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Der Treffpunkt - Eine Chronik
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eBook274 Seiten4 Stunden

Der Treffpunkt - Eine Chronik

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Über dieses E-Book

Da ist ein Paar, wie es ungleicher nicht sein könnte: Er, Dr. Kaspar Fischer, ein sehr von sich selbst überzeugter Genussmensch, so dominant wie borniert und sie, Sabina Karsten, nach ihrer traumatisierenden Kindheit zur Abweichlerin und Außenseiterin geworden, schwierig und unangepasst. Kein Wunder, dass die Beziehung in die Brüche ging. Trotzdem sind die Beiden weiter ineinander verstrickt, und als Sabina plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist wächst in Kaspar die Unruhe. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit macht er sich auf Spurensuche. Eines Tages erhält er einen Brief von Sabina aus Südamerika. Sie bittet ihn, zu ihr zu kommen, um ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor sie sich in ein neues Leben aufmacht. Kaspar folgt ihrer Aufforderung und fliegt nach Chile, eine fatale Entscheidung . . .
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Dez. 2017
ISBN9783745071047
Der Treffpunkt - Eine Chronik

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    Buchvorschau

    Der Treffpunkt - Eine Chronik - Stephanie Schmidt-Salzmann

    Stephanie Schmidt-Salzmann

    Der Treffpunkt

    Eine Chronik

    Roman

    Da ist ein Paar, wie es ungleicher nicht sein könnte: Er, Dr. Kaspar Fischer, ein sehr von sich selbst überzeugter Genussmensch, so dominant wie borniert und sie, Sabina Karsten, nach ihrer traumatisierenden Kindheit zur Abweichlerin und Außenseiterin geworden, schwierig und unangepasst. Kein Wunder, dass die Beziehung in die Brüche ging. Trotzdem sind die Beiden weiter ineinander verstrickt, und als Sabina plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist wächst in Kaspar die Unruhe. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit macht er sich auf Spurensuche. Eines Tages erhält er einen Brief von Sabina aus Südamerika. Sie bittet ihn, zu ihr zu kommen, um ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor sie sich in ein neues Leben aufmacht. Kaspar folgt ihrer Aufforderung und fliegt nach Chile, eine fatale Entscheidung . . .

    Ein phantastisches Buch. Die Autorin hat das Zeug dazu, unser Leiden an der Welt ertragbar zu machen.

    Die Woche, Regensburg

    Ein Rezensent, der Krimi-Schlüsse in die Welt hinausposaunt, gehört gehängt!

    Mittelbayerische Zeitung, Regensburg

    ebook Ausgabe 2017

    Copyright:

    © Stephanie Schmidt-Salzmann

    Chodowieckistraße 24, 10405 Berlin

    www.schmidt-salzmann.de

    Druck:

    epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin 2017

    Cover:

    ISBN:

    Printausgabe: Der Treffpunkt, 1. Auflage 1991

    Karin Fischer Verlag, Aachen 1990

    ISBN 3-927854-29-8

    Ausgerechnet in meiner Küche, wo ich mich am sichersten fühle, ging der ganze Wahnsinn los.

    Es war mir ein Anliegen, die Geschichte des hinter mir liegenden Jahres in einer Art Chronik zusammenzustellen.

    Jetzt werde ich in den Keller gehen und sie mit allem, was Erinnerungen daran in mir wachrufen könnte, in eine Kiste packen. Vielleicht werden meine Enkelkinder, sollte ich je welche haben, es wieder ausgraben.

    27.09.1987, Kaspar Fischer

    September

    Immer, wenn ich Geschirr spüle oder sonst welchen nichtssagenden Tätigkeiten nachgehe, fällt mir plötzlich Sabina ein. Seit einiger Zeit schaffe ich es einfach nicht, mich bei Hausarbeiten zu entspannen. Im Gegenteil, ich fange an, mich in Grübeleien zu versteigen. Die stummen Selbstgespräche, die ich während meiner Hantierungen führe, münden jedes Mal unweigerlich ins Thema »Sabina«. Zum Beispiel so: »Wie gut, dass ich mich leicht ins Unvermeidliche fügen kann (dreckiges Geschirr, politische Weltlage). Ich bin eben ein bürgerlicher Mensch mit solider bayrischer barock-katholischer Prägung. Ich muss nur aufpassen, dass ich mich nicht zu sehr zum Pedanten entwickle.« – Jetzt sehe ich wieder die wütende Sabina vor mir, die mir ihren Vater vormacht, spähend durchs Zimmer schleicht und, wenn sie auf dem Teppich ein Haar oder einen Krümel entdeckt, sich umständlich bückt, um den Fund zum nächstbesten Aschenbecher zu tragen, wo sie ihn so sorgfältig deponiert, als hätte sie ihn aus der Tiefsee geborgen.

    Ich muss schon wieder lachen, beim bloßen Gedanken daran! Ich habe es gleich übernommen, bin in meiner Stube herumgegangen und habe Sabinas Vater beim Aufhebespiel gespielt.

    Eigentlich habe ich viel Humor. Meine eigenen Schwächen amüsieren mich köstlich. Neulich, ich hatte opulent aufgekocht, sagte doch ein Gast beim Gehen, es wäre sehr nett gewesen bei mir, nur ich hätte ein bissl gestört. Mein Zwerchfell wäre fast zerborsten.

    Was habe ich mir nicht alles von Sabina bieten lassen! Gleich nachdem wir uns kennengelernt hatten, hat sie mich als dicklichen, phlegmatischen Biedermann bezeichnet, nur, weil ich mit ihr in der Küche meiner Mutter Plätzchen backen wollte! Eigentlich unglaublich. Aber meine Verliebtheit in sie und mein Sinn fürs Originelle haben mich darüber hinweggerettet. Allerdings hab ich’s ihr dann genauso gezeigt. Ich kann nämlich auch ganz anders.

    Wenn sie mich nicht immer so schikaniert hätte! Ich konnte mich kaum vor einem Stadtpanorama ergehen oder bei der Betrachtung eines Denkmals in Begeisterung geraten, da wurde ich schon ein Schmierenschauspieler aus der Provinz genannt, der einen euphorischen Studienrat darzustellen versucht!

    Manchmal kann ich selbst kaum glauben, dass ein Mensch so gutmütig sein kann wie ich.

    Aber nur bis zu einem gewissen Punkt, dann werde ich rabiat. Dann sag’ ich mir: Man darf den Frauen nicht zu viel durchgehen lassen! Agnes ist ja gottlob brav. Jedenfalls meistens. Und immer für mich da. – Diese Sabina! Die blöde Geiß – wo steckt sie nur? So lange hat sie sich noch nie davongemacht, ohne sich bei mir abzumelden. Schon kurios. Ich war bisher einer der wenigen, die sie über ihre Vorhaben informiert hat.

    Alles will ich natürlich auch nicht wissen. Überhaupt, wenn es was Unangenehmes ist, weil ich mich dann verpflichtet fühlen müsste, mir Sorgen zu machen.

    Ich sorge mich gar nicht gern um jemanden. Bringt ja auch nichts. Jeder soll sich selber helfen, das ist meine Devise. –

    Warum hat sie sich in diese Ecke zurückgezogen? Warum hat sie so wenig erzählt? Früher war das anders. Und nie was Vernünftiges zu tun. Wollte nicht. Ist ja ihre Sache, aber ich könnte das unmöglich. Ich muss immer etwas zu tun haben ...

    Wenn ich an Sabinas Scheu vor der Hausarbeit denke! Sie hat mir mal gesagt, das Ameisengewimmel in den Geschäften ginge ihr so auf die Nerven, dass sie keine Erdnuss im Kühlschrank hätte. Wie sie sich wohl ernährt hat?

    So laufen meine Gedanken im Kreis herum, wenn ich allein bin und mich auf nichts Wichtigeres konzentrieren muss.

    Agnes stört das schön langsam auch. Immer öfter paradiere ich zu vorgerückter Stunde, das Weinglas in der Hand, kurz bevor wir ins Bett gehen auf und ab, während sie auf dem Sofa sitzt und mich argwöhnisch beobachtet. Ich versuche auf diese Weise Ordnung in das Sammelsurium von aufkeimenden Ahnungen in meinen Kopf zu bringen. Irgendwann bemerkte Agnes lapidar, ich solle der Sache doch lieber nach-, statt ständig auf- und abzugehen. Sie ist im übrigen die Frau, mit der ich alt werden will, weil sie es geschafft hat, mit mir in einem Grad von Harmonie zu leben wie keine andere zuvor. Schon gar nicht Sabina. Mit der kann man auch in keiner Harmonie leben, sondern nur in Reibung. Wenn ich sie doch endlich beiseite lassen könnte!

    Agnes. Agnes hat alles, was meinem Ideal vom Urweiblichen entspricht. Das leicht Spröde an ihr unterstreicht wirkungsvoll ihre Mädchenhaftigkeit. Nicht wie bei Sabina, die durch und durch spröde ist, sondern mit darunterliegender Hingabefreude, ja, mit genau dem richtigen Maß anschmiegsamer Sinnlichkeit und dem dazugehörigen Willen zur Anpassung. Einfach ideal! Sie gibt mir das Gefühl, mich zu brauchen, und das wiederum brauche ich. Ich habe Agnes von Anfang an als reizvolle, artige Pensionatsschülerin gesehen, aber nicht zu artig, damit ich mir vorstellen kann, was ich mit ihr mache, wenn sie ungezogen ist (und dann mache ich es auch). Die Utensilien, die ich dafür benötige, liegen oben auf dem Schrank. – Trotz ihrer Kratzbürstigkeit war Sabina für mich ein rührendes, aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Ob das der Grund ist für diesen Zustand, dessen Neuartigkeit mich selbst erstaunt, nämlich eine plötzliche Besorgnis um sie, die doch schon vor Jahren die Frechheit besessen hat, sich mir nichts, dir nichts von mir zu trennen? Ich werde es wohl nie begreifen.

    Vor kurzem hab’ ich dann den Entschluss gefasst, ihre Mutter anzurufen, um unter einem Vorwand unauffällig Nachforschungen über ihren Verbleib anzustellen. Ich tat möglichst harmlos, denn Mütter bringen oft genug fürchterliche Lawinen ins Rollen, wenn man sie aufschreckt. Außerdem hatte ich keineswegs vor, tiefer in was hineingezogen zu werden, das mir vielleicht Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Herausbekommen habe ich dabei nur, dass Sabinas nächste Angehörige offenbar wenig Interesse für mein verstecktes Anliegen aufbringt. Sie redete recht munter auf mich ein. »Ja, Herr Kaspar, so eine Überraschung!« Dass ich mal anrufe! Wie es mir denn geht? Ob ich immer noch die tolle Stellung habe, bei der ich so viel herumreise? Nein? Ach, eine besserbezahlte Stelle – Forschungsauftrag der Stadt? Gratuliere, ich bin eben ein Glückspilz!

    Ihre Tochter? Nein, tut ihr leid, von der hört sie selten. Im Mai war sie nochmal zu Besuch. Nicht sehr erfreulich, der Besuch, aber zu erzählen gibt es nicht viel darüber. Wenn sie sich aufregt, steigt ihr Blutdruck, und sie kriegt Ohrensausen, also keinerlei Aufregung.

    So, ein Päckchen habe ich für Sabina? Na ja, das kann ich schon schicken! An Weihnachten wird sie schon wieder auftauchen, es ist immerhin bald Oktober.

    Wenn sie halt mal was Gescheites machen würde, aber bei ihr klappt ja nichts. Dabei waren so große Hoffnungen in sie gesetzt worden. »Sie ist eben nicht so glücklich veranlagt wie Sie. Gell, Herr Kaspar, das kennen Sie auch!«

    Wenn sie nichts von ihrer Tochter hört, dann wundert’s sie nicht, aber bei mir ... na ja, ist vielleicht ganz gut so, denn Sabina ist oft dermaßen negativ. Bloß kein Ohrensausen!»

    Im Alter braucht der Mensch ein Hobby, dann ist er nie allein, gell?« Einen schönen Gruß soll ich meiner Mutter ausrichten. »Die ist ja so vital, bewundernswert!«

    Sabina hat auch immer gesagt, sie soll sich nicht in alles hineinsteigern. Also, sie regt sich jetzt überhaupt nicht auf. Mit Sabina war es ja immer schwierig, aber das braucht sie mir wohl nicht extra sagen. »Sie kennen sie ja, Herr Kaspar!«

    Sie spielt erst Mal toter Käfer. »Ist meistens das Beste, gell?« Aber wenn ich was höre, soll ich ruhig wieder anrufen. »Auf Wiedersehen, Herr Kaspar!«

    Danach ließ ich die Sache eine Weile auf sich beruhen. Wenn ihre Mutter es so sah, konnte es mir schließlich auch wurscht sein. Ich konnte mich in aller Ruhe meiner Arbeit an einem Artikel über die monarchistische Nachkriegsbewegung in Bayern widmen. Gäbe es sie heute noch, ich wäre ihr beigetreten und hätte mich um den Privatsekretärsposten bei Prinz Rupprecht beworben. Das wäre genau der richtige Posten für mich.

    Schon in meiner Kindheit haben mir die romantischen Effekte der Geschichte gefallen – die Machtkämpfe zwischen Klerus und profanen Fürsten, das Intrigenspiel am Hof von Versailles, eingefädelt von dunklen Hintermännern und grauen Eminenzen, die in letzter Minute abgesandten Depeschen, Kuriere, die auf schweißnassen Pferden die Allee der Tuilerien hinabsprengen ... Welch ein faszinierendes Szenario meiner privaten historischen Dramen! Wörter wie »Koadjutor«, »Fürstbischof« oder »Kurienkardinal« bereiten mir ein sinnliches Vergnügen.

    Ich bedaure immer wieder, in eine so prosaische Zeit hineingeboren zu sein. Wenigstens ist es mir durch meine Arbeit vergönnt, die Faszikelberge der Vergangenheit genussvoll zu durchforsten.

    Tagsüber sitze ich über meinen aus dem Staatsarchiv geliehenen Büchern, die Abende verbringe ich mit Agnes. Manchmal überfällt mich, wenn wir nach dem Essen bei Wein, Kerzenschein und Barockmusik zusammensitzen, eine dankbare Rührung über unseren Gleichklang. Agnes ist das einzige weibliche Wesen, dem ich in der Küche eine Könnerschaft zugestehe, die an meine heranreicht, ohne es deshalb als Konkurrenz zu empfinden. Und ich will bei meiner Selbstbetrachtung nichts ausklammern, nein, ich möchte sogar ganz besonders meine sinnliche Seite hervorheben, weil ich auf Agnes nach nunmehr fünf Jahren und dreiundzwanzig Tagen, seitdem ich mich im Restaurant einfach neben sie gesetzt habe, noch genauso scharf bin wie in der ersten Nacht!

    Diese erste Nacht war, trotz meiner Trunkenheit, die Initialzündung, ohne die Agnes wohl dasselbe Schicksal beschieden gewesen wäre wie vielen Frauen seit Sabina.

    Doch diese Phase meines Lebens ist abgeschlossen. Bin ich nicht inzwischen in einem Alter, in dem ich aufgehört habe, mir ständig beweisen zu müssen, ein für Frauen attraktiver Mann zu sein? Trotz meiner zunehmenden Körperfülle und kleinen, altersspezifischen Gebrechen kann ich der Zukunft beruhigt entgegensehen.

    In Zeiten, in denen ich wie jetzt ganz meinem selbstgewählten Gusto lebe, könnte es mir gefallen, unsterblich zu sein.

    Wie sich aber herausgestellt hat, ist meine Ruhe nicht so recht stabil. Eigentlich ist gar nichts Besonderes passiert. Am Wochenende habe ich mit Agnes und einem befreundeten Paar einen längeren Spaziergang durch die Ausläufer des Bayrischen Waldes gemacht. Wir sind abends zurückgekommen, gingen zum Essen und danach, auf eine Flasche Wein, ins »Bon Fin«. Als ich mich später zu Hause ins Bett legte, war ich angenehm müde und sehr zufrieden.

    Ich schlief sofort ein und mir träumte, ich ginge wieder mit Agnes durch den Wald. Unser Weg führte einen schmalen Pfad entlang, der eine mit felsigem Gestein gefüllte Schlucht säumte. Ich kannte den Weg und wusste, dass unten in der Schlucht ein kleiner Bach war, den man in der Tiefe plätschern hören konnte. Aber ich hörte nichts. Es war so still um mich herum, dass es mir den Atem nahm. Auf einmal war Agnes fort. Immer noch folgte ich dem Pfad, obwohl ich kaum noch vorwärtskam, weil meine Beine sich unter großen Mühen nur unendlich langsam hoben und senkten. Mein Körper dagegen war merkwürdig schwerelos geworden und schwebte, wie ein Luftballon an der Schnur eines Kindes, über den kaum noch beweglichen Beinen. Ich war in zwei Teile zerfallen, deren oberer willenlos am unteren hing. Wo war Agnes?? Den Kopf zu wenden, um mich nach ihr umzusehen, war unmöglich, es zog mich immer tiefer in die lautlose Wildnis hinein. Der Ruf, den ich nach ihr ausstoßen wollte, erzeugte keine Schallwellen, sondern blieb ein unhörbarer Gedanke. Ich hatte nichts mehr unter Kontrolle, selbst meine Augen gehorchten mir nicht mehr. Sie waren starr geöffnet und geradeaus gerichtet. So musste ich vor mir eine Art Lichtung entdecken, auf der eine schemenhafte Gestalt stand und mir zuwinkte. Wer war das? Was wollte sie von mir? Ich lief und lief, aber ich kam nicht von der Stelle. Die Lichtung rückte nicht näher, sie blieb, wo sie war. Mein Herz schlug zum Zerspringen, die Anstrengung wurde zur Angst, ich rang nach Atem, versuchte, um mich zu schlagen ...

    Morgens ging mir der Traum noch immer im Kopf herum, so dass ich ihn beim Frühstück Agnes erzählte. Sie knabberte eine Weile nachdenklich an ihrer Semmel herum. Dann fragte sie mich auf halb ironische, halb ernsthafte Weise: »Vielleicht hat das was mit Sabina zu tun?«

    »Wie kommst du denn darauf?«

    Agnes legte die Semmel weg und zündete sich eine Zigarette an. »Ich weiß nicht, ich hab’ eben so ein Gefühl. Sie beschäftigt dich anscheinend sogar im Traum.«

    Das klang leicht gekränkt. Bei Agnes geht so was schnell.

    »Wenn der Traum bedeuten soll, du bist auf der Suche nach ihr, dann such sie halt!«

    »Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich hab’ schließlich noch was anderes zu tun!«

    »Jeder hat immer was anderes zu tun. Aber manchmal sollte man vielleicht doch das eine und nicht das andere tun.«

    Ich sah schon, Agnes wurde wieder sphinxisch, meinte aber durchaus, was sie mir durch Rauchwolken hindurch sagte.

    Wenn man mich direkt oder indirekt zu etwas bewegen will, das mir unbequem ist, und sei es noch so wichtig, dann vergeht mir erst recht die Lust. Ich sagte ihr, dass ich jetzt wirklich keine Zeit hätte, Sherlock Holmes zu spielen, setzte mich an meinen Schreibtisch und fing an zu arbeiten.

    Agnes, geschickt wie immer, wartete ab, ohne das Thema nochmals anzuschneiden. Sie sah mich nur hin und wieder an, als sei ich krank. Das war ich auch, in gewisser Hinsicht, wenn »im eigenen Saft zu kochen« eine Krankheit ist.

    Am Mittwoch hatte ich nichts weiter zu tun und da hielt ich es nicht mehr aus. Bei meiner Mutter, deren Vertrauensposition ihr die Aufgabe eingebracht hatte, haushüterische Dienste während der Abwesenheit der Besitzerin zu verrichten, nahm ich Sabinas Wohnungsschlüssel an mich. Damit fuhr ich los, entschlossen, mit den Recherchen zu beginnen.

    Mir war etwas unbehaglich zumute, als ich das unscheinbare Haus betrat, in dem sie wohnt. Meine Mutter war offensichtlich pflichtvergessen gewesen, denn Sabinas Briefkasten quoll fast über von Rechnungen, Zeitschriften und Reklamebroschüren. Glücklicherweise begegnete mir niemand auf der Treppe, der mir hätte ansehen können, dass mich bei dem, was ich vorhatte, tatsächlich so was wie ein schlechtes Gewissen plagte. Es war zwar nichts Anstößiges dabei, aber Kleinbürgerhäuser lassen mich auf ärgerliche Weise zu einem schuldbewussten Knaben schrumpfen, und ich versuchte, diesem Effekt mit einer betont harmlosen Miene zu begegnen. Die Wohnungstür war doppelt versperrt. Nur mit einiger Mühe brachte ich das alte Schloss auf. Im Flur roch es muffig. Hier war seit Wochen nicht mehr gelüftet worden. Ich durchquerte die Küche und öffnete ein Fenster. Die Zimmerpflanzen, die davor wie verhutzelte alte Weiber in ihren Töpfen hingen, boten einen trostlosen Anblick. Meine saumselige Mutter hatte auch das Gießen grob vernachlässigt.

    Auf dem Küchentisch lag ein Haufen ähnlich nutzloser Post wie der, den ich in den Händen hielt. Daneben, in einem Körbchen, bogen sich zwei vergessene Schwarzbrotscheiben vor Trockenheit. Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, warum Mutter die nicht weggeworfen hatte. Die locken doch Ratten und Mäuse an! Aber sie nimmt eben nur das mit, was sie noch brauchen kann, genau wie ich. Der Kühlschrank, den ich, meiner Gewohnheit entsprechend, daraufhin inspizierte, war leer bis auf eine Essigflasche und auf ein paar austreibende Kartoffeln. »Typisch Sabina«, dachte ich und warf alles in den Mülleimer.

    Ich wanderte durch die Wohnung und stieß auf ihr wie üblich ungemachtes Bodenlager, das sie hartnäckig statt eines Bettes beibehalten hat, und fand, dass es aussah, als hause hier ein Schulmädchen.

    Sabina hat immer zur Ärmlichkeit geneigt, ungeachtet ihrer familiären Verhältnisse. Sie hat nie Standesbewusstsein gezeigt. Wenn ich daran denke, in was für Löchern sie gehaust hat, als sie noch studierte! Zum Beispiel der Verhau, in den ich ihr gleich am ersten Abend unseres Kennenlernens gefolgt bin. Damals wohnte sie mit einem anderen Mädchen zusammen, das wenig dazu neigte, nach seinem Einzug noch einen Finger zur Aufrechterhaltung der Ordnung zu krümmen, und Sabina war aus Trotz ihrem Beispiel gefolgt. Alles war zu einem unbeschreiblichen Zustand verkommen, nur ihr Zimmer stellte einen rührenden Hort improvisierter Gemütlichkeit inmitten des Chaos dar. Viele ihrer Möbelchen sind noch da, großzügig in ihrem Domizil verteilt und noch abgenutzter als früher. Wie glücklich war ich damals über meine schnelle Landung in ihrem Nest gewesen!

    Ich musste mich gewaltsam aus meinen sentimentalen Betrachtungen losreißen, weil schon ganz schön Zeit vergangen war. Ich beschloss, auch die Topfpflanzen wegzuwerfen. Die waren eh nicht mehr zu retten. Dann sichtete ich die Post auf dem Küchentisch. Es waren kaum persönliche Schreiben dabei. Zwei oder drei geschlossene Briefe von einem U. Philipp aus Hamburg und eine Postkarte von ihrer Mutter, auf der nur die Zeile stand: »Wenn du zurück bist, melde dich doch mal! Gruß, Mama.«

    Sie scheint nicht mehr mit vielen Leuten in Korrespondenz zu stehen. Aber so ist das heute. Man telefoniert. Früher haben wir uns wenigstens noch unterhaltsame Briefe geschrieben, hauptsächlich, um den Ärger abzureagieren, den wir uns gegenseitig gemacht haben.

    Ich hatte keine Schwierigkeiten mit meiner detektivischen Arbeit, weil ich Sabinas Aufbewahrungsorte für Persönliches kenne. Das Gesuchte befand sich, wie erwartet, in der untersten Schublade ihrer Kommode.

    Aufzeichnungen, Briefe (auch meine), Berge von Fotos. Es war mehr als erwartet.

    Ich nahm einen dicken Stapel loser, von ihr beschriebener Blätter und steckte ihn in die Plastiktüte, die ich vorsorglich mitgebracht hatte. Aus der Post zog ich die Briefe von U. Philipp als die einzigen persönlichen Zeugnisse jüngeren Datums. Bevor ich die Wohnung wieder verließ, schrieb ich einen Zettel und legte ihn auf den Küchentisch: »Liebe Sabina! Bin aus Sorge bei dir „eingebrochen". Habe deine Notizen mitgenommen. Man weiß ja nie ... Sollte es unnötig gewesen sein, entschuldige bitte. Die Sachen sind bei mir an einem sicheren Ort. Lass von dir hören, sobald du wieder da bist, du Streunerin! Herzlichst, K.«

    Wieder daheim machte ich mir einen großen Milchkaffee. Den Hafen in der Hand, das Kinn in die Hand gestützt, begab ich mich an die Lektüre von Sabinas Blätterwald. Die ersten Seiten trugen die Überschrift »Das Kind«. Warum schreibt sie nicht »Meine Kindheit«? Ich nahm verschiedene Seiten aus dem Stapel heraus und sah mit wachsender Verwunderung, dass sie nur in der dritten Person von sich spricht. Hat sie sich so wenig mit sich selbst befreunden können? Das gibt mir sehr zu denken, und ihr wirres Gekrakel trägt ein Übriges zu meiner Beklommenheit bei. Mag sein, dass ich eben darum eine Art Pflichtgefühl verspüre, es gründlich zu lesen.

    Das Kind

    Als es noch eines war, lebte das Kind in einem großen, alten Haus, umgeben von einem zauberhaft verwilderten Garten am Rande der Stadt.

    Der Wechsel der Jahreszeiten fand im klassischen Sinn des deutschen Volksliedes statt (heute, wo es nicht mehr so ist, kann sie das beurteilen), und mit ihnen änderte sich das Mienenspiel des Gartens, denn er hatte ein Gesicht. Im Frühling spross ihm erstes zartes Grün, und es zeigten sich frische, unschuldige Farben von Schneeglöckchen, Krokus und Ahornblüten in Weiß, Gelb und Blasslila. Voller Kraft, satt und leuchtend stand er im Sommer und strotzte. Doch dann kam der Herbst, um ihn seiner naiven Schönheit zu berauben, zauste seine Blätter, färbte sie von Rot zum Erdigen, riss an ihnen, bis sie fielen. Die Last überreifer Früchte hing ihm schwer an den Zweigen, wenige von ihnen wurden gepflückt, die anderen zerplatzten halbverfault am Boden. Auf den Einzug des Winters mit seinem Leichentuch wartete der Garten als ein mürrisch-grauer, kahler, stachliger Greis. Die umliegenden Gärten ähnelten dem des Kindes, aber er schien ihm der schönste, trug eine schwere, weiße Haube, darin das Kind mit den Eltern, Ullrich, Onkel und Tante und Helene lebte. Man hatte sie ihm vor der Jahrhundertwende aufgesetzt, als er noch gar kein Garten war, sondern von Laub- und Obstbäumen bewachsene Anhöhe, an deren Seiten entlang sich sanft Weingärten hinunterschwangen, bis immer neue Zuzöglinge kamen, denen sie weichen mussten. Inmitten von abgrenzenden Hecken und Stauden wurden phantastische, ihren Besitzern angemessene Wohngebilde in die Höhe gerichtet.

    Der Garten hatte einen Lattenzaun,

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