicht konzentrieren. Seine ganzen Klamotten stinken ja nach Rauch.«

    Lisa musste lächeln.

    Nadine sah sie an und fragte: »Findest du den Geruch etwa angenehm?« Ihr Blick war ehrlich schockiert.

    »Nein«, sagte Lisa und musste jetzt grinsen, »ich habe gerade genau das Gleiche gedacht.«

    Nadines Gesicht strahlte. »Und«, fragte sie dann, »woher kommst du denn?«

    »Wir haben vorher in Köln gewohnt. Aber mein Vater hat hier jetzt eine Kanzlei eröffnet.«

    Nadine zog ihre Augenbrauen hoch. »Anwalt?«

    Lisa nickte.

    »Mein Vater arbeitet in einer Bank«, sagte Nadine. Sie wollte noch mehr sagen, aber da ertönte ein plumpsendes Geräusch und sorgte dafür, dass die beiden in Tobias´ Richtung schauten. Sie sahen gerade noch, wie sich Tobias nach seinem Buch bückte, das ihm aus der Hand gefallen war.

    Nadine sagte: »Er ist ein bisschen nervös, aber das weißt du wahrscheinlich schon.« Sie warf das Haar, das ihr vor der Schulter hing, zurück. »Besonders praktisch veranlagt ist er auch nicht, aber wie gesagt, er ist unheimlich nett. Du hättest es schlimmer treffen können.« Ihr Blick ging zu der Hecke, hinter der es gewaltig qualmte.

    Lisa schüttelte sich, der Gestank war selbst aus dieser Entfernung grauenhaft.

    Nadine grinste. Dann ertönte aber schon der Gong. »So, wir sollten mal gehen.« Sie ging los.

    Lisa blieb noch einen Moment stehen und sah ihr nach. Sie fand Nadine sympathisch.

    Sie pustete sich gegen ihren blonden Pony, dann drehte sie sich noch einmal zu der qualmenden Hecke um und ging dann ebenfalls in ihre Klasse zurück.

    Die nächsten beiden Stunden krochen nur so dahin. Immer wenn Lisa zu Tobias schaute, schien sich seine Nervosität deutlich zu steigern. Sie fragte sich, wie er es schaffte, sich zu konzentrieren, wenn er ständig mit seinem Bleistift spielte oder nervös mit dem Radiergummi über einen nicht vorhandenen Strich fuhr. Er sah auch ständig in sein aufgeschlagenes Mathematikbuch. Und doch war seine Hand ständig in der Luft und immer, wenn der Lehrer ihn aufrief, hatte er die richtige Antwort parat. Lisa fand das beeindruckend.

    Sie selbst beteiligte sich auch am Unterricht, aber nur zaghaft, weil sie sich erst eingewöhnen musste. Hinzu kam, dass sie sich schlechter als sonst konzentrieren konnte, weil sie ständig Sebastians Blick auf sich fühlte. Und dann, wenn sie zu ihm sah, hielt er sich immer zwei Ringe, die er mit Daumen und Zeigefinger bildete, vor die Augen. Diese Geste sollte wohl ihre Sonnenbrille darstellen, die sie zwar eigentlich nicht innerhalb eines Zimmers brauchte, ihr aber mehr Sicherheit gab. Außerdem vertraute sie sich selbst nicht so ganz und deshalb war es besser, die Sonnenbrille aufzulassen.

    Lisa versuchte Sebastian zu ignorieren, aber seine Blicke waren so intensiv, dass sie einfach immer mal wieder zu ihm sah.

    Durch diese Ablenkung beteiligte sie sich nicht nur weniger am Unterricht, sie bekam auch kaum mit, was ihr Lehrer sagte. Und als die dritte Stunde vorbei war, hätte sie nicht mehr sagen können, was sie durchgenommen hatten.

    In der vierten Stunde hatten sie Chemie. Ihr Lehrer hieß Franz Heinrichs. Er war groß, hatte braunes, schon angegrautes Haar und eine halbrunde Brille, über deren Rand er streng zu seinen Schülern blickte. Sein Unterricht war genauso trocken wie sein Name und Lisa konnte es kaum erwarten, bis endlich der erlösende Gong ihre letzte Pause ankündigte.

    Als es dann endlich so weit war, war sie auch schnell draußen und schlenderte wieder ziellos über den Schulhof. Hinter der Hecke qualmte es schon wieder und der Gestank war für sie ganz deutlich wahrzunehmen.

    Sie schlenderte weiter und sah Tobias wieder auf einer der Bänke sitzen. Kurz entschlossen setzte sie sich neben ihn.

    Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat, normalerweise war sie eher zurückhaltend und ging ihren Mitmenschen aus dem Weg. Aber nun saß sie neben ihrem Sitznachbarn und sah ihn an. Tobias wirkte sehr nervös, seine Beine waren ständig in Bewegung. Seine Nase steckte in einem Buch und manchmal kratzte er sich im Nacken.

    Nach einer Weile sah er auf und fragte: »Hast du wirklich eine Sonnenallergie?«

    Lisa schmunzelte. »Mmhh.« Wenn er wüsste, dachte sie und ließ ihren Blick über den Schulhof schweifen. Sie war mit ihren Gedanken so weit weg, dass sie Sebastian nicht bemerkte.

    »Na, du kleine Bücherratte.« Sebastian stand mit seinen beiden stummen Freunden vor Tobias und sah auf ihn herab.

    Lisa wusste jetzt, dass die beiden Dominik und Patrick hießen und noch nicht ein einziges Mal im Unterricht gesprochen hatten. Wenn der Lehrer sie etwas gefragt hatte, hatten sie nur die Schultern gehoben oder etwas zu Sebastian gesagt. Auch jetzt standen sie rechts und links neben ihm und sagten kein einziges Wort. Sie grinsten nur dümmlich und Lisa fragte sich, ob sie überhaupt sprechen konnten.

    Tobias´ Augenlider flackerten, er sagte aber nichts.

    Lisa konnte seine Angst fühlen und fragte sich, wovor er sich fürchtete.

    Als Sebastian Tobias das Buch aus der Hand riss, sagte Lisa: »Gib ihm das Buch zurück.«

    Sebastian sah sie an. »Sonst was?«

    Lisa stand auf und trat einen Schritt näher an Sebastian heran. Doch bevor sie etwas sagen konnte, hörten sie die Stimme ihres Englischlehrers.

    »Ist alles in Ordnung bei euch?«

    Lisa drehte sich um. Mr. Kent war nicht viel größer als Sebastian, strahlte aber eine ruhige Autorität aus. Er sprach völlig akzentfrei, obwohl er erst im Erwachsenenalter nach Deutschland gekommen war. Seine kleine Brille hob seine klugen braunen Augen noch hervor.

    Sebastians Mund wurde zwar schmal, doch er sagte nichts. Anscheinend hatte er Respekt vor diesem Lehrer. Wortlos gab er Tobias das Buch zurück, funkelte Lisa aber noch einmal wütend an. Dann ging er mit seinen Freunden davon.

    Lisa sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Was war das nur für ein Junge? Sie setzte sich wieder auf die Bank.

    Ihr Lehrer nickte ihnen zu, dann setzte er seine Runden fort.

    Lisa sah Tobias von der Seite an und fragte sich, warum er sich nicht gewehrt hatte. Sie hatte fast den Eindruck, als ob ihm so etwas schon öfter passiert war. Schließlich fragte sie: »Warum sagst du nichts?«

    Ein flüchtiger Blick war die einzige Antwort.

    Lisa zuckte mit den Schultern und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Zaun und schloss die Augen. Sie seufzte hörbar und ließ ihre Gedanken für einen Moment treiben.

    Tobias räusperte sich vernehmlich, doch Lisa war gerade tief in ihren Gedanken. Erst als ein Schatten auf ihr Gesicht fiel, öffnete sie ein Auge und danach sofort das zweite. Sebastian stand, diesmal allein, vor ihr.

    Er beugte sich vor, bis sein Gesicht ganz dicht vor ihrem war. Dann flüsterte er: »Du solltest mir lieber keinen Ärger machen.«

    Lisa drückte ihn weg und stand auf. »Das wollte ich dir auch vorschlagen.«

    Als ob er geschlagen worden wäre, zuckte er zurück und funkelte sie an. Dann sah er zwischen Tobias und ihr hin und her, als ob er überlegen würde, an wem von den beiden er seine Wut auslassen könnte. Er ballte seine Hände kurz zu Fäusten, dann entspannte er sich aber wieder. Wahrscheinlich, weil ihr Englischlehrer immer noch in der Nähe stand.

    Lisa betrachtete Sebastian mit einem ruhigen Blick. Sein graues T-Shirt war an einigen Stellen grün und ganz zerknittert. Die blaue Jeans, die er dazu trug, war an den Knien schon kaputt und die Marke seiner Schuhe war unter dem ganzen Dreck nicht mehr zu erkennen.

    Während Lisa ihn mit ihrem Blick von Kopf bis Fuß abtastete, wurden seine Lippen ganz schmal, bis sie nur noch eine dünne Linie bildeten.

    Tobias räusperte sich erneut. Und als Mr. Kent näher kam, ging Sebastian wortlos zurück in das Schulgebäude.

    Tobias sah ihm nach und fragte dann: »Warum tust du das? Warum musst du ihn provozieren?« Für einen Augenblick schien er seine Nervosität vergessen zu haben. Sein Blick war klar und gerade auf Lisa gerichtet, in seiner Stimme klang ehrlicher Zorn mit.

    Ohne es zu wollen, musste Lisa lachen. Sie lachte nicht über ihn, sondern über die dramatische Veränderung in seinem Verhalten. Doch Tobias schien das nicht zu erkennen, denn er sprang wütend auf und zischte: »Ja, ja, mach du dich nur lustig!« Er rannte zum Eingang und verschwand.

    Lisa sah ihm nach und dachte: Na toll, das fängt ja gut an!

    Sie ließ sich wieder auf die Bank fallen und schüttelte den Kopf.

    Kurze Zeit später kam Nadine und setzte sich neben sie. »Kaum bist du ein paar Stunden hier, da sorgst du schon dafür, dass der Zorn, den Sebastian sowieso schon mit sich herumträgt, noch größer wird.« Sie sah Lisa vorwurfsvoll an, dann stand sie wieder auf und ging.

    Lisa verstand gar nichts. Sie hatte doch nur helfen wollen. Was hatte sie denn getan? Sie schüttelte den Kopf und stand auch auf. Sie stieß einen Seufzer aus und machte sich mit hängenden Schultern auf den Weg in ihre Klasse.

    Sie kam mit einem schlechten Gefühl zurück in die Klasse. Sie spürte, dass sie von Nadine, Sebastian und Tobias beobachtet wurde, während sie zu ihrem Platz ging. Als sie sich gesetzt hatte und aufsah, blickten sie alle woanders

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