Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Studienplatz
Der Studienplatz
Der Studienplatz
eBook227 Seiten3 Stunden

Der Studienplatz

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In seinem sechsten Schuljahr beschloss Gilbert Wehnert, der die Schule mit wenig Enthusiasmus besuchte, den Wünschen seiner Eltern (Abitur, Studium und ein besseres Leben für ihren Sohn) mit möglichst geringem Aufwand gerecht zu werden. Widerwillig trat er der FDJ bei und glaubte, damit die wichtigste Hürde genommen zu haben. Dem war nicht so. Eingebettet in und zwischen vielen Episoden wird erstmals ein realistisches Bild vom Leben in der DDR über einen Zeitraum von 25 Jahren gezeichnet. Der Protagonist beeindruckt durch sein Festhalten an gefassten Vorsätzen und durch seine Art, die Missstände auf ein erträgliches Maß abzumildern.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum11. Feb. 2020
ISBN9783750467514
Der Studienplatz

Ähnlich wie Der Studienplatz

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Studienplatz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Studienplatz - Volker Liebig

    wurde.

    Kapitel 1 – Schulzeit und Jugend

    Mein vollständiger Name ist Gilbert Reinhold Wehnert. Geboren wurde ich in S.. Mein Vater übte auf der dortigen Werft den Beruf eines Schlossers aus. Meine Mutter beschäftigte sich mit der Erziehung dreier Kinder und der Bewältigung des Haushaltes. Meine ältere Schwester besuchte bereits die Schule.

    Ab September 196. nahm ich an der sogenannten Vorschule teil. Als Sohn einer Hausfrau ging ich nicht in den Kindergarten. In der Vorschule sollten meine geistigen Fähigkeiten als Vorbedingung für den Schulbesuch festgestellt und gefördert werden. An die bunten Holzstäbchen, mit denen wir rechneten, und an die Spiele, die das logische Denkvermögen und die Geschicklichkeit prüften, erinnere ich mich noch heute. Wir zeichneten viel und bastelten mit verschiedenen Materialien. Letztendlich genügte ich wohl allen Anforderungen und wurde eingeschult.

    An der Schule gab es eine sogenannte Hausfrauenklasse, in welcher ich meinen Platz fand. Jeder Schüler stellte sich kurz vor. Einige Namen hörte ich zum ersten Mal, obwohl ich die Gesichter vieler Kinder von der Vorschule her bereits kannte. Meine schulischen Leistungen bewegten sich bis zur zweiten Hälfte der zweiten Klasse im Bereich um die Note 2. Das lag besonders daran, dass ich, anstatt meine Hausaufgaben zu erledigen oder für den nächsten Tag zu lernen, viel lieber mit meinen Legosteinen, den Indianer- und Cowboyfiguren und meiner Rakete spielte.

    Auf das Lernen verwandte ich dagegen wenig Zeit. Natürlich überprüfte meine Mutter mich ständig hinsichtlich der Erledigung der Hausaufgaben. Das Leben verlief in gleichförmigen, ruhigen Bahnen.

    Nach der ersten Hälfte der zweiten Klasse wechselte ich in eine andere Schulklasse. Es war eine Hortklasse. Meine Mutter, Gott sei ihrer Seele gnädig, hatte sich entschlossen, eine Tätigkeit als Erzieherin in einem Kindergarten aufzunehmen. Mit dem ersten Schultag in der neuen Klasse begann die Umformung und Prägung eines ruhigen, idealistischen Schülers aus einer Hausfrauenklasse in einen materialistischen Hortschüler. Anfangs versuchte ich, mich dem entgegenzustellen, aber nach einigen Jahren in diesem Umfeld vollendete sich jene Entwicklung und erwies sich in der Folge als irreversibel. Allein die Eindrücke der ersten Unterrichtsstunde wirkten desillusionierend auf mich. Daran kann ich mich so deutlich erinnern, als ob es erst gestern geschehen wäre. Als ich das Klassenzimmer betrat, blieb ich wie angewurzelt stehen. Die Schülerinnen und Schüler standen in kleinen Gruppen zusammen. Ein enormer Lärm erfüllte den Raum. Jeder schien mit jedem zu sprechen. Das Eintreten der Lehrerin änderte auch nichts daran. Auffordernd sah sie auf den diensthabenden Schüler hinab.

    „Hoffentlich ist hier bald Ruhe im Stall!", schrie unvermittelt dieser Schüler. Eine solche Aufforderung hörte ich zum ersten Mal. Langsam, ganz langsam lösten sich die Gruppen auf. Sich noch unterhaltend, stellten sich die Schülerinnen und Schüler neben ihren Sitzplätze auf. Es folgte die Meldung an die Lehrerin, in der auch ich erwähnt wurde.

    „Den kenne ich nicht. Der muss neu sein", meldete der Schüler der Lehrerin und wies mit dem Finger auf mich. Alle durften sich setzen, nur ich blieb stehen. Auf Aufforderung der Lehrerin nannte ich meinen Namen. Neben einem Mädchen wies sie mir einen noch freien Platz, in der dritten Reihe an der Wand, zu. Zum Beginn der folgenden Stunde, allerdings in einem anderen Klassenzimmer, stand ich neben genau dem Platz in der dritten Reihe an der Wand. Ein Mädchen stellte sich neben mich.

    „Das ist mein Platz", erklärte sie mit schriller Stimme.

    „Aber auf diesem Platz habe ich doch in der ersten Stunde gesessen", stammelte ich verdutzt.

    „Ja, das war in Deutsch, aber jetzt haben wir Mathe. In Mathe sitze ich immer hier."

    Also stellte ich mich wieder neben die Tafel und ließ mir einen Platz zuweisen. Weitere Erinnerungen an diesen Schultag sind verblasst. Dafür ist der erste Nachmittag im Hort bestens in meinem Gedächtnis gespeichert. Von allen Seiten umgab mich der Lärm des Gezeters und des Herumschreiens. Jeder, ob Mädchen oder Junge, wollte gerade mit dem Spielzeug spielen, das sich jemand anderes vor einer Minute aus dem Regal genommen hatte. Die Betreuerin stand hilflos daneben und schien, ebenso wie ich, auf den Feierabend zu warten. Ihre schwachen, gelegentlichen Versuche ein wenig Ordnung und Ruhe herzustellen, scheiterten. Als ich endlich nach Hause gehen durfte, fühlte ich mich erlöst. Wochen vergingen, ohne dass ich mich an das Umfeld und den Umgang untereinander gewöhnen konnte.

    Innerlich verfluchte ich häufig den Tag, an dem meine Mutter mit ihrer Arbeit im Kindergarten begonnen hatte. Freundschaft mit einem meiner Mitschüler schloss ich nicht. Die Freunde aus meiner alten Klasse zogen sich indessen auch immer mehr zurück, denn die „b - Klasse genoss einen denkbar schlechten Ruf. Der Zusammenhalt, wenn es gegen Schüler anderer Klassen ging, die ruhig auch mal älter sein durften, erstaunte mich dagegen tatsächlich. Einmal im Monat erlebte ich das mindestens. Geriet einer von ihnen während einer Pause auf dem Schulhof in einen Streit mit einem Schüler einer anderen Klasse und die anderen bekamen das mit, setzten sie sich in Bewegung. Nur der Klassenprimus, zwei oder drei andere Jungen und einige Mädchen blieben zurück. Die meisten Mädchen folgten den Jungen. Zwei der Mädchen konnten allerdings auch als Jungen durchgehen. Selbst von den Jungen der Klasse trauten sich nur wenige, sich mit einer von den beiden anzulegen. Sie prügelten sich wie Jungen, traten, kratzten und bissen sogar ihre „Feinde. Am Ort des Geschehens angekommen, umringten alle umgehend den oder die vermeintlichen Gegner. Nutzten Palaver und Obszönitäten nichts, begann die Balgerei. Wer sich nicht prügelte, feuerte die eigenen Leute an. Es wurde mit allen Mitteln auf den Gegner eingedroschen. Fäuste und Füße flogen bis zum Rückzug oder der Aufgabe des Feindes. In jedem Fall folgten noch einige „nette" Worte. Mit Gejohle begann dann eine kurze Siegesfeier. Jeder, der aktiv am Kampf teilgenommen hatte, versuchte seinen Einsatz gegenüber den der anderen hervorzuheben. Eine Niederlage von ihnen, später von uns, habe ich nie erlebt. Stand kein Gegner zur Verfügung, kehrten sie zu den alltäglichen Streitigkeiten untereinander zurück. Meine anfängliche Begeisterung für die Schule verringerte sich täglich.

    In der vierten Klasse, nach einer schweren Erkältung und mehreren Tagen im Bett, wollte ich überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. An die Umgangssprache- und formen gewöhnte ich mich zwar langsam, aber der ständige Zank und Streit ging mir auf die Nerven. Kündigen durfte ich leider nicht. Meine Mutter selbst übergab mich der Klassenleiterin. So ging ich eben weiterhin zur Schule.

    Unsere Ausflüge vom Hort aus führten uns auch häufig in den Stadtwald. Dort befand sich am Rand des Waldes, umgeben von Bäumen und Sträuchern, eine große Lichtung. Nicht nur wir hatten Kenntnis von der Lichtung, denn gelegentlich besuchte auch eine Gruppe von Hortkindern aus dem Neubaugebiet, das weit von den alten Gartensparten entfernt errichtet wurde, unsere Lichtung. Selbstverständlich betrachteten wir diese Kinder als Eindringlinge. Aus Ästen von Holunderbäumen und den Stacheln von wilden Kirschen bauten wir uns kleine Waffen und verjagten immer wieder die unerwünschten Gäste. Unsere Betreuerinnen konnten uns nie davon abhalten. Überhaupt empfand ich die Zeit im Hort nicht mehr als so schlimm. An meiner Abneigung gegen den Lärm und das Gezeter hatte sich nichts geändert, aber der gemeinsame Mittagsschlaf, das gemeinsame Erledigen der Hausaufgaben, unabhängig von der Qualität, die Ausflüge von April bis in den Oktober hinein und die große Menge an Spielzeug gefielen mir ausnehmend gut.

    Einige Veranstaltungen an der Schule sagten mir dagegen überhaupt nicht zu. Die sich halbjährlich wiederholenden Fahnenappelle vor der Schule oder die Pionierversammlungen gehörten dazu.

    Die Spartakiaden, die einmal im Jahr stattfanden, besuchte ich nie mit besonderer Begeisterung. Bis zur achten Klasse zählte ich ohnehin nicht zu den guten Sportlern. Geländespiele, bei denen wir durch rote oder blaue Wollfäden am Oberarm in zwei Parteien geteilt wurden, gefielen mir dagegen sehr gut.

    In den ersten Schuljahren an die ich mich erinnere, lag es wahrscheinlich an den widrigen Witterungsbedingungen am ersten Mai, dass mir das vorherige Aufstellen und das folgende Vorbeimarschieren an der Tribüne nicht gefielen. Mit fortschreitendem Alter empfand ich immer mehr Abneigung gegenüber dieser Veranstaltung. An diesen Tagen fühlte ich mich immer wie eine Marionette und versuchte, oftmals erfolgreich, mich mit allen möglichen Entschuldigungen dieser unangenehmen Erniedrigung zu entziehen.

    Wir wurden, wie ich fand, ziemlich häufig zum Sammeln von Altstoffen angehalten. Altpapier, Flaschen und Gläser standen an unserer Schule im Mittelpunkt dieser Aktionen. Von der Tochter einer mit meinen Eltern bekannten Familie erfuhr ich, dass an ihrer Schule auch Spraydosen und Kronkorken im Blickpunkt standen. Gegen das Sammeln hatte ich in den ersten Jahren auch nichts einzuwenden, sondern beteiligte mich immer daran. Den eigentlichen Text des Liedes kannte keiner von uns, aber den Refrain „Hab'n Se nicht noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa? Klingelingeling ein Pionier, klingelingeling steht hier, ein roter...", sangen wir bei solchen Gelegenheiten schon ab und zu mit. Die gesammelten Altstoffe lieferten wir im Heizungsgebäude, das sich unweit der Schule befand, ab. Im Gegenzug erhielten wir Marken, die später mit Geld vergütet wurden. Dadurch füllten wir die Klassenkasse auf.

    Mit dem Beginn des zweiten Halbjahres der vierten Klasse begannen vier Jungen, darunter auch ich, mit ihren eigenen Altstoffsammlungen. Ausgestattet mit unseren Pionierhalstüchern und einem Handwagen, klapperten wir die Häuser, die nördlich des Einzuggebietes unserer Schule lagen, ab. Auf dem Rückweg erhielten wir für die Ausbeute unserer Streifzüge in der SERO Annahmestelle an der Moordorfer Straße etwas Geld. Von dem Geld kauften wir uns beim Bäcker, dessen kleines Geschäft nur zwei Häuser von der Annahmestelle entfernt lag, auch hin und wieder eine Kugel Speiseeis. Nach einigen Wochen stellten wir unsere Streifzüge ein, denn das benachbarte Wohnviertel setzte sich aus vielen Ein- und Zweifamilienhäusern zusammen, was lange Wege und eine geringe Ausbeute mit sich brachte. In nur einem Wohnblock in unserem Viertel lebten 24 Familien. Das lohnte sich wenigstens, aber der Bäcker war, unserer Meinung nach, der Bäcker mit dem wohlschmeckendsten Eis in der Stadt. Jeder von uns hatte schon Eis, das im Stadtzentrum, am Stand, in den Konditoreien oder in der Milchbar angeboten wurde, von den Eltern spendiert bekommen. Unsere Eltern, die natürlich unsere Expertenmeinung teilten, bevorzugten allerdings mehr die morgendlichen, noch warmen Brötchen, deren Kauf auch immer lange Wartezeiten mit sich brachte. Meistens musste ich mich sonnabends beim Bäcker anstellen. Den langen Weg zur Bäckerei konnte ich nur über den alten Friedhof abkürzen. In der Nähe des Hauptweges stand im Schatten der großen Bäume ein kleines, heruntergekommenes Fachwerkhäuschen, über das gruselige Geschichten erzählt wurden. Aus unserem Wohnblock war ich nicht der einzige Junge, der schnell an dem Häuschen vorbeirannte. Lag das Gespensterhaus hinter mir, trennten mich noch 350 Meter vom Ausgang. Das verschaffte mir die Zeit, mich auf den Endspurt vorzubereiten, denn 50 Meter vor dem Ausgang bog der Weg nach rechts ab, und ich spurtete an den dortigen Grabkapellen vorbei. Besonders eine Gruft verängstigte mich. Durch ein schmiedeeisernes Tor konnte ich deutlich drei zerfallene Särge und auch einige Knochen erkennen. Zur Belohnung für das Einkaufen durfte ich mir immer eine Kugel Eis genehmigen. Obgleich ich den Weg, zumindest in der ersten Zeit, nicht gern zurücklegte, gefiel er mir besser als der tägliche Gang mit der Milchkanne zur Kaufhalle. Bereits seit dem Beginn des Schuljahres begleitete ich meine Mutter nicht mehr nur einfach so, sondern als Träger der Einkaufsnetze. Zuerst fiel es mir nicht auf, aber irgendwann bemerkte ich, dass im Fleischerladen viel gemogelt wurde. Bevor das Geschäft am Nachmittag öffnete, bildete sich für gewöhnlich schon eine beachtliche Warteschlange. Nach dem Einlass „holten" sich immer einige Frauen angeblich zurückgelegte Ware vom Vormittag ab. Als ich meine Mutter befragte, denn ich wusste, dass die Verkäuferinnen offiziell keine Bestellungen annahmen, erhielt ich meine erste Lektion im Fach Bestechung und Tauschhandel. Meine Mutter setzte ihre Nähkünste ein, um uns gelegentlich ein Stück Kassler, Koteletts oder sogar Rouladen vorsetzen zu können.

    Ungefähr acht Wochen vor der Zeugnisvergabe und den Sommerferien verbrachte ich neun langweilige Wochen im Kinderkrankenhaus. Das Gebäude, im Stadtzentrum und im Bereich der Stadtmauer gelegen, ein alter Klinkerbau mit hohen Fenstern und einem Turm, wirkte schon von außen bedrohlich. Auf dem Gelände befand sich auch eine schwarze Baracke, in der man Kinder mit ansteckenden Krankheiten wie zum Beispiel den Pocken und den Masern behandelte. Meine Diagnose lautete: Nierenbeckenentzündung und Blutungen. Fast täglich erschien eine Krankenschwester zur Blutentnahme. Meine Arme wiesen in der Armbeuge mit der Zeit schon so viele Einstiche auf, dass auch die Schwestern nicht mehr wussten, wo sie die Spritze platzieren sollten. Obwohl ich mich dessen schämte, begann ich nach einigen Wochen während der Blutentnahme leise zu weinen. Die Zeit vertrieben wir uns unter anderem mit dem Aufschreiben der Kennzeichen vorbeifahrender Autos. Vom Fenster aus konnten wir die Straße gut einsehen. Meine Eltern durften mich nur zweimal in der Woche, mit einer Ausnahme, für eine oder zwei Stunden besuchen. Die Ausnahme diente allein der Maßregelung eines anderen Jungen und mir, weil wir Passanten mit kleinen Plastikbausteinen beworfen hatten. Die Besuchszeit reduzierte sich für diesen Tag auf zehn Minuten. Zwei Tage vor meiner Entlassung bezog ein Junge aus dem sogenannten „Russenviertel" das Bett neben mir. Mir fielen sofort die großen Pusteln, die seinen Körper bedeckten, auf. Meine Abschlussuntersuchungen, an die ich mich lieber nicht erinnern will, blieben ohne Befund und meine Eltern holten mich umgehend ab. Kathederuntersuchungen sind unangenehm.

    Nach einem ganz kurzen Aufenthalt zu Hause fuhren wir in Richtung Thüringen. Mein Vater hatte, dass wusste ich bereits, einen Urlaubsplatz erhalten. Im Fall der Verlängerung meines Krankenhausaufenthaltes sollte sich Tante Lili um mich kümmern. Sie war nicht wirklich meine Tante, denn unsere Verwandtschaft lebte im anderen Teil Deutschlands. Meine rechtzeitige Entlassung verdankte ich dem ständigen Vorsprechen meiner Mutter bei den Ärzten. Das Glück stand auf unserer Seite, denn nach dem Urlaub stellte ich mich einer Nachuntersuchung zur Verfügung. Nebenbei erfuhren wir, dass das Kinderkrankenhaus am Tag nach meiner Entlassung unter Quarantäne gestellt worden war. Die äusserst schmerzhaften Blutentnahmen verfolgten mich noch einige Zeit in meinen Träumen.

    Der Urlaub im Thüringer Wald wirkte entspannend. Wir übernachteten in einem einfachen und mit Schieferplatten verkleideten Haus. Zum Frühstück begaben wir uns fast täglich zu Fuß in ein FDGB Heim. Das Mittagessen und das Abendbrot nahmen wir meistens irgendwo unterwegs zu uns. Mit den Kindern unserer Gastgeber verstand ich mich sofort. Verplanten meine Eltern den Tag nicht komplett, erkundete ich mit dem älteren Sohn, der Georg hieß, die Umgebung. Bis heute verstehe ich nicht, warum sich die Mücken immer an den für uns interessanten Orten besonders gern aufhielten. Mich nahmen die Mücken häufiger als Georg ins Visier.

    Einen Höhepunkt für mich stellte der Besuch der Wartburg dar. Einige Mosaikhefte nannte ich mein Eigentum. Ritter Runkels Abenteuer gefielen mir. Die Darstellung von Ritter Runkels Burg diente mir als Vorbild, um aus Pappe, Papier und mit Klebstoff mühsam sogar eine kleine Ritterburg zu basteln. Farblich hielt ich mich an die Vorlage. Mein Vater half mir, die spitzen Dächer für die Türme anzufertigen, denn von Abwicklungen verstand ich damals noch nichts. Leider bot der Zeitungskiosk die Hefte nicht immer an. Oft waren sie wohl auch schon ausverkauft. Das änderte sich auch nicht mit dem Erscheinen der Abrafaxe im Mosaik. Von den Dampfern auf dem Mississippi träumte ich häufig. Dann stand ich am Ruderrad, und immer galt es, ein Wettrennen zu gewinnen. Den Weg hinauf zur Wartburg legten wir zu Fuß zurück. Wenn ich auch vieles von dem, dass der Führer unserer Gruppe auf dem Rundgang erzählte, nicht verstand, beeindruckten mich vor allem ein Mosaikfußboden und die Schlichtheit einiger Räume. Von Luther und der Lutherbibel hatte ich bis dahin noch nie etwas gehört, aber ich fragte mich, wie sich der Luther in so einer schäbigen Stube wohlfühlen konnte. Die Architektur, die unwahrscheinlich viele Möglichkeiten bot, sich zu verstecken, gefiel mir sehr gut. Wir Kinder aus unserem Wohnblock spielten sehr oft Verstecken. Für den Rückweg setzte man mich auf den Rücken eines Esels. Ob die Zügel auch einer Funktion dienten, interessierte mich nicht, denn der Esel selbst schüchterte mich durch seine Größe ein. Es schien ein ruhiges Tier zu sein. Die Eselkarawane setzte sich in Bewegung. Die Tiere schritten, von den Eltern der Kinder und einem Treiber begleitet, langsam den Berg hinab. Voraus konnte ich schon eine Straße erkennen, auf der ein lebhafter Verkehr herrschte. Ohne jeden Grund beschleunigte der Esel plötzlich, überholte zwei andere Esel und rannte auf die Straße zu. Dabei wurde ich kräftig durchgeschüttelt und Angst überfiel mich. Der Esel lief vielleicht einen Meter weit auf die Straße und bog dann scharf nach rechts ab. Vor lauter Angst zog ich, wie ich es in den Indianerfilmen gesehen hatte, die Zügel auf der rechten Seite mit aller Kraft an. Ob der Esel von sich heraus oder durch mich beeinflusst die Richtung änderte, konnte uns der Treiber später auch nicht erklären. Der Esel lief sehr schnell wieder auf den Fußweg und stoppte ganz von selbst vor einem überdachten Gestell. Mein Vater und der Treiber, beide außer Atem, erreichten den Stand und zogen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1