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Im Bann der Quelle
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eBook344 Seiten4 Stunden

Im Bann der Quelle

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Über dieses E-Book

Die magische Quelle sorgt dafür, dass Luise und ihre Freunde alles haben können, was sie sich wünschen. Aber dafür zahlen sie einen hohen Preis: Der Rat von Südental regelt das Leben aller Dorfbewohner. Freundschaften außerhalb Südentals sind streng verboten. Und niemand darf Südental den Rücken kehren. Mysteriöse Todesfälle ereignen sich, wann immer jemand die Regeln der Quelle missachtet. Luise passt sich an - bis ein Neuer an ihre Schule kommt: Leander. Versehentlich liest sie seine Gedanken und auf einmal schlägt ihr Herz Purzelbäume. Sie muss sich entscheiden: zwischen dem Leben, das sie kennt, und ihrer großen Liebe... Luxus oder Freiheit – was würdest du wählen?

(aktualisierte und überarbeitete Neuauflage des Romans "Das Geheimnis der Quelle" von Karin Marold)
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum24. Jan. 2021
ISBN9783753153520
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    Buchvorschau

    Im Bann der Quelle - Karin Spieker

    Im Bann der Quelle

    Im Bann der Quelle

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    22.

    Ein Jahr später

    Danke

    IMPRESSUM

    Im Bann der Quelle

    Karin Spieker

    © 2020 Karin Spieker

    1.

    „Die Zellen, aus denen die haploiden Geschlechtszellen entstehen, sind diploid. Deshalb muss bei der Bildung der Geschlechtszellen die Chromosomenzahl auf die Hälfte reduziert werden. Der sich dabei abspielende Vorgang nennt sich Meiose", leierte Frau Schulte herunter. Ihr Monolog dauerte jetzt schon zehn Minuten. Und ich war davon überzeugt, dass gerade niemand irgendetwas lernte.

    Unmotiviert informierte sie uns darüber, naja, vielmehr versuchte sie es, wie aus einem Spermium und einer Eizelle die Zygote, also die befruchtete Eizelle, entsteht. die ganze Klasse 10a döste seit Beginn der Stunde vor sich hin.

    Eigentlich fand ich das Thema gar nicht so uninteressant, doch leider war unsere Biolehrerin nicht gerade das, was man eine Lehrerin aus Leidenschaft nennt …

    Sina hatte schon öfter aus purer Langeweile in Frau Schultes Hirn herumgestöbert. Sie behauptete, dass Frau Schultes Gedanken in etwa die gleichen waren wie die unserer Mitschüler, die Gedanken männlicher Pubertierender selbstverständlich ausgenommen.

    Unsere Lehrerin konzentrierte sich selten auf den Stoff. Sie interessierte sich kaum für Biologie, sondern beschäftigte sich lieber mit der Uhrzeit: Noch dreißig Minuten, dann ist die Stunde um, noch fünfzehn Minuten, dann ist die Stunde rum, nur noch zwei Stunden, dann darf ich hier raus … Sina fand das total lustig!

    Mich überraschten Sinas Erkenntnisse wenig. Auch ohne dass ich in Frau Schultes Gedanken stieg, spürte ich ihre unendliche Langeweile.

    Sina neben mir seufzte tief. Seit geraumer Zeit rahmte sie ihre Heftseiten mit den in Blockbuchstaben gemalten Worten OH ÖDNIS OH ein. Drei Seiten hatte sie bereits auf diese Weise verziert. Sie musste vergessen haben, dass am Ende des Schuljahres die Biohefte eingesammelt werden würden. Oder es war ihr egal. Wahrscheinlich Letzteres.

    Im Gegensatz zu mir versuchte Sina nicht einmal, sich auf den Stoff zu konzentrieren. Ihr Motto war von jeher: Warum anstrengen, wenn man auch entspannt durchs Leben kommt? Seit bei ihr die Gabe erwacht war, ignorierte sie unsere Lehrer völlig und schrieb bei schriftlichen Tests einfach die Gedanken der größten Streber mit.

    Mir war das zu langweilig. Ich musste ja sowieso im Unterricht herumsitzen – warum dann nicht versuchen, etwas mitzunehmen?

    Auch für jemanden, der die Gabe hatte, lohnte es sich schließlich Wissen zu erwerben. Vielleicht war es für uns Begnadete sogar noch wichtiger, klug und vernünftig zu handeln, als für andere. Schließlich verlieh die Gabe uns Macht und die galt es überlegt zu nutzen, das schärften uns die Erwachsenen immer wieder ein.

    Leider sah Sina das anders. Spaß schlug für sie grundsätzlich vernünftige Argumente, besonders wenn es um die Gabe ging. Manchmal dachte ich, dass wir genau deswegen schon so lange Freundinnen waren: Sina zog mich immer wieder ein kleines Stückchen in die Wolken und ich zog sie immer wieder zurück auf den Boden.

    Wir lebten in einer Art Symbiose, wenn auch nicht immer in einer harmonischen.

    Jetzt warf sie ihren Bleistift beiseite und stöhnte leise. Dann stupste sie mich an, wies mit den Augen in Richtung Sofie und kniff die Stirn ganz kurz konzentriert zusammen. Sofie bekam einen glasigen Blick, den Bruchteil einer Sekunde nur, und wenig später bohrte sie ihren Zeigefinger tief in die Nase. Im nächsten Moment zog sie ihn wieder heraus, das Gesicht voll von Abscheu und Erschrecken. Dann lief sie dunkelrot an und kramte hektisch in ihrer Tasche nach einem Taschentuch. Hinter Sofie wurde gekichert und getuschelt und Sina grinste in sich hinein.

    Eins musste ich Sina lassen: Sie war verdammt gut, dafür, dass sie wie ich ein Neuling in der Kunst des Gedankenlenkens und –lesens war. Sie hatte ihre Gabe erst seit rund neun Monaten, ich seit sieben, aber Sina lenkte Gedanken bereits schnell, präzise und über kleinere Entfernungen hinweg. Ich hingegen musste meine Opfer zumeist noch anfassen, außerdem sah man mir viel stärker an, wenn ich die Gabe benutzte. Manchmal tränten meine Augen vor Konzentration so stark, dass ich aussah, als würde ich weinen.

    Natürlich war Sina einfach besser im Training als ich. Sie setzte ihre Fähigkeiten ständig ein und erleichterte sich hemmungslos den Alltag, obwohl wir alle vom Rat angewiesen waren, unsere Künste höchst dosiert und äußerst diskret zu verwenden. Und einfach so, aus Spaß, durften wir Jugendlichen die Gabe schon gleich gar nicht einsetzen – viel zu groß war die Gefahr, dass wir alle sonst irgendwann entdeckt würden!

    Sina lächelte immer noch und schielte von Zeit zu Zeit zu Sofie hinüber, begeistert von dem kleinen Unheil, das sie angerichtet hatte. Ich war ein bisschen sauer. Warum tat Sina das nur immer wieder? Ja, natürlich war Sofie eine elende Zicke und furchtbar eingebildet, weil sie die unangefochtene Klassenschönheit war. Und ja, Sofie dachte wirklich mieses Zeug über Sina, über mich und über andere Mädchen in unserer Klasse. Aber trotzdem verhielt Sina sich falsch!

    Ihr Hobby, aus Langweile Schabernack mit anderen Menschen zu treiben, ohne dass diese die kleinste Chance gehabt hätten, sich dagegen zu wehren, das war die dunkle Seite der Gabe, fand ich. Sina und ich stritten nicht selten über dieses Thema.

    Vorne am Pult gähnte Frau Schulte, gelangweilt von ihren eigenen Ausführungen. Ich schielte auf meine Uhr: In zwanzig Minuten konnte ich nach Hause fahren.

    Draußen zeigte sich ein herrlich blitzblauer Himmel – ich konnte es kaum erwarten, bis ich mit einem Buch in unserem Garten am Flüsschen sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen konnte. Heute war Mittwoch, das bedeutete, dass auch meine Mutter zu Hause sein würde. Prima, dann könnten wir zusammen essen. Hoffentlich hatte unsere Haushälterin Frau Hansmeier was Leckeres gekocht!

    Ein weiterer Blick auf die Uhr. Die Sekunden verstrichen quälend langsam.

    Wieder stupste Sina mich triumphierenden Blickes an. Diesmal ging ihr Blick nach vorn, Richtung Pult. Sie würde doch nicht schon wieder … Warnend schlug ich gegen ihren Oberschenkel. „Sina!", zischte ich.

    Zu spät.

    Sie würde.

    Wieder kniff sie kurz und konzentriert ihre Stirn zusammen und Frau Schultes Blick verschleierte sich für einen Moment.

    Jetzt war ich wirklich wütend. Diesen Zirkus hatte Sina bestimmt schon zehn Mal abgezogen! Irgendwann würde es jemandem auffallen.

    „Entschuldigt, Kinder, Frau Schulte fasste sich deutlich verwirrt an den Bauch, „Mir ist nicht gut … glaube ich. Ich – das ist eure letzte Stunde heute, oder? Macht es euch etwas aus, wenn wir früher Schluss machen? Ich glaube … ich sollte mich hinlegen. Ja. Mir ist entschieden so, als sollte ich mich hinlegen!

    Ich sah zu Sina hinüber, reiner Triumph malte sich in ihrer Miene. Wieder schwankte ich zwischen Bewunderung – sie war wirklich gut! – und Ärger über Sinas Leichtfertigkeit hin und her.

    Frau Schulte verließ tatsächlich den Raum und in der Klasse erhob sich begeistertes Gemurmel.

    „Los! Sina zupfte mich am Ärmel. „Beeil dich, vielleicht kriegen wir den früheren Bus noch!

    Ärgerlich wischte ich ihren Arm weg und packte meine Sachen in die Umhängetasche. „Ja doch, ich komme …"

    Sina ging schon vor, während ich mich noch von ein paar Mitschülerinnen verabschiedete. Als ich im Rausgehen hörte, wie sich Alina und Kim für einen Kinoabend verabredeten, konnte ich, wie so oft, einen leisen Anflug von Neid nicht unterdrücken.

    Ich mochte meine Mitschülerinnen und sie mochten mich – wenigstens ab und zu wäre ich gern bei ihren Aktionen dabei gewesen!

    Seufzend machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle.

    2.

    Wie immer gab es auf dem Heimweg nichts zu sehen. Ackerfläche folgte auf Ackerfläche – man konnte jederzeit die Augen schließen und verpasste garantiert nichts.

    Der Bus war angenehm leer. Die Schüler aus den umliegenden Dörfern würden erst die nachfolgenden Busse bevölkern. Um uns herum saßen nur ein paar alte Leute und eine Mutter mit Kinderwagen und Baby.

    Sina und ich lümmelten allein auf der Rückbank. Wir waren die einzigen Südentaler in unserer Klasse und hatten auf dem Schulweg deshalb selten Gesellschaft. Es gab wenig Kinder und Jugendliche bei uns im Dorf. Auf unserer Schule, dem Städtischen Gymnasium Papenbrück, waren außer Sina und mir nur noch sieben weitere Südentaler Jungs und Mädchen. Eine weitere Handvoll Jugendlicher bevölkerte die Haupt- und Realschule in Papenbrück und das war’s. Im Moment gab es in Südental nur dreiundzwanzig Jugendliche, Sina und mich eingerechnet. Sehr übersichtlich. Aber so ist das eben, wenn man in einem kleinen Dorf lebt, in dem seit rund fünfhundert Jahren der Zuzug von Fremden vermieden wird …

    Gut, dass ich wenigstens eine Freundin in meinem Alter hatte, wie meine Mutter nicht müde wurde zu erwähnen. Sina dachte zwar über viele Dinge anders als ich, aber ich kannte sie seit meiner Geburt und wir fühlten uns oft wie Schwestern. Sie verstand meine Sorgen und Nöte besser, als eine nichtbegnadete Freundin es je gekonnt hätte. Wenn sie doch nur – manchmal - eine Spur weniger Sina wäre …. Ein bisschen verantwortungsvoller, ein klein wenig sozialer …

    Sina umgekehrt, das wusste ich, fand mich manchmal zu besonnen, zu vernünftig. Dann nannte sie mich „Heilige Luise oder gleich „Mutti. So wie jetzt.

    „Hör auf zu schmollen, Mutti! Sina stieß mir sachte ihren Ellenbogen in die Seit. „Freu dich doch lieber! Jetzt, wo wir den früheren Bus erwischt haben, sind wir viel eher zu Hause!

    „Schon, aber …, ich senkte meine Stimme zu einem Wispern, „nötig gewesen wäre das nicht! In zwanzig Minuten hätte es sowieso geklingelt und Frau Schulte wird Ärger bekommen, wenn du so etwas immer wieder abziehst!

    „Ach, tu doch nicht so!, höhnte Sina leise und verdrehte die Augen gen Himmel, „du bist doch auch vor Langeweile gestorben!

    Ich sah mich im Bus um. Konnte die weißhaarige Oma, die zwei Reihen vor uns saß, uns womöglich hören? Sollte ich schnell mal nachsehen, worum sich ihre Gedanken drehten? Nein, Luise, Blödsinn, verwende die Gabe sparsam! Außerdem – wem machte ich etwas vor? Auf diese Entfernung würde ich die Gedanken der Frau sowieso nicht lesen können. Da war ich Sina weit unterlegen.

    „Wir reden gleich weiter!, bestimmte ich leise, „auf dem Weg.

    Sina verdrehte noch mal die Augen, nickte genervt und steckte die Kopfhörer ihres Handys in die Ohren. Leise ertönte ein scheppernder Beat.

    Ich starrte in die vorbeiziehende Landschaft.

    Wieder einmal wünschte ich mir sehnsüchtig, es gäbe die Gabe nicht und Südental wäre ein Dorf wie jedes andere. In Momenten wie diesem, wenn wieder einmal ein wichtiges Gespräch auf später verschoben werden musste, fühlte ich mich schmerzvoll daran erinnert, wie allein wir waren, wir Begnadeten. Die Gabe machte uns stark, das schon, aber sie trennte uns auch von allen anderen.

    Wie ein Felsblock hing mir das kollektive Geheimnis manchmal um den Hals.

    Oft stellte ich mir vor, wie es wäre, normal zu sein. Ich könnte Freunde haben, viele Freunde, auf Partys gehen – richtige Partys außerhalb des Dorfes mit vielen fröhlichen Jugendlichen. Ich könnte in einer Band singen, vielleicht sogar reisen. Nach Spanien, in die Türkei, nach Thailand, Costa Rica, Frankreich … Es gab so viel zu sehen auf der Welt!

    Aber nein. Nichts davon war möglich und schlimmer noch: Nichts davon würde je möglich sein, befürchtete ich.

    Der Rat wollte es nicht. So einfach war das.

    Sobald ein Südentaler Kind das kollektive Geheimnis kannte, sobald die Gabe bei ihm erwacht war, sollte es in der Dorfgemeinschaft leben. Und nur dort.

    Manchmal fühlte ich mich wie eine Gefangene!

    Der Bus hielt an der Bundesstraße. Von dort aus standen uns noch zwanzig Minuten Fußmarsch bevor. Selbstverständlich waren Sina und ich die einzigen, die ausstiegen. Unser Dorf - genaugenommen war Südental mit seinen paar hundert Einwohnern wohl eher ein Dörfchen – liegt in einer Sackgasse. Die Landstraße, die nach Südental hinein führte, endete in einer Wendeschleife um unseren Dorfplatz, für Busse lohnte sich die Fahrt dorthin nicht.

    Wenn das Wetter schlecht war und Sina keine Lust hatte zu laufen, hielt sie oft Autofahrer an, die uns unter Sinas Einfluss schnurstracks nach Südental kutschierten und sich hinterher, wenn sie zu ihren eigenen Terminen zu spät kamen, wohl wegen ihres Anfalls von Wohltätigkeit am Kopf kratzten.

    Meistens aber liefen wir, denn wir liefen gern.

    So auch heute: Es war ein wunderschöner Sommertag – die Luft war nicht zu heiß, ein laues Lüftchen wehte und es roch nach frisch gemähter Wiese. Herrlich! Wir überquerten die Bundesstraße und auf einmal hatte ich überhaupt keine Lust mehr, mich mit Sina zu streiten.

    Sina wohl auch nicht. „Bevor du jetzt wieder predigst, Lu – gib zu, dass das genial war, eben in der Schule! Falsch, ja, wegen mir, aber genial! Wahnsinn! Ich war beide Male so schnell so tief in ihren Köpfen – ich hätte alles mit denen machen können!" Sinas Augen blitzten dunkel vor Begeisterung über sich selbst.

    „Hast du ja auch! Jetzt hatte ich doch wieder Lust, mich zu streiten. „Frau Schulte fragt sich bestimmt schon, ob sie verrückt geworden ist, weil ihr Unwohlsein immer in dem Moment vorbei ist, in dem ihre Klasse den Raum verlassen hat. Und Sofie wird noch tagelang grübeln, wie es passieren konnte, dass sie im Unterricht vor der gesamten Klassen in der Nase gebohrt hat. Wirklich, Sina, hast du denn gar kein Mitgefühl? Warum springst du nur derart mit allen um?

    „Ganz einfach: Weil ich es kann! Sina grinste herausfordernd und mir lief ein kleiner Schauer den Rücken hinunter. Sina war nicht boshaft, aber ihre Zügellosigkeit machte mir manchmal ein bisschen Angst. „Wer weiß, was du so anstellen würdest, Lu, wenn du besser mit der Gabe umgehen könntest! Du bist doch nur neidisch!

    „Nein. Ehrlich nicht, Sina. Ich blieb stehen und sah sie eindringlich an. „Du bist zwar viel besser als ich, das wissen wir beide, aber glaub mir: Ich bin nicht allzu scharf auf die Gabe. Und ich möchte sie wirklich nicht ohne Grund gegen andere einsetzen.

    Sina streckte mir die Zunge raus. „Oh heilige Luise!, sagte sie fröhlich. „Dann lass es halt!

    Wir kabbelten uns eine Weile. Sina behauptete, dass die meisten Unbegnadeten sowieso nur Müll im Kopf hätten und es deshalb verdienten, Zielscheiben unserer Manipulation zu werden. Speziell die Mädchen in unserer Klasse. Lang und breit setzte Sina mir auseinander, wer in den letzten Tagen schlecht über sie gedacht hatte.

    „Du musst damit aufhören, den Leuten ihre Gedanken vorzuwerfen!, sagte ich Sina zum hundertsten Mal. „Glaubst du denn ernsthaft, dass deine Südentaler Freunde nie auch nur einen einzigen gemeinen Gedanken über dich denken? Und was ist mit dir selbst? Hast du ausschließlich nette Gedanken?

    „Wen interessiert’s? Meine Gedanken kann ja keiner lesen und die von unseren Leuten kann ich auch nicht lesen! Was ich nicht weiß, macht mich auch nicht heiß! Die Gedanken, die ich lesen kann, stören mich!"

    „Du bist doch selbst schuld, dass du so viel Geläster über dich liest! Hör doch endlich mal auf damit, dich ständig in alle möglichen Köpfe zu klicken!"

    Im Gegensatz zu Sina tat ich alles, damit ich nicht aus Versehen in fremden Köpfen landete. Jeder hatte ein Recht auf seine düsteren Gedanken, fand ich. Entscheidend war doch, was jemand nach außen trug, was jemand lebte! Ein Gedanke raste so schnell vorbei und oft hinterließ er keine Spuren – wenn man ewig in alle Köpfe einstieg, erwischte man lauter dummes, fieses oder verrücktes Zeug, das niemand je ausgesprochen und das nie irgendeine Konsequenz gehabt hätte.

    Als ich Sina meinen Standpunkt erklärte, schnaubte sie nur verächtlich.

    „Trotzdem sind die Gedanken ja gedacht worden, oder nicht? Wenn ich in Sofies Kopf lese, dass sie meine Haare potthässlich findet, dann findet sie sie doch wohl potthässlich!"

    „Ja, aber das würdest du doch ohne die Gabe nie erfahren!", jaulte ich und war schon wieder froh, dass Sina meine Gedanken nicht lesen konnte. Ich fand Sinas Haare im Moment auch sehr gewöhnungsbedürftig. Sie hatte sich drei blonde Strähnen in ihre dunkle Mähne gefärbt und das Ergebnis erinnerte an ein Zebra, um es niedlich auszudrücken. Ehrlich gesagt: Meine erste Assoziation war ein Misthaufen gewesen.

    Ein letztes Mal versuchte ich, Sina ein wenig Mitgefühl für ihre Opfer zu vermitteln: „Ich stelle mir halt immer vor, ich wäre diejenige, deren Gedanken manipuliert würden, und ich käme dahinter. Ich wäre völlig fertig. Ich würde mich so ausgenutzt fühlen."

    Sina zog verächtlich die Augenbrauen in die Höhe. „Was du dir immer für Gedanken machst … Kommt ja keiner dahinter! Genieß dein Leben und grübel nicht so viel! Das Wetter ist übrigens gigantisch heute! Ich schätze, dass Max heute Abend wieder sein Open-Air-Kino öffnet. Kommst du auch?"

    Ich ließ es gut sein. Sina war eben total pro Südental. Ich würde sie nicht bekehren, wahrscheinlich hatte sie in ihrer ganzen Kindheit keinen einzigen dorfkritischen Satz gehört.

    Wir wandten uns für den Rest der Strecke Sinas Lieblingsthema Max zu. Max war ein Jahr älter als wir – siebzehn also – und seit einigen Wochen der Nabel von Sinas Welt. Seit er und Hanna offiziell auseinander waren, himmelte Sina ihn unverhohlen an. Meiner Meinung nach genoss er ihre Aufmerksamkeit zwar, hing aber nicht wirklich am Haken. Aber das war nur meine Meinung und ich würde mich hüten, Sina ihre Illusionen zu rauben.

    Was wusste ich schon! Meine Erfahrung mit Jungs beschränkte sich auf die zwei Tage um Ostern herum, an denen ich mit Paul Händchen gehalten hatte, eine ziemlich alberne Aktion, da weder Paul noch ich auch nur im mindesten ineinander verknallt waren. Die ganze Sache hatte sich eher zufällig bei einem Filmabend ergeben und ich schätzte, wir wollten beide einfach nur endlich zu den „reifen Jugendlichen in Südental gehören, die in einer Beziehung lebten. Was soll ich sagen – nachdem wir uns rund achtundvierzig Stunden lang beide in Grund und Boden geschämt hatten, machten wir „Schluss und waren einfach wieder gute Freunde.

    Diese bizarre Episode machte mich sicher nicht zu einer Kapazität in Sachen Liebe!

    Natürlich hatte ich darüber hinaus bereits ausführlich Erfahrungen aus „dritter Hand" gesammelt, wenn ich versehentlich in die romantischen oder sexuellen Phantasien Fremder geraten war. So etwas ließ sich leider nicht vermeiden, wenn man in die Köpfe anderer Leute einstieg. Viele Menschen denken praktisch immerzu an Sex. Die Jungs in unserer Klasse beschränkten sich dabei meist auf ausführliche Phantasien über die Brüste ihrer Mitschülerinnen – eher witzig, wenn man dort hineingeriet. In den Gedanken mancher älterer Menschen war ich allerdings schon auf Sexphantasien gestoßen, bei denen ich mir überlegt hatte, ob ich nicht doch lieber ins Kloster gehen sollte.

    Egal, das alles hatte bislang wenig mit mir und meinen Empfindungen zu tun. Und mit „Liebe" noch viel weniger.

    Aber wie gesagt: Was wusste ich schon …

    Ich ließ Sina reden und machte an den richtigen Stellen zustimmende oder ablehnende Geräusche.

    Während Sina so plapperte, dachte ich weiter über mein eigenes unzureichendes Liebesleben nach. Ein bisschen beneidete ich sie um ihre Zuneigung zu Max, denn in letzter Zeit fragte ich mich oft, ob ich mich je richtig verlieben würde.

    Die Dorfregeln verlangten, dass wir Südentaler Mädchen uns mit Südentaler Jungs zusammentaten. Das kollektive Geheimnis ließ sich so am besten wahren, Beziehungen in andere Dörfer wurden nur äußerst selten genehmigt.

    Wenn ich mir die Südentaler Jungs allerdings so ansah …

    Nun, ich hoffte einfach, dass ich mit der Zeit für einen von ihnen mehr als freundschaftliches Interesse entwickeln würde.

    Ich hatte einen herrlich faulen Nachmittag im Garten hinter mir, als ich mich gegen Abend zu Max aufmachte.

    Sina hatte richtig vermutet: Auch heute hatte er in sein neues Open-Air-Kino eingeladen. Der wahnwitzig leistungsstarke Beamer war Max’ neuestes Spielzeug, erst vor zwei Wochen hatte er vom Rat die Erlaubnis zur Anschaffung erhalten.

    Max hatte einen geradezu skandalösen Rabatt im Elektrofachmarkt in Papenbrück erzwungen, indem er den Verkäufer hatte glauben lassen, das Gerät wäre defekt. Am Ende war der arme Mann froh gewesen, dass Max überhaupt noch etwas für das vermeintlich schrottreife Gerät bezahlt hatte.

    So oder so ähnlich lief es immer ab, wenn wir Südentaler „einkauften".

    Im Kleinen fiel das nicht weiter auf. Über ein T-Shirt, das sie wegen eines Stofffehlers reduziert abgegeben hatte, dachte eine Verkäuferin nach Feierabend nicht mehr nach. Oder über ein Netz Äpfel, das sie verschenkt hatte, weil die Äpfel ihr plötzlich schon reichlich angegammelt schienen. So etwas gehörte für jeden, der im Verkauf arbeitete, zum Alltagsgeschäft.

    Mit Luxusgütern war das allerdings etwas anderes. Ungewöhnliche Rabattierungen blieben hier nie unbemerkt.

    Größere Anschaffungen wurden deshalb, sofern die Gabe eingesetzt werden sollte, sorgfältig vom Rat geplant. Der Rat bestimmte den Zeitpunkt und den Ort der Gedankenlenkung. Es musste schließlich vermieden werden, dass mehrere Südentaler im gleichen Laden – womöglich mit dem gleichen Verkäufer – kurz nacheinander die gleiche Nummer abzogen. Man musste um jeden Preis verhindern, dass sich ein Verkäufer fragte, warum die größten Rabatte in der Geschichte seines Ladens immer in einem Zustand leichter Verwirrung erteilt wurden und immer an die Südentaler gingen.

    Aus dem gleichen Grund durften wir unser Gegenüber grundsätzlich nicht zwingen, uns etwas zu schenken. Das hätte jeder Verkäufer schon wenige Minuten nach der Manipulation so seltsam gefunden, dass er noch lange ausführlich über seine Beweggründe gegrübelt hätte. Und grübeln sollten – durften unsere Opfer nicht!

    In meiner Familie bezahlten wir für die meisten Dinge einfach den vollen Preis. Das hatte den Vorteil, dass wir nicht immer wieder auf Freigaben vom Rat warten mussten.

    Außerdem hatten wir – wie übrigens fast alle Südentaler – mehr als genug Geld. Meine Eltern hatten sich über die Jahre in Spitzenpositionen befördern lassen und alle ihre Gehaltsverhandlungen waren – oh Wunder, oh Wunder – sehr zu ihren Gunsten ausgefallen.

    So machten es alle berufstätigen Südentaler.

    Aber auch in Sachen Beförderungen und Gehaltserhöhungen achtete der Rat darauf, dass verdächtige Häufungen vermieden wurden. Mehr als zwei Südentaler arbeiteten nie im selben Betrieb und der Rat verteilte die Dorfbewohner sorgfältig über diverse Berufe in allen möglichen Branchen, in denen längere Geschäftsreisen nicht nötig waren, damit sich kein Netz aus misstrauischen Kollegen bilden konnte.

    Natürlich war in der Gegend über die Jahrhunderte dennoch aufgefallen, dass leitende Positionen gerne mit Südentalern besetzt wurden. Dass geheimnisvolle Kräfte daran schuld sein könnten, darauf war allerdings noch keiner gekommen.

    In den umliegenden Dörfern standen die Südentaler in dem Ruf „sehr fleißig und „furchtbar ehrgeizig zu sein. Ein guter Witz, oder? Dabei waren wir Südentaler einfach nur besonders manipulativ!

    Ganz Südental war auf Unauffälligkeit getrimmt. Unauffällig. Das war ein wichtiges Wort in unserem Dorf.

    Es gab nicht ein einziges interessantes Gebäude in Südental, nicht eine idyllische Gasse, noch nicht einmal hübsche Vorgärten. Während ich durch die Straßen schlenderte dachte ich nicht zum ersten Mal, dass es kaum ein reizloseres Kaff auf der Welt geben konnte als Südental.

    Sicher, hinter den grau und beige verputzten Fassaden ging es edel, in vielen Häusern sogar regelrecht luxuriös, zu. Ein Whirlpool und ein beheizter Innenpool gehörten bei uns ebenso zum Standard wie eine High-End-Multimediaausstattung und der eigene Billardtisch. Aber von außen sah man nichts davon. Damit Südental sogar aus der Luft stinknormal wirkte, gab es nur zwei Familien im Dorf, die einen Außenpool betreiben durften. Mehrfachgaragen wurden als Scheunen getarnt – und selbst davon durften nicht beliebig viele gebaut werden. Ganz gewöhnliche Dorffassaden säumten die Straßen. Die Fenster waren wie in jedem anderen Dorf mit billigen Kaufhausgardinen, Kakteen und Porzellanfiguren bestückt. Ein deprimierender Anblick, den nicht einmal die laue, duftende Sommerabendluft und das weiche Licht des Sonnenuntergangs retten konnten. Alles, damit kein Fremder je einen Grund finden würde, sich in Südental aufzuhalten.

    Südental den Südentalern.

    Furchtbar fand ich das!

    Kurz vor Max’ Haus kam mir Sina entgegen, die sich total herausgeputzt hatte: Sie trug ihre Lieblingsjeans, neue Sandalen und ein hautenges, tief ausgeschnittenes Top, das an mir mit meinen doch ausgeprägt weiblichen Formen verboten ausgesehen hätte, der zierlichen Sina aber super stand. Dass sie geschminkt war, sah sogar ich schon von weitem, außerdem kamen mir ihre langen, dunklen Haare viel lockiger vor als sonst!

    Ich selbst trug nicht die Spur von Make-up und steckte wie immer in Schlabber-T-Shirt, lockeren Jeans und Stoffturnschuhen. So verpackte ich meine etwas üppigen ein Meter achtzig am liebsten – bequem, lässig und unaufdringlich. Immerhin trug ich meine dicken blonden Wellenhaare offen und hatte sie sogar frisch gebürstet.

    „Ist es zu viel?", wollte Sina wissen, kaum dass ich sie erreicht hatte, und drehte sich langsam um die eigene Achse, damit ich sie von allen Seiten begutachten konnte. Spontan fühlte ich mich unsicher. In solchen Situationen wusste ich nie, ob eine freundliche Lüge oder die Wahrheit angebracht war.

    „Nein, gar nicht, du siehst toll aus!", behauptete ich. Na, wenigstens der zweite Teil des Satzes entsprach der Wahrheit. Sie sah toll aus, aber jeder würde sofort sehen, dass sie auf Beute aus war. Auf Max, selbstverständlich. Wahrscheinlich hatte sogar er das längst gemerkt.

    „Sehr gut! Sinas Haltung wurde sofort selbstbewusster nach dieser Bestätigung: Busen raus, Hintern rein, Kopf hoch. „Ich hoffe so, dass es heute endlich klappt mit Max. Glaubst du, es klappt endlich?

    „Hm", sagte

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