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Solace: Ein Leben zwischen Worten
Solace: Ein Leben zwischen Worten
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eBook286 Seiten4 Stunden

Solace: Ein Leben zwischen Worten

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Über dieses E-Book

»Bist du bereit, zurückzugehen?«

»Habe ich eine Wahl?«

»Nicht, wenn du endlich Frieden möchtest.«

 

Lucien und Milan sind beste Freunde seit Kindheitstagen und endlich bereit, richtig ins Leben zu starten. Mit dem hart erarbeiteten Schulabschluss in der Tasche möchte Lucien den Abschlussball nutzen, um mit seinem Schwarm Lena zu tanzen. Die Zukunft scheint unendliche Möglichkeiten für die Jungs aus einer Kleinstadt im Norden Deutschlands bereitzuhalten. Bis ein tragischer Unfall alles verändert und ihre Welt ins Wanken gerät. Sie stellen fest, dass sie vor alten Problemen nicht länger weglaufen können und sich der Wahrheit stellen müssen. Egal wie schmerzhaft diese ist.

 

»Solace« ist ein New Adult Roman mit autobiografischen Elementen über das Auseinandersetzen mit den eigenen Dämonen.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum27. Juni 2022
ISBN9783755416449
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    Buchvorschau

    Solace - Katarina Jensen

    Prolog

    PROLOG

    Milan hatte mich heulend auf dem Boden liegen sehen. Halbnackt, vollgepinkelt und aufs Tiefste gedemütigt. Ich wollte nur noch sterben. Dann wäre dieser furchtbar flammende Schmerz in mir vorbei. Wenn ich in mich hineinhörte, war da eine sehr laute Stimme, die versuchte, mir diesen Ausweg schmackhaft zu machen. Die Welt war dunkel und böse. Die Stimme behauptete, ich wäre dieser Dunkelheit nicht gewachsen. Sie stellte mir eine Möglichkeit zu entkommen bereit. Wie gerne würde ich es tun. Wem würde ich schon fehlen? Die Erkenntnis sackte durch meine vernebelten Gedanken: meiner Mutter. Auch Milan würde mich vermissen. Sofort war da wieder diese fiese Stimme, die mir versicherte, dass beide irgendwann über meinen Tod hinwegkommen und sich sogar eingestehen würden, dass es besser wäre, wenn ich nicht mehr da war.

    »Ob es wehtut?«, entwich es mir, ehe ich die Worte aufhalten konnte. Mist! Ich hatte sie nicht laut aussprechen wollen.

    »Ob was wehtut?«, hakte Milan argwöhnisch nach.

    Ich sah aus dem Augenwinkel, wie angespannt er plötzlich wirkte. Sein Rücken war gerade, sein Blick unruhig und die Schultern straff.

    »Sterben.« Ich hatte es begonnen, dann konnte ich es auch beenden.

    »Was für einen Scheiß redest du da?«

    Kapitel 1

    KAPITEL 01

    Diesen Sommer würde mein Leben richtig beginnen. Gerade einundzwanzig geworden und den Realschulabschluss in der Tasche, wollte ich die Ferien genießen. Noch früh genug müsste ich zusammen mit meinem besten Freund Milan Broschüren durchforsten, um die richtige Schule für uns zu finden, damit wir unsere Fachhochschulreife und danach Abi nachholen würden. Ich mauserte mich zu einem fleißigen Büffler, meisterte meine Klausuren und drohte am Hausaufgabenberg zu ersticken. Muffige, überheizte Klassenräume gehörten genauso zu meinem Alltag, wie die andauernden Geldsorgen meiner alleinerziehenden Mutter und die immer weiter steigenden Kosten für den Lebensunterhalt. Nun stand noch ein Abend zwischen mir und der sommerlichen Freiheit: der Abend des Abschlussballs, auf den weder Milan noch ich große Lust hatten. Dennoch würden wir uns auf meinen Wunsch hin dort blicken lassen. Dass ich ein Interesse daran hatte, lag an meiner Klassenkameradin Lena, der ich nun schon seit fast einem Jahr hinterherschmachtete. Jeder, auch sie selbst, wusste um meinen Crush auf sie, und manchmal kam es mir vor, als würde Lena diese Aufmerksamkeit genießen und sich an meinen sehnsüchtigen Blicken ergötzen. Das nahm ich ihr nicht übel, im Gegenteil. Wir fingen sogar an, ein Spiel daraus zu machen, dessen Regeln wir beide erst erforschen mussten. Obwohl sie mein Interesse zu erwidern schien, konnte ich es nicht über mich bringen, den ersten Schritt zu machen. Ich war einfach zu schüchtern. Sogar Milan ließ sich nicht davon abhalten, mir genau das unter die Nase zu reiben.

    »Komm schon! Es sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass sie dich mag!« Mein bester Freund schlug mir gespielt gegen die Schulter und lachte danach schamlos über meine Befangenheit Lena gegenüber. Vielleicht war es nicht zu übersehen, dennoch traute ich mich nicht und Lena scheinbar ebenfalls nicht. Falls sie mich überhaupt mochte. Es war zum Verrücktwerden. Darum hatte ich mir früh vorgenommen zum Abschlussball zu gehen, obwohl ich gesellschaftliche Anlässe nicht leiden konnte. Bevor das Schuljahr vorbeiging, wollte ich einmal ihre Hand halten und mit ihr tanzen. Ich blieb trotz dieses Wunsches feige und lud sie nicht ein. Ich hoffe einfach, sie mal für einen kurzen Moment allein auf dem Ball zu erwischen.

    Wie die meisten jungen Frauen in dem Alter war sie ständig umringt von einer Schar Freundinnen. Dennoch hoffte ich auf meine Chance. Milan stand mir bei, auch wenn er nicht müde wurde, mir zu sagen, dass er sich eher einen Abend an seiner Konsole vorstellen konnte, als sich in einen Smoking zu quetschen.

    Dennoch tat er es. Für mich.

    Wahrscheinlich fragt ihr euch, wer ich bin. Lucien. Ich bin Anfang zwanzig und stamme aus einer kleinen Stadt im Norden Deutschlands. Es ist so klein, dass es kaum jemand kennt, doch für mich ist es die ganze Welt.

    Milan war mein bester Freund, und zusammen gingen wir durch dick und dünn – im wahrsten Sinne des Wortes. Wir lebten in unserer eigenen Welt, und dass wir beide es mit Anfang zwanzig zum Realschulabschluss geschafft hatten, war einer Menge Arbeit und einem Lebenswandel zu verdanken.

    Uns beiden war bewusst, dass man einen Realschulabschluss in der Regel viel früher machte und in unserem Alter normalerweise dabei war, eine Ausbildung zu beenden. Milan und ich, obwohl die besten Freunde seit Kindestagen, taten uns nicht immer gut. Wir hatten lange einen Durchhänger. Wir wollten cool sein, keine Streber. Daher waren wir schon früh im Begriff gewesen, unser Potenzial zu verschenken. Tägliche Auseinandersetzungen mit unseren Eltern und Lehrern waren die Folge. Lästige Angelegenheit. Irgendwann, als wir unseren eher schlechten Hauptschulabschluss in den Händen hielten - durchtränkt von Faulheit und Tadel -, wurde uns bewusst, dass wir so nicht mehr weitermachen konnten.

    Gemeinsam bewarben wir uns für Ausbildungen, später für Schulplätze. Selbst mit einem außerordentlich guten Hauptschulabschluss war es beinahe unmöglich, eine Lehrstelle zu finden. Mit unserem Ich-war-viele-Jahre-stinkend-faul-Abschluss war da nichts zu machen.

    Also beschlossen wir, den Realschulabschluss an einer Berufsfachschule für Wirtschaft nachzuholen. Nach zwei Jahren und wiederholtem Ausharren auf der Reservebank in Form der Warteliste, war es endlich soweit. Die wenig ruhmreichen Zeiten eines Faulenzers, der das Leben und sich selbst nicht für wichtig nahm, waren vorbei. Denn jetzt strebte ich, zusammen mit Milan, nach dem Sommer die Fachhochschulreife, danach das Abitur und im Anschluss eventuell sogar ein Studium an.

    Wider Erwarten fielen uns die zwei Jahre auf der Berufsfachschule mit Fleiß und einer neu entdeckten Konsequenz leicht. Einzig die Suche nach einem vierwöchigen Praktikumsplatz, durch den ich die Möglichkeit bekam, mein durch die Schule angeeignetes Wissen praxisnah anzuwenden, hatte mir einige graue Haare beschert. Wenn man, wie ich, in einer kleinen Ortschaft lebte und zwar über einen Führerschein aber keinen fahrbaren Untersatz verfügte, waren die Gelegenheiten der beruflichen Selbstfindung sehr begrenzt. Letztlich war es Milans Vater, der mir den Hals rettete. In seiner Anwaltskanzlei durfte ich als Gehilfe, Kaffeespezialist und Kopiererfachkraft mein Wissen in die Praxis umsetzen.

    Milan war mein längster und bester Freund. Wir hatten uns noch vor dem Kindergarten mit ungefähr drei Jahren kennengelernt und waren seitdem so gut wie jeden Tag zusammen. Er kannte meine düsteren Momente, meine strahlende Freude und die pure Verzweiflung, wenn allem Anschein nach die Welt mich hasste. Ich kannte ihn ebenso gut. Meine Mutter meinte oft, wir könnten auch Brüder sein, und zumindest im Geiste waren wir das definitiv.

    Heute Abend sollte der von der Schule organisierte Abschlussball stattfinden. Der Plan war, mit meiner Mutter gemeinsam zu frühstücken und uns ihren Weltklasse-Kaffee servieren zu lassen. Wie es für meine Mutter typisch war, stand sie extra früh auf, um alles zu besorgen, was wir gerne aßen. Neben den frischen Brötchen, würde sie noch Gemüse als Topping mitbringen.

    Während sie unterwegs war, machten wir uns nützlich. Wie das eingespielte Team, das wir waren, räumten wir gemeinsam auf und deckten nebenbei den Frühstückstisch.

    Als meine Mutter kurze Zeit später die Küche betrat, zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen, und sie kochte Kaffee.

    Schließlich erfüllte ein himmlischer Duft die Küche, und ich schnitt die frische Gurke und die Paprika zurecht, während Milan noch ein paar fehlende Dinge aus dem Kühlschrank holte und meiner Mutter helfend zur Hand ging.

    Es war gemütlich. Wir sinnierten darüber, was den Abend passieren konnte und vielleicht auch würde.

    »Wirst du heute mit ihr tanzen?« Meine Mutter ließ mich kaum aus den Augen, als sie an ihrem Kaffee nippte, und ich fühlte mein Gesicht brennen.

    »Mama«, murmelte ich peinlich berührt.

    »Wat denn, mien Jung? Is‘ doch `ne normale Frage.«

    Ich rümpfte die Nase, nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck und genoss das Aroma in meinem Mund. Ich schindete Zeit, und beide wussten das, was sie dazu brachte, mich mit ihrem forschenden Blick festzunageln. Nach einem Seufzen ergab ich mich. »Ich werde sie fragen.«

    »Na siehste. War doch gar nich so schwer?«, strahlte mir meine Mutter entgegen. »Bringste sie dann auch bald mit na Huus?«

    »Ich weiß doch nicht einmal, ob sie wirklich mit mir tanzen möchte, geschweige denn, danach mit mir Zeit verbringt.«

    Ich hörte Milan seufzen, den ich anschließend mit einem skeptischen Blick betrachtete, worauf er mit den Augen rollte. »Du unterschätzt ihr Interesse mal wieder sehr, Bro.«

    »Jo, zumindest wat ihr mi allet über de Dern vertellt habt.«

    Ich seufzte und sah in das zärtlich dreinblickende Gesicht meiner Mutter. Manchmal wünschte ich, ich hätte dieses Vertrauen in mich, welches sie besaß.

    Erneut griff ich zu meiner heißgeliebten Tasse, die mit einem Foto von Milan, meiner Mutter und mir bedruckt war. Das Bild war letztes Jahr zu meinem Geburtstag entstanden und bedeutete mir viel, da wir alle drei lachten und fröhlich aussahen.

    »Wann wollte Janine kommen?«, hakte meine Mutter nach.

    Milan blickte über seine Tasse hinweg, die er angesetzt hatte, um einen Schluck daraus zu nehmen.

    Ich wich den Blicken am Tisch aus, war aber zu nervös, um das Thema „Lena" weiter zu vertiefen. »Gegen fünfzehn Uhr.«

    »Also habt ihr noch eine halbe Ewigkeit.« Meine Mutter lächelte.

    Der Rest des Frühstücks verlief sich in Nichtigkeiten. Milan erzählte von der gestrigen Zeugnisvergabe, als er gestolpert war und sich vor der Klasse aufs Gesicht gelegt hatte. Alle waren in lautes Gelächter ausgebrochen, und auch meine Mutter musste lachen. Normalerweise fand der Abschlussball am selben Tag statt. Dieses Jahr hatten sich die Absolventen dafür ausgesprochen, die Veranstaltung um einen Abend zu verschieben. So konnten sie sie mehr genießen, wenn sie den Morgen ausschlafen konnten. Niemand hatte dagegen gestimmt. Die Realität sah mit Sicherheit so aus, dass die meisten aus unserem Jahrgang die Nacht durchmachten und schließlich völlig verkatert zum Ball kamen. Vielleicht wurde zwischendurch höchstens ein Nickerchen gehalten. Milan und ich hatten den gestrigen Abend mit einigen Runden Counter Strike am Rechner verbracht und uns bis tief in die Nacht gegenseitig gekillt. Das war unsere Art, die sechswöchige Freiheit zu feiern.

    »Ich wäre gerne dabei gewesen«, meinte meine Mutter, während sie sich die Augen mit einer Serviette trocknete. Leider hatte sie am gestrigen Vormittag der Zeugnisvergabe die Frühschicht im Heim innegehabt. Sie war Altenpflegerin und als Springer eingestellt. Immer wenn Not am Mann oder an der Frau war, musste sie ran. Daher waren Planungen nur kurzfristig möglich und ein mobiles Transportmittel für sie außerordentlich wichtig. Sie hatte zwei Jobs. Während sie im Altenheim arbeitete, putzte sie an drei Abenden die Woche zu flexiblen Zeiten die Räume einer hiesigen Arztpraxis. Das Geld war knapp, aber wir kamen über die Runden, auch wenn wir uns keine großen Anschaffungen leisten konnten. Darum wollte ich endlich etwas aus meinem Leben machen und meine Mutter später finanziell unterstützen.

    Der Tag verrann schneller als erwartet, und bald standen Milan und ich in Smoking und Turnschuhen im Wohnzimmer, und meine Mutter knipste begeistert Fotos aus jedem erdenklichen Winkel. Mir stand so ein Aufzug nicht. Obwohl die Stoffe gut und bequem saßen, fühlte ich mich eingesperrt. So zupfte ich an der Jacke und Hose herum und machte sicherlich ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Denn genauso fühlte ich mich.

    »Guck nicht so griesgrämig. Du siehst bezaubernd aus.« Meine Mutter seufzte, und hatte vor Rührung Tränen in den Augen. »Mien Jung wird erwachsen.«

    »Mama, ich bin einundzwanzig«, grummelte ich.

    »Na und? Für mich wirst du immer mein kleiner Junge bleiben.«

    »Wenn du mir jetzt noch in die Wange kneifst, bin ich weg.«

    »Führe mich nicht in Versuchung.«

    Mein Blick musste Bände gesprochen haben, denn Milan und meine Mutter brachen in schallendes Gelächter aus.

    »Haha, nicht witzig«, maulte ich.

    »Ein bisschen schon«, entgegnete Milan und stieß mir in die Seite, was mir dann doch ein Lachen entlockte.

    »Janine sollte jeden Moment kommen, daher geht schon mal raus.«

    »Danke, Mama.« Schnellen Schrittes ging ich zu ihr und küsste sie auf die Wange. »Ich hab dich lieb.«

    »Ich finde, wir sollten noch ein wenig Bier mitnehmen.«

    Janine grinste mich an. Sie war meine beste Freundin, gerade mal achtzehn Jahre alt und ein überaus hübsches, etwas dickliches Mädchen, mit vielen Sommersprossen, einer kleinen Stupsnase samt Nerdbrille, die ständig rutschte, braunen Rehaugen und schwarz gefärbten Haaren, die ihren Schneewittchenlook noch mehr betonten. Ich hatte sie am Tag unserer Einschulung im Wirtschaftszweig kennen und sofort lieben gelernt. Der anfängliche Eindruck war ungezwungen und locker gewesen. Sie hatte sich am ersten Tage ungefragt neben Milan und mich an den Vierergruppentisch gesetzt und war seitdem nicht mehr von unserer Seite gewichen.

    Sie war ein Nerd und liebte Herr der Ringe und Harry Potter über alles. Ihre erste Frage, als wir uns vorstellten, war nach meinem Hogwarts-Haus. Damit war alles entschieden. Sie war Slytherin und ich eine Mischung aus Hufflepuff und Ravenclaw. Milan gehörte nach Gryffindor, was Janine nur mit einem Rümpfen der Nase kommentierte. Als würden ihre Häuser auf sie abfärben, hatten beide sich von der ersten Minute an ständig in den Haaren. Sie führten eine Art Hassfreundschaft - nur um dann doch, wenn die Situation es erforderte, wie Pech und Schwefel zusammenzuhalten.

    »Das ist keine Hollywood-Teenie-Komödie, außerdem sind nicht alle volljährig«, warf Milan ein und zeigte seine weißen Zähne mit einem Haifischgrinsen.

    Auf die Berufsfachschule gingen Schüler verschiedenster Altersstufen. Je höher der Abschluss eines Bildungszweiges, desto älter die Mitschüler. In unserer Klasse waren sogar einige wenige Schüler, die erst noch die Volljährigkeit erreichen mussten. Daher war der Ausschank von Alkohol auf dem Ball strikt verboten.

    Milan wurde nicht müde zu betonen, dass er keine große Lust auf den Ball hatte. Viel lieber würde er sich heute wieder mit einem Headset an seinen Rechner setzen und die Revanche einfordern, die ich ihm von gestern noch schuldig war. Ich hatte zwar ein Ziel an diesem Abend, Milan dagegen nicht. Er war wie Janine ohne Verabredung unterwegs, was nicht daran lag, dass er von niemandem eingeladen worden wäre. Er machte alles nur mit, um mir eine Unterstützung zu sein, und das rechnete ich ihm hoch an. Dafür seien Freunde da, meinte er noch, bevor wir in das Auto meiner Mutter stiegen. Vielleicht stimmte das, aber das bedeutete nicht, dass ich ihm gegenüber keine Dankbarkeit empfinden sollte.

    Janine hatte sich freudig bereit erklärt, die erste Fahrt zu übernehmen. Ich wäre für die Rückfahrt verantwortlich, da ich in der Regel keinen Alkohol zu mir nahm. Janine selbst konnte keinen gesellschaftlichen Anlass ablehnen und kam aus Spaß am Feiern mit.

    Sie schürzte auf Milans Einwand hin die Lippen, und mir fiel es schwer, mich vom Beifahrerplatz aus auf die Straße zu konzentrieren. »Milan, du bist so eine Spaßbremse!«

    »Warum? Weil ich es unnötig finde, Alkohol auf eine Party zu schmuggeln, die von der Schule ausgerichtet wird, auf der Minderjährige sein und sicherlich auch einige Lehrkräfte aufwarten werden, die ich dann nach dem Sommer in der Fachhochschule weiterhin ertragen muss?«

    »Genau darum mag niemand Gryffindor«, zischelte sie und schaute in den Rückspiegel.

    »Bullshit! Man muss nun mal tun, was nötig ist. Darum haben Hermine, Ron und Harry, die alle drei unfassbar coole Gryffindors sind, die Welt vor Voldemort gerettet.«

    Während ich mir ein Lachen verkneifen musste, warf Janine Milan erneut einen giftigen Blick vom Fahrersitz aus zu, den er durch den Rückspiegel genießen durfte. Ich grinste vor mich hin. Solange sie mich nicht so ansah, fand ich das alles außerordentlich witzig.

    »Findest du das nicht etwas sehr melodramatisch, die Rettung der Welt mit dem Ausschenken von Alkohol zu vergleichen?« Janines Tonlage allein ließ Milan deutlich hörbar seufzen.

    »Nein, überhaupt nicht.« Um seine Worte noch zusätzlich zu unterstützen, schüttelte Milan den Kopf.

    »War ja klar«, meinte sie murmelnd, und ich lachte leise, während sie Milan weiterhin böse Blicke zuwarf.

    Mein bester Freund blieb unbeeindruckt von Janines Versuch, ihn in Grund und Boden zu starren. Milan war sehr bodenständig und sein Verstand auf Vernunft ausgelegt. Allem, was ihm unlogisch erschien, ging er aus dem Weg. Seine forschenden hellbraunen, fast bernsteinfarbenen Augen huschten neugierig in der Welt umher, und seine dunklen, an den Seiten kurz geschnittenen Haare ließen die Mädchen schwach werden. Während ich eher als übergewichtig einzuordnen war, galt Milan als schlaksig. Er war sehr groß, was ihn langgezogen wirken ließ. Den Eindruck unterstrich er noch mit seinen ausgebeulten Hoodies, bedruckt mit witzigen Sprüchen. Trotzdem war sein eher sehniger Körper muskulöser, als es auf dem ersten Blick den Anschein hatte. Er hatte nur zwei äußerliche Makel, und das waren seine leicht schiefe Nase und eine feine, verblasste Narbe auf der Wange.

    Als Kinder waren wir auf dem Spielplatz zu übermütig gewesen. Während wir gewetteifert hatten, wer denn am höchsten schaukeln und am weitesten abspringen konnte, hatte Milan das Gleichgewicht verloren, war mit dem Gesicht voraus im Sand gelandet, hatte einen Stein getroffen und sich im Alter von fast sechs Jahren die Nase gebrochen. Nun litt er an einer schiefen Scheidewand, was ihn mitunter nasal klingen ließ, und an einer etwas aus der gradlinigen Form geratenen Nase. Das tat seiner Beliebtheit allerdings keinen Abbruch, sondern ließ ihn noch interessanter auf andere wirken. Die Mädchen buhlten um seine Aufmerksamkeit, und die Jungs verstanden sich prächtig mit ihm, da Milan sich gut anpassen konnte. Seine Kunst war es, genauso viel von sich preiszugeben, um bei anderen Interesse zu wecken, aber niemals zu viel zu verraten, damit ihn niemand einnehmen konnte. Nicht einmal ich wusste um alle seine tiefen Geheimnisse, auch wenn ich der Meinung war, ihn wirklich gut zu kennen.

    »Ich finde dennoch, dass allen etwas Alkohol nicht schaden würde. Vielleicht nehmen dann auch die Lehrer ihren Stock aus’m Arsch.« Janine lenkte ihren Blick auf die Straße.

    Wir lebten in Brunsbüttel, einem kleinen Küstenstädtchen im Norden Deutschlands. Irgendwo im Nirgendwo im Kreis Dithmarschen, ungefähr knapp einhundert Kilometer von Hamburg, dem Tor zur Welt, entfernt. Unsere Schule befand sich in der nächsten größeren Ortschaft, landeinwärts. Auch wenn diese Stadt fast doppelt so groß war wie unsere Heimat, hatten beide Städte eines gemeinsam: Sie starben einen langsamen Tod. Das war nicht ungewöhnlich. Die meisten kleinen Dörfer zogen wegen der Verlockungen der Großstädte den Kürzeren und verpassten den Anschluss. So war alles in einem ewigen Wandel.

    Milan lachte leise. »Ich habe auch nicht gesagt, dass es ihnen schaden würde, und mit dem Stock im Arsch gebe ich dir sogar recht. Ich sagte nur, dass es nicht schlau wäre, den wenigen Minderjährigen Alkohol unter der Nase von Lehrern auszuschenken.«

    Wieder seufzte Janine. »Du bist so ein Spießer.«

    »Dennoch habe ich recht.«

    »Ja, ja«, murrte sie erneut, lehnte sich zurück und legte beide Hände aufs Lenkrad. »Und wie soll der Abend nun ablaufen?«

    »So wie alle gesellschaftlichen Anlässe, an denen wir die letzten zwei Jahre teilgenommen haben«, gab ich zurück.

    Sie nickte. »Also uns da blicken lassen, jedem, den wir kennen, zuwinken, dann uns in eine Ecke setzen, während wir über die neuste Folge ‚The Walking Dead‘ fachsimpeln -«

    »Was wir auch zu Hause hätten machen können«, warf Milan ein.

    »Um dann irgendwann vor Langeweile wieder nach Hause zu fahren?« Janine ließ sich von Milan nicht beirren.

    »Aus eurem Mund klingt das sehr negativ.«

    »Ach, was du nicht sagst«, meinte sie ironisch und streckte mir verspielt die Zunge raus, woraufhin ich mit den Augen rollte.

    »Außerdem wird es kaum ‚The Walking Dead‘ sein, worüber das diskutieren.« Meinen gönnerhaften Ausdruck in der Stimme konnte ich kaum verbergen.

    »Ach, und warum?«

    »Weil wir die ganzen Episoden schon längst analysiert haben. Wir befinden uns im Sommerloch, liebe Nine.«

    »Erstens lenkst du ab, und zweitens war das nur ein Beispiel«, konterte sie. Sie hatte ja Recht und ich verstand ihren Einwand, auch wenn ich ihn etwas ins Lächerliche gezogen hatte. Keiner von uns war eine Partymaus, auch wenn Janine es genoss, ab und an im Mittelpunkt zu stehen und Spaß zu haben. Es gab so gesehen keinen Grund, bei diesem Abschlussfest aufzutauchen. Wir hätten uns auch einen gemütlichen Filmabend mit Snacks und Netflix machen können. Sie taten es für mich. Für meine Chance, den besten Abend meines bisherigen Lebens zu haben.

    Vielleicht wurde der Abend interessant, wenn sich die Abschlussklassen der verschiedenen Bildungszweige in der vor Schweiß und Käsefüßen stinkenden, schuleigenen Sporthalle trafen, damit sie Fahrgemeinschaften mit Menschen bilden konnten, die sich wenn überhaupt flüchtig kannten, um dann ins sogenannte Colousseum in Wilster zu fahren. In dem ich noch nie gewesen war und von dem ich nur wusste, dass dort am Wochenende gerne Partys veranstaltet wurden. Wenn ich an ein Colosseum dachte, dann kam mir das in Rom in den Sinn. Mit altrömischen Gladiatorenkämpfen würde der Abschlussball hoffentlich nicht viel gemeinsam haben. Man hätte sich auch dort treffen können, anstatt diesen Umweg zu nehmen, denn die kleine Stadt befand sich genau auf dem Weg, wenn man über die Landstraße fuhr. Aber irgendjemand aus den anderen Zweigen hielt es für eine tolle organisatorische Idee, diese Fahrgemeinschaften zu bilden, damit niemand ausgegrenzt wurde, der kein Auto oder noch keinen Führerschein besaß.

    »Also, Lucien?« Janine sah zu mir.

    Ich brummte.

    »Wirst du heute Nägeln mit Köpfen machen?« Wissend zuckten ihre Augenbrauen, während sie mich mit einem schelmischen Grinsen betrachtete.

    »Vielleicht«, wich ich aus. Wenn ich jetzt ein Versprechen abgab, würden mich beide nicht

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