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Seniorengold
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eBook497 Seiten6 Stunden

Seniorengold

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Über dieses E-Book

Felix bedeutet eigentlich ›vom Glück begünstigt‹. Uneigentlich trifft es auf ihn gar nicht zu. Deshalb braucht er einen Neuanfang nach dem Neuanfang und auch Amy kann ihn nicht davon abbringen, die Domstadt nach kürzester Zeit wieder zu verlassen. Das ungewollte, aber notwendige Ziel der Reise: Ein Job in einem Seniorenheim - »Op däm Land«, würde der Kölner sagen.

›Der noch immer nicht vom Glück Begünstigte‹ muss sich fortan mit teilweise pubertierenden Individuen auseinandersetzen, die gebrechliche Senioren mimen, aber in Wirklichkeit forever young sind und ihn nicht nur im Tischtennis vernichtend schlagen, sondern ihm auch nervige Tipps in Sachen Frauen und anderen Lebensweisheiten geben.

Felix, der Glückliche, wird zu seinem Glück gezwungen. Ob er will oder nicht. Und Amy sowie die Laune der Göttin Fortuna spielen dabei keine unwichtigen Rollen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Aug. 2016
ISBN9783734532023
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    Buchvorschau

    Seniorengold - Felix Holzhüter

    KÖLN

    Hätte ich den Ball als Kind besser hochhalten können, wäre das hier alles gar nicht erst passiert. Außerdem würde ich dann jetzt Cristiano heißen. Stattdessen heiße ich Felix. Ein sehr schöner Name wie ich finde. Meine Eltern fanden ihn auch schön. Alles andere wäre ja auch verrückt und eine Unverschämtheit. Sie gaben mir diesen Vornamen nicht nur weil sie ihn schön fanden, sondern auch deswegen, weil sie sich dachten, ich bräuchte Glück im Leben. Das hatten meine Eltern mir vor vielen Jahren mal erzählt. Felix heißt nämlich ›Der Glückliche‹. Da haben sie richtig gedacht – Ich brauchte es wirklich. Das Glück. Bis zu meinem 22. Lebensjahr hatte mir der Name nämlich noch nicht wirklich viel (Glück) gebracht. Im Gegenteil. Eine lange Zeit dachte ich schon, ich sei von einem Fluch besessen, der mir statt Glück, viel Pech einbrachte. Mit anderen Worten: Ich war der lebende Beweis für Murphys Gesetz – Es ging alles schief, was nur schief gehen konnte! Wirklich alles. Fast alles. Trotz alledem hätte ich nicht gesagt, dass ich wirklich unglücklich war, glücklich war ich allerdings auch nicht. Aber wie konnte man das auch sein mit meinem Nichtglück?

    Es fing alles mit dem Auszug bei meinen Eltern letzten Jahres an. Mein Vater besaß eine gute Position als Finanzbeamter, er arbeitete viel und hart. Er war zufrieden mit dem was er Tag ein und Tag aus machte. Es machte ihm grundsätzlich Spaß zur Arbeit zu gehen und sich dafür auch mächtig ins Zeug zu legen. Man konnte zwar nicht von Leidenschaft sprechen, aber es kam schon sehr nah daran. Meine Mutter war Lehrerin an einem Berufskolleg für die Fächer Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Unterm Strich machte auch ihr der Beruf Freude, auch wenn sie den einen oder anderen Schüler hin und wieder gerne zum Mond geschossen hätte – Apollo 11. Wenn ich es mir aber recht überlegte, machten ihr in der letzten Zeit zunehmend mehr die Befindlichkeiten ihrer Kollegen und Kolleginnen zu schaffen, die sich wie eine Kreuzung zwischen Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis benahmen. Jedoch hielt sie das nicht davon ab, jeden Tag erneut tapfer und unermüdlich mit ihrem Fahrrad zur Schule zu fahren.

    Ich liebte meine Eltern, sie liebten mich (alles andere wäre übrigens auch eine Unverschämtheit). Für mich waren sie Paradevorbilder für gute Menschen und ich war mir sicher, dass, sofern es mehr Menschen von ihnen geben würde, die Welt eine bessere wäre. Und trotz Herzschmerz entschied ich mich – voller Tatendrang – dazu, nach Köln zu ziehen, um Mathematik zu studieren. ›Das‹ Horror-Schulfach fast aller Schülerinnen und Schüler. Mir war die Mathematik in Schulzeiten eigentlich auch immer als ein sehr suspektes Fachgebiet vorgekommen. Ich konnte mich jedoch nie über schlechte Noten beklagen. Mein damaliger Lehrer in der Oberstufe meinte, ich sei ein Genie. Sagen das aber nicht alle Mathe-Lehrer von denjenigen Schülern, mit denen sie besonders gut klar kamen? Des Weiteren klagte er jede Stunde, warum ein so toller Bursche wie ich, keinen Leistungskurs in Mathe belegt hätte. Gute Frage. Das fragte ich mich im Nachhinein auch, denn so hätte ich mindestens doppelt so viele Punkte im Abitur erreichen können, wie ich schlussendlich erreicht habe. Stattdessen wählte ich Biologie und Erziehungswissenschaften als Leistungskurse. Ein schwerwiegender Fehler in meinem Leben. Biologie war jenes Fach, das mir schlichtweg das Genick gebrochen hatte. Ich war nie der fleißigste Schüler und gerade in einem Fach wie Biologie, reichte wahre Intelligenz alleine einfach nicht aus. Mit dem Fach Erziehungswissenschaften hingegen hatte ich nie Probleme. Ich empfand dieses Themengebiet als sehr schön und interessant. Sehr schön aus dem Grund, weil man in der Pädagogik viel Blabla erzählen und schreiben konnte, solange die Begründung plausibel erschien und mit Zitaten von Konsorten wie Freud, Erikson oder Hurrelmann belegt waren. Leider hatte ich mit dem Lehrer meine Kämpfe. Hier lag das Hauptproblem. Damals war ich zwar noch unter zwanzig, jedoch männlichen Geschlechts. Ich besaß dunkelbraune Haare und war mittelgroß. Ich hatte also keine langen, blonden Haare und ich konnte auch keine Körbchengröße C aufweisen – Ein fataler Fehler im Leistungskurs der Pädagogik. Leider! Da ich mit keinem großen Brustansatz dienen konnte, verlor ich auch in diesem anfangs sicher geglaubten Leistungskurs aufgrund eines kleinen, pädophilen Irrens eine Menge Punkte. »Kleine Männer brauchen das als Bestätigung!«, antwortete meine Mutter oft voller Empörung, nachdem ich ihr nur ein paar Anekdoten aus dem Unterricht erzählte. Eine treffende Einstellung, die mein Pädagogiklehrer an jedem Elternsprechtag (auch noch in Stufe 13) zu spüren bekam. Es machte meiner Mutter Spaß einem Kollegen zu erklären, was Pädagogik wirklich bedeutet und ihm am ganzen Leibe spüren zu lassen, dass solche unfähigen Lehrer wie er, den arbeitsbewussten und tüchtigen Lehrern die Preise kaputt machen. »Genau wegen solchen Typen wird der Lehrerberuf von der Gesellschaft belächelt und nicht für voll genommen!«, echauffierte sich meine Mutter nach jedem Aufeinandertreffen mit jenem Mann, den man auch schnell mit Napoleon nach seiner Verbannung auf Elba vergleichen konnte. Ich hatte zwar kein traumatisches Erlebnis davon getragen, aber ich muss zugeben, dass mich diese Erfahrungen ein wenig vor dem komplexen Fachgebiet der Erziehungswissenschaften abschreckten. Vor diesem Hintergrund entschied ich mich schließlich, Mathematik zu studieren (der reizvolle Beruf des Adventure-Biologen kam für mich ebenfalls nicht in Frage, da mir die Vorstellung, rund um den Globus zu fliegen, um mit Kaimanen zu schwimmen, lebende Riesen-Larven zu verspeisen und das potenziell aggressive Temperament von Elefantenbullen zu testen, einen wahren Graus bereitete – Richard Gress). Was ich später damit anfangen wollte, wusste ich nicht und hatte mich damit, wenn ich ehrlich war, auch noch nicht oft auseinandergesetzt. Immerhin besser als Biologe zu werden, das war sicher (auch wenn mich Charles Darwin schon immer beeindruckt hatte – Evolutionstheorie). Als meine letzten verbliebenen Freunde, die man nicht an einer Hand aufzählen konnte (eher an der Hand von Sägewerksarbeitern), von meinen Plänen Mathematik zu studieren erfuhren, hielten sie mich für noch bekloppter als zuvor. Das war mir aber eigentlich egal. Gute und vor allem wahre Freunde müssen das abkönnen.

    Zwei Wochen vor Start des Wintersemesters versuchte ich mich um eine kleine Wohnung in Köln zu kümmern, musste dann allerdings auf bittere Art und Weise feststellen, dass ich mir dies nicht annähernd leisten konnte. Meine Eltern konnten es nicht verstehen, dass ich nur sehr wenig Geld von ihnen annehmen wollte. Zu Recht konnten sie es nicht verstehen: Einerseits verstand ich es auch nicht, weil ich es dringend nötig gehabt hätte, andererseits war und bin ich einfach zu stolz, um Geld anzunehmen. Auch wenn es Geld von meinen Eltern war. Sie taten alles für mich, sie wollten, dass es mir gut ging in Köln. Dennoch wollte ich nicht, dass meine Eltern ihr gutes und hart erkämpftes Geld in mich hinein pumpten. Reich waren sie nicht, ihnen hätte es aber auch nicht wehgetan, aber ich weiß, ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie mich so tatkräftig unterstützt hätten, wie sie es mir mehr als nur einmal angeboten hatten. Kurzum: Ich wollte auf eigenen Beinen stehen. Es musste also ein Job her. Wohnung ohne Geld passte nicht zusammen – Erfahrung gemacht.

    Mein Ass im Ärmel: Meiner besten Freundin Amy, der ich in fast allen Lebenslagen meine Befindlichkeiten per SMS mitteilte, hatte ich natürlich auch von meinen Plänen in Köln gesimst, woraufhin sie mir anbot, vorerst in ihrer kleinen, aber sehr feinen Wohnung unter zu kommen. So konnte ich entspannt und ohne wirklichen Druck im Nacken umziehen und mir in Ruhe eine Wohnung und einen Job suchen. Eine entspannte und gute Ausgangslage wie ich fand.

    Über das soziale Netzwerk, dessen Name ich aus gewissen Gründen nicht nennen möchte, bewarb ich mich schnell und anfangs widerwillig bei mehreren WGs (Ich wollte nicht den Eindruck bei Amy erwecken, dass ich ihr unnötig lange auf der Tasche saß, auch wenn ich wusste, dass Amy dies niemals so empfunden hätte). Uraltfreund Carlos riet mir nämlich oftmals zur WG. Er selber hatte bis dato nur positive Erfahrungen damit gemacht und fühlte sich damals in seiner Sechser-WG pudelwohl (mittlerweile gibt’s die aber auch nicht mehr und er selber wohnte auch nur vier Tage in der Wohngemeinschaft. Seine Begründung: Er wollte einfach mal WG-Atmosphäre schnuppern). Wenn ich schon den Ausdruck ›WG‹ oder noch viel schlimmer ›Sechser-WG‹ hörte, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Ich war dann immer ähnlich angewidert, wie eine verwöhnte Hauskatze, die von ihrem Besitzer im großen Bogen in den Pool geschubst werden würde – Underwater Cats. Im Nachhinein stellte sich die Tatsache, die Option WG wirklich mal in Erwägung zu ziehen beziehungsweise einfach mal auszuprobieren, als ein großer Fehler in meinem Leben heraus – »Ausprobieren schadet ja nicht!« (Carlos Überredungskünste sei Dank) – Von wegen! Ich hielt wirklich noch nie etwas von WGs, aber dass es so schlimm kommen könnte, hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet.

    Insgesamt erhielt ich vier Absagen. Bei zwei WGs durfte ich mich wenigstens einmal ›vorstellen‹. Ich hatte vor Besuch der ersten WG meine Erwartungen schon weit runter geschraubt, doch ich hätte nie für möglich gehalten, wie man mir dort die Tür aufmachen würde: Ich stand quasi sofort im Wohnzimmer (das war auch das einzige der Wohnung, das ich silhouettenhaft noch wahrnehmen konnte). Vor mir turnten zwei komplett nackte Typen herum und schwenkten ihren Körper wild von der einen zur anderen Seite. So ähnlich wie Jedward 2011 beim Eurovision Song Contest (nur halt von Kopf bis Fuß nackt). Geschätztes Alter der Beiden? Ich hätte es nicht beantworten können, das einzige was ich hätte sagen können, ob behaart oder geschoren. Sie hätten sich das Sahnehäubchen aufsetzen können, wenn sie noch einen Fechtkampf mit ihren Anhängseln gegeneinander ausgetragen hätten – En garde! Das hatte in der Tat noch gefehlt. Auf den allerersten Eindruck waren sie lebensfroh und vielleicht sogar auch nett, das stimmt. Aber ihre Vorlieben für derart freizügige Handlungen schockierten mich schon ein wenig. Auch wenn ich keinerlei Antipathien gegenüber Homosexualität pflegte, wollte ich in so einer ›toleranten‹ WG dann doch eher ungern unterkommen – #nohomo. Stumm und leise verließ ich die erste WG. Ich sagte kein Wort, ich grinste nur peinlich berührt vor mich hin und drehte mich um. Ich konnte mich nach dem ›Besuch‹ der ›Wohngemeinschaft‹ an fast nichts erinnern. Ich wusste nur, dass ich im Wohnzimmer gestanden hatte und stellte gleichzeitig in einer mentalen Übersprunghandlung fest, in der Ferienzeit unbedingt nochmal in den wunderschönen Pariser Stadtteil Marais zu wollen – Rue de la Verrerie. Ich hätte nicht sagen können, welche Farben die Wände hatten oder ob ich auf Stein, Teppich oder doch Laminat stand. Zu paralysiert und geschockt war ich. Die zweite WG wollte ich eigentlich gar nicht mehr besuchen. Ich sträubte mich regelrecht gegen den Gedanken in eine WG zu ziehen. Ich wusste sowieso, was dabei herauskam.

    Das wenige Geld, das mir zur Verfügung stand, war letztendlich dann aber doch der treibende und somit ausschlaggebende Faktor, es noch einmal zu versuchen. Im Nachhinein kann man darüber lachen, aber als ich vor der zweiten Tür stand, hatte ich regelrecht Angst. Angst davor, dass mich wieder komplett nackte Menschen mit ihren schwenkenden Genitalien belästigten. Und dann war ich doch mehr als erleichtert, als mir eine junge Frau die Tür öffnete. Und sie war nicht nackt! Der erste Pluspunkt der Option ›WG‹ war gesammelt. Gastfreundlich bat sie mich herein. Es war eine schöne, helle WG mit einem großen Panoramafenster im Wohnbereich. Vor dem Fenster standen eine braune Ledergarnitur und ein großer flacher Tisch in Metall-Optik. Am anderen Ende des großen Raumes befand sich eine offene Küche, die wiederrum in zwei Kochinseln unterteilt war. Die gesamte Wohnung besaß einen Touch von Loft-Charakter, was mir sehr zusagte. Die Wohnung wirkte schon fast luxuriös. Luxus mit der attraktiven Tendenz zum Rezyklieren von Produkten – Schöner Wohnen. Ich betrat den Wohnbereich, wo mich auch schon zwei weitere Mitbewohner äußerst nett begrüßten. Zwei junge Frauen und ein junger Mann, alle Mitte zwanzig. Nach einem längeren Gespräch und mehreren Rundführungen stand fest, dass ich ab sofort und ganz offiziell, Teil einer nun vierköpfigen WG war. Auch das Finanzielle, was mir am meisten Sorgen bereitete, war geklärt. Eine kurze Zeit lang war ich wirklich von dem WG-Leben angetan. Berlin Tag und Nacht und Köln 50667 würden meine Sendungen werden. Alle in der WG schienen sehr freundlich zu sein und auch die Chemie zwischen mir und den dreien passte – Ganze drei Stunden. Denn dann passierte etwas, was in meinen Augen garantiert noch ein wenig schlimmer war, als umher schwingende Genitalien vor meinem Gesicht: Zwei große, fette Ratten. Zwei große, fette Ratten, die quer durch das Wohnzimmer liefen und es sich auf der schönen Ledergarnitur bequem machten. Ein absolutes No-Go für jemanden, der eine ernst zu nehmende Rattenphobie besitzt und auf der Stelle anfängt zu schreien, sobald er ein Nagetier mit langem, ekligem Schwanz erblickt. Das einzige was mich noch davon abhielt, unartikuliert los zu schreien, waren die beiden jungen Frauen, die mich schon etwas komisch beäugten und sich anscheinend nicht vorstellen konnten, dass ein ›Mann‹, ernsthafte Angst, oder besser gesagt, große Panik vor kleinen Säugetieren hatte. Die bevorstehende Scham und die damit einhergehende Peinlichkeit besiegten für ein paar Sekunden meine Rattenphobie. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Der Ekel nahm unbegrenzte Formen an. Und dann waren es immerhin auch noch zwei von den Nagern. Zwei gute Gründe nach drei Stunden und guten sechs Minuten auch die zweite WG bzw. auch den geschmackvollen ›Metallkäfig‹ zu verlassen (Pinky und der Brain blieben zu meiner Freude ›gefangen‹). So endeten meine bisher einzigen und wahrscheinlich letzten WG-Erfahrungen mit den Gedanken an vier Schwänze, die mich noch sehr lange verfolgen würden.

    Bei dem sozialen Netzwerk löschte ich mich anschließend wieder. Ich konnte soziale Netzwerke noch nie leiden. Nur komische Menschen verbringen Zeit mit diesem Teufelszeug. Sie posten Sachen, wie zum Beispiel: »Ich muss jetzt auf Toilette.« oder »Meine Ratten haben gerade einen potenziellen neuen Mitbewohner in die Flucht geschlagen. Ich bin so traurig.« oder »Hat jemand Lust mit mir wilde Erfahrungen zu machen?« Einfach nur unnötige Sachen. Meine Antwort wäre gewesen: »Wenn ihr wilde Erfahrungen machen wollt, dann hab ich eine gute Adresse für euch: Bei den Homoboys in WG eins kriegt ihr alles!!!« – Gefällt mir.

    Letzte gesendete Nachricht: Hallo Amy, mich schauderts…

    Die Jobsuche verlief ähnlich erfolglos. Zuerst versuchte ich mein Glück in einer Buchhandlung. Da schaute man mich nur mit ungläubigen Augen an. Stumm und leise verließ ich die Buchhandlung wieder. Bis heute weiß ich nicht, warum ich dort noch nicht einmal als potenzieller Kunde begrüßt geschweige denn beraten wurde. Mimik und Gestik des Mannes, den ich dort antraf, verrieten mir augenblicklich den Buchladen zu verlassen. Sah ich aus wie Rhys Ifans? Verhielt ich mich so? Auf meiner Stirn musste ›Trotteljunge‹ gestanden haben. Der Buchhändler sah jedenfalls nicht aus wie Hugh Grant. Ich redete mir im Nachhinein ein (damit ich mich besser fühlte und diese Dissonanzauflösung war eine unabdingbare Voraussetzung für mein subjektives Wohlbefinden), dass er vor wenigen Minuten einen heftigen Streit mit seiner Frau gehabt haben musste und deshalb nicht in der Lage war, Kunden mit offenen Armen zu empfangen – Wer es glaubt…

    Auch in der Szene-Bar, dessen Namen ich schnell wieder vergaß, war nichts zu holen. Der kleinste Trost war, dass wenigstens mit mir gesprochen wurde. Trotzdem wusste ich nicht was schlimmer gewesen war: Der wortlose, indirekte Rauswurf aus der Buchhandlung oder die unverschämten Worte, die mir in der Bar ins Gesicht geschmettert wurden. Dort wurde mir nämlich auf sehr herablassende und zugleich blöde Art und Weise nahegelegt, man könne sich nicht mit dieser Kleidung (vor allem wie ich sie trug), in der so tollen Bar ›XY‹ präsentieren (Ich trug blaue Jeans, drei T-Shirts übereinander – das konnte man aber nicht erkennen – und einen schlichten grauen Pullover – im Fachjargon würde man dazu bestimmt ›casual‹ sagen). Stumm und leise verließ ich auch die Bar wieder. Na super! Nun stand ich da wie ein nasser Hund, der an einem Laternenpfahl vergessen oder noch schlimmer ausgesetzt wurde; ohne Job, ohne eigene Wohnung und mittlerweile ohne jegliche Motivation in den Straßen Kölns. Und mir war relativ klar, dass das ›Abenteuer Großstadt‹ nach wenigen Tagen für mich beendet war. Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, Amy für ihre Geduld zu danken (Ich hätte ihr natürlich auch in näherer Zukunft keinerlei Miete zahlen können), meine Sachen zu packen und zurück zu Mama und Papa in Etage zwei zu ziehen. Mama wäre glücklich gewesen. Papa wäre glücklich gewesen. Felix wäre auch glücklich gewesen. Jedoch hätte er dann aber immer das Gefühl gehabt, ›es nicht gepackt zu haben‹. Es war zum Heulen. Aber es hätte schlimmer kommen können. Es hätte regnen können.

    Letzte gesendete Nachricht: Hallo! Ich glaube ich bin nicht präsentier-bar. Lust einen nassen Pudel abzuholen? ☹

    Aber dann kam doch alles anders, als ich jemals prophezeit hätte. Amy wäre nicht Amy gewesen, wenn ihr meine lethargische und demotivierte Laune nicht aufgefallen wäre. »Was ist los mit dir Felix?«, fragte sie mich, woraufhin ich aufpassen musste, dass mir keine Tränen über das Gesicht liefen, die meine Augen sofort in ein reißendes Meer verwandelt hätten. Der Staudamm drohte in diesem Moment zu brechen und kein Bieber in Sicht. Ich antwortete mit viel Fassung, die ich mir mit jedem weiteren Wort hart erkämpfen musste. Amy nickte. Amy zwinkerte mir zu. Amy lächelte. Sie gab mir sehr schnell zu verstehen, dass es wirklich kein Problem sei, keine Miete zahlen zu können. Außerdem würde sie sich freuen, wenn ich ihr gegebenenfalls auch für längere Zeit Gesellschaft leisten würde, da sie doch sonst immer ganz alleine in ihrer Wohnung wäre. »Dann kann ich mir ja auch endlich mal Horrorfilme angucken. Jetzt habe ich ja einen, der mich beschützen kann«, scherzte Amy. Auch meine Sorgen ihr auf der Tasche zu sitzen und sie möglicherweise zu nerven, zerschlug sie sofort. »So ein Quatsch! Ich bitte dich Felix, wie lange kennen wir uns jetzt schon?« Ich überlegte kurz, ehe ich antwortete: »Ist die Frage jetzt rhetorisch gemeint?«

    Ich war Amy so dankbar für ihr Angebot, welches ich natürlich annahm, auch wenn ich mich ein wenig dafür schämte. Wie ich Amy jedoch beschützen sollte, nachdem wir Horrorfilme geschaut hätten, wusste ich noch nicht. Meine Eltern waren bis jetzt immer diejenigen gewesen, die mir diesbezüglich Sicherheit gegeben und zur Not auch unter mein Bett geguckt hatten.

    Amy kannte ich seit der siebten Klasse. Sie war eine relativ zierliche Person, keine 1,65m groß. Sie hatte braune, mittellange Haare (Sie hätte trotz einer geschätzten Körbchengröße B garantiert bei meinem Pädagogik-Lehrer gepunktet) und einen Charakter, der Gold wert war. Nachdem Amy ihr Abitur gemacht hatte, wanderten ihre Eltern nach Ibiza aus und erfüllten sich somit einen großen Lebenstraum. Bevor sie dies taten, kauften sie Amy die kleine Wohnung in Köln und hofften seitdem ständig, dass ihre Tochter nach dem Studium ebenfalls nach Ibiza zog (Amy sah dies, obwohl sie ihren Eltern ebenfalls sehr nahe war, eher mit gemischten Gefühlen und vertagte diese Entscheidung sehr gerne). Ihr Onkel, ein Immobilienmakler aus Köln, sollte in der Zeit ein wenig auf sie achtgeben. Ich fand es erstaunlich, wie gut sie (augenscheinlich) mit dieser Situation – ›alleine‹ zu sein – klar kam. Ich empfand ja schon den ›Umzug‹ nach Köln als etwas Unheimliches (und ich musste nicht erst in ein Flugzeug steigen, um meine Eltern sehen zu können).

    Persönlich hatte ich Amys Onkel nur flüchtig kennengelernt. Er hatte laut Amy, immer viel um die Ohren und viel Stress – Da fielen die Gespräche auch mal kürzer aus. Aber das war ich ja eigentlich auch schon gewohnt. Von daher: Wen kümmert es? Amys Onkel kam mir immer sehr selbstgefällig vor, ganz anders als Amy (und ganz anders als ihre Eltern). Er war mir nicht wirklich unsympathisch, trotzdem hatte ich stets den Eindruck, dass er andere Leute lieber belächelte, als sich mit ihnen auseinander zu setzen und mit ihnen zu kommunizieren. Ich gehörte anscheinend auch zu den Menschen, die er lieber belächelte (aber von ganz oben herab). Bei unserer ersten Begegnung meinte er mir sogar nicht die Hand geben zu müssen, nachdem ich ihm meine, schon freundlich ausgestreckt hatte. Seine Begründung: »Nee du lass mal, ich bin mächtig im Stress ne und überall diese Bakterien.« Ich hingegen versuchte die Situation mit einer Übersprunghandlung für mich ein wenig erträglicher zu gestalten – Ich blickte zu Boden, wo ich mich auf einen Hundehaufen fokussierte und die Fliegen zählte. Mich wunderte nichts mehr. Anscheinend hatte ich irgendetwas an mir, das auf einige Menschen abstoßend wirkte!?

    Das Zusammenleben mit Amy war in keinster Weise mit einer normalen WG zu vergleichen, es war etwas ganz anderes. Alles verlief einwandfrei und problemlos. Sie lief weder nackt durch die Wohnung, was irgendwie auch schade war, noch besaß sie Nagetiere mit langen Schwänzen. Wir waren – wie auch schon immer – absolut auf gleicher Wellenlänge und auch unser Humor war ähnlich. Wenn er in manchen Situationen nicht der Gleiche war, dann ergänzte er sich gut mit dem des anderen. Eine humorvolle Symbiose eben. Wir ergänzten uns auch gut, wenn es um das WG-Streitthema Nummer eins Aufgabenverteilung ging. Wir sprachen nie wirklich darüber, es ergab sich vielmehr aus Gewohnheiten heraus. Es passte einfach. Blindes Verstehen, vergleichbar mit den Pässen von Mesut Özil auf Cristiano Ronaldo (was aber schon bald Geschichte sein würde – Gareth Bale). Morgens war ich immer dafür zuständig, Brötchen zu holen, Amy bereitete währenddessen den Frühstückstisch vor. Und der war der absolute Hammer. Jeden Morgen fühlte ich mich wie in einem fünf Sterne Hotel. Es war alles da, was das Herz begehrte. »Felix, soll ich dir noch schnell Rührei mit Speck machen?«, fragte Amy jeden Morgen. Das einzige was fehlte, waren die langen, mit weißen Tischdecken überzogenen Buffettische. Selbst die frisch gepressten Orangensäfte waren bei Amy keine Seltenheit. Und das Bircher-Müsli erst… ein Traum!

    Ich war für das Staubsaugen verantwortlich, ja es machte mir sogar Spaß. Sie machte im Gegenzug das Badezimmer sauber. Der Part, den unsere portugiesische Putzfrau zuhause Gott sei Dank auch immer übernommen hatte. Ich hievte den Müll abends immer in den Keller (einmal sind mir auf der Kellertreppe alle Tüten gleichzeitig gerissen, sodass ich um Haaresbreite aufgrund der plötzlichen Gleichgewichtsveränderung kopfüber die Treppe hinunter gefallen wäre – Eine Stunde lang konnte ich aufsammeln und wischen), sie räumte oft und auch gerne auf. Auch meine Sachen. Abends massierte ich oft ihren verspannten Nacken und sie ließ mich mietfrei bei ihr wohnen. Besser hätte es nicht laufen können. Hätte ich es nicht besser gewusst, man hätte sogar denken können, dass wir ein eingespieltes Paar seien, das nächstes Jahr Goldhochzeit feiern würde.

    Nach dem morgendlichen, köstlichen Frühstück, fuhren wir meistens gemeinsam mit den Fahrrädern zur Uni. Amy studierte im dritten Semester Deutsch und Kunst auf Lehramt. ›Mein Fahrrad‹ wurde mir in meinem Unwissen von Amys Onkel gesponsert, was mir total unangenehm war. Er brachte es eines Nachmittags einfach vorbei und stellte es neben Amys Fahrrad in den Keller. Wohl gemerkt: Das Fahrrad besaß sowohl vorne, als auch hinten einen Korb. Zwei Körbe! Es hatte nur noch das Fähnchen hinten dran gefehlt. Oder noch besser: Die Stützrädchen. Außerdem rostete das Fahrrad bereits so sehr, dass es einerseits einen wahren Nostalgie-Charakter besaß, andererseits (zeitlich gesehen) ganz dicht vor dem Recycling-Prozess einzuordnen war. Auf dem Sattel war ein Blatt mit Tesafilm befestigt, auf welchem folgende Worte standen: »Damit du nicht immer schwarz mit der Bahn fahren musst.« Der Moment, als ich die Wörter las (Amy stand auch noch direkt neben mir), war noch schlimmer als der Anblick der nackten Pimmel der Homoboys aus WG eins.

    Letzte gesendete Nachricht: Hi Amy. Mir ist gerade beim Aufschließen aufgefallen, dass das Fahrrad kaum Reflektoren besitzt. Ist das im Winter nicht gefährlich?

    Das Semester fing einigermaßen gut für mich an. Am Anfang musste ich viel Strukturkram erledigen, mir den Stundenplan zusammen pflücken und an komischen Kennenlern-Treffen teilnehmen. In den folgenden Wochen lernte ich ein paar nette Leute kennen, mit denen ich aber nie eine Freundschaft angefangen hätte. Ich glaube sie auch nicht mit mir. Aber darauf konnte ich auch verzichten. Ziemlich schnell kristallisierte sich für mich eine Bezugsperson namens Sarah aus den dutzenden von Freaks heraus. Allerdings studierte sie Jura, auch wie Amy ebenfalls im dritten Semester. Es machte ihr anscheinend Spaß ab und zu bei den ›Freaks‹ in den Mathevorlesungen vorbeizuschauen, um sie dann auszulachen, wie sie mir später erzählte. Sarah war Teufel als Sternzeichen und würde später meine Freundin werden, aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Zum Glück. Zum Glück wusste ich auch noch nicht wie meine erste Vorlesung ablaufen würde. Hätte ich es nämlich gewusst, ich hätte mir wahrscheinlich überlegt, das Studium erst gar nicht zu beginnen – Exmatrikulation.

    Meine Professoren fand ich insgesamt ganz okay. Prof. Dr. Harnis war zwar oft ein bisschen launisch, was sich dahingehend äußerte, dass er seine Studenten oftmals so giftig anfuhr, dass sie weinend aus dem Hörsaal liefen, aber eigentlich war er ein Guter. Mein persönlicher Einstand bei Prof. Dr. Harnis verlief leider auch nicht ganz glatt: Ich war vor und während meiner ersten Vorlesung so aufgeregt, dass ich vergessen hatte mein Handy auf lautlos zu stellen. Wie wollte es Murphys Gesetz? Antwort: Der gesamte Hörsaal war mucksmäuschenstill, als mein Handy in voller Lautstärke anfing den Song ›Dont worry be happy‹ abzuspielen. Anfangs versuchte ich mit meiner linken Hand den Auflegen-Knopf zu drücken (meine rechte Hand war eingeschlafen) und war bemüht, mich möglichst unauffällig zu bewegen, doch nach drei Sekunden hatte dann auch schließlich Prof. Dr. Harnis das Klingeln auf den Punkt genau orten können. Die darauffolgenden Sekunden würden mir noch lange in Erinnerung bleiben. Zuerst machte mein Professor noch Späßchen und meinte ihm würde der Klingelton sehr gut gefallen, von jetzt auf gleich verfinsterte sich dann aber seine Mimik. Ich hielt die Luft an. Seinen Ausraster begann er mit den Worten: »Jetzt gleich wirst du nicht mehr happy sein!« Sturm, Hagel und Gewitter folgten seinen Worten, während gleichzeitig die Melodie meines Klingeltons noch immer aus den kleinen Lautsprechern sprudelte und vor allem kontinuierlich lauter wurde. Der gesamte Hörsaal hatte sich zu mir umgedreht. Einige lachten, andere sahen mich mit ihrem mitleidigsten Blick an und ein paar betrachteten mich vollkommen ausdruckslos und dachten sich wohlmöglich: »Wie kann man nur bloß in seiner ersten Vorlesung so in die Scheiße greifen wie dieser Trottel.« Ehrlich gesagt: So fühlte ich mich auch. Wie ein Trottel, der in Scheiße griff (auch wenn ich es noch nie gemacht hatte und nicht wusste, wie es sich anfühlte. Naja… mit einem Hundetütchen auf einer Hundewiese habe ich es schon einmal gemacht aber das zählt nicht). Ich versuchte alles um die Contenance zu wahren. Es misslang. Zu allem Überfluss rutschte mir schließlich das Handy aufgrund eines ungeheuerlichen Krampfes im linken Handgelenk auch noch aus der Hand und fiel unter den Sitz meines Vordermannes, der es entweder nicht für nötig hielt mein Handy aufzuheben oder aufgrund der recht engen Sitzbänke es gar nicht erst versuchte. Nachdem dann endlich die dunklen Wolken, die mein Professor heraufbeschworen hatte, vorbeigezogen waren und auch die Melodie des Handys verstummt war, saß ich wie versteinert in der gleichen Pose wie zuvor auf meinem Sitz: Angespannt – Torso vom Belvedere. Ich verließ weder den Hörsaal, noch musste ich weinen (die für verloren geschienene Contenance gewann ich glücklicherweise im Unglück wieder). Dafür schickte ich Stoßgebete gen Himmel. Ich betete, dass mein Handy die Klappe hielt. Die Tatsache, dass der Krampf mittlerweile auch bis in die Finger gewandert war, war in diesem Moment vollkommen nebensächlich (Ich bilde mir noch heute ein, den Schmerz in meinem linken Handgelenk spüren zu können. So ähnlich mussten sich diejenigen fühlen, denen noch immer die Hand- und Fingernerven schmerzten, obwohl sie sich schon vor Jahren den Arm von einem Hai abgebissen haben lassen oder ihn sich selber mit der Kettensäge im Wald abgeschnitten haben – Unvorstellbar diese Schmerzen). Es war unmöglich an das Handy heran zu kommen. Hätte ich es versucht, dann hätte ich mit Sicherheit einen Ganzkörper-Krampf bekommen. Ich bekam einen Schweißanfall und stellte mir vor, wie es wäre, wenn mein Handy nochmal losklingeln würde. Ich war mir sicher, dann würde ich sterben. Einfach seitlich vom Stuhl rutschen. Tragischer Weise musste ich einige Sekunden nach dieser schlimmen Vorstellung feststellen, dass ich mit meiner Annahme falsch lag: Ich rutschte nicht vom Stuhl und ich starb auch nicht. Dafür war ich untendurch und gar nicht happy – Danke Bobby McFerrin, danke Meher Baba.

    Nach besagter erster Vorlesung war ich mit den Nerven am Ende. »Und das jetzt jeden Tag?«, fragte ich mich und schaute mir skeptisch mit Hilfe des Spiegels auf der Unitoilette in die Augen. Mit meinen Armen stützte ich mich ab und lehnte mich weiter in Richtung Spiegel. Ich öffnete den Wasserhahn und schlug mir Wasser ins Gesicht. In Kabine fünf zu meiner linken ging die Toilettenspülung. Die Tür öffnete sich. ›Klack‹, ›Klack‹, machte es. Ohne auf zu blicken strich ich mir langsam durch die Haare. ›Klack‹, ›Klack‹, ›Klack‹, machte es wieder. Ich wusste nicht ob ich das Geräusch, welches mich an das Klappern von hohen Absätzen erinnerte, richtig einschätzte und hoffte zugleich, dass es nicht das war, was mir mein Gefühl sagte. Panisch und noch immer nicht aufschauend, ging ich zu dem Papierhalter und zog mir drei Papiertücher heraus, um mir mein Gesicht abzutrocknen. Gleichzeitig konnte ich hinter den Papierfetzen mein Gesicht verstecken – Ich wollte gar nicht erst hingucken. Meine Augen mussten ausgesehen haben, wie die von Rotkäppchen, als plötzlich von der Seite der böse, graue Wolf auftauchte und vorhatte es mit Haut und Haaren zu verschlingen. Ich konnte sowohl den spöttischen Blick, als auch die damit einhergehende Gefahr in meinem Rücken nahezu spüren. Ich bekam Gänsehaut. Die Nackenhärchen sträubten sich. Konnte das wirklich möglich sein? Hatte sich Rotkäppchen wirklich auf dem Weg zu ihrer Oma verlaufen? Ich drehte mich langsam um. Und in der Tat: Der Wolf stand direkt vor mir. Er hatte lange blonde Haare, Beine so lang wie die von einer Giraffe und trug dazu auch noch High-Heels. Zu allem Überfluss war er wie im Märchen auch noch einen Kopf größer als Rotkäppchen – Auch wenn er verbotener Weise Hilfsmittel mit roter Sohle benutzte. Fassungslos und wirklich schockiert, begutachtete ich das wilde Tier. Keine Sekunde war verstrichen, da knallte mir der Wolf mit der Pfote mitten ins Gesicht. Es fühlte sich aber eher wie eine kraftvolle Bärentatze an.

    »WAS FÄLLT DIR EIGENTLICH EIN?«, schnaubte mich das wilde Tier an, »HAST DU ETWA GESPANNT? ICH SCHWÖRE DIR, WENN DU GESPANNT HAST, DANN KLEMME ICH DIR ALLES AB!«

    In seinem Gesicht pulsierte irgendetwas. In ihm pulsierte das Böse. Ich hatte eine solche Angst, dass ein paar Tröpfchen Urin meine Unterhose nässten.

    »Ehm… ich habe mir nur Wasser ins…«, ›PATSCH!‹, bevor sich das kleine Mädchen mit seinem Kopftüchlein rechtfertigen konnte, schlug ihm erneut das Tier ins Gesicht. Diesmal fühlte es sich an, wie die Tatze eines Löwen mit ausgefahrenen Krallen – French Manicure.

    »LÜGNER!«, fauchte mich das Tier mit gefletschten, weißen Zähnen an.

    »Ich habe doch nur… ich muss mich in der Tür vertan haben«, versuchte ich mich erneut zu rechtfertigen, hielt die Hände als Schutz vor mein Gesicht und zählte die Sekunden bis endlich der Jäger auftauchen würde. Doch der Wolf ergriff zu meiner Überraschung (auch ohne Jäger) die Flucht und verschonte vorerst das arme Rotkäppchen. Er fauchte dem Mädchen noch einmal »Spanner!« hinterher und verschwand anschließend im schwarzen Wald. Rotkäppchen lief erneut nicht weg, dafür flennte es los und schloss sich in Kabine zwei des Mädchenklos ein.

    Und das war meine erste Begegnung mit Sarah und hätte mich warnen sollen. Doch Rotkäppchen scheute keineswegs die Gefahr. Die Gefahr reizte es…

    Nachdem ich mich ziemlich genau siebzehn Minuten auf dem Mädchenklo ausheulte und ich mich schon mit der maulenden Myrte aus ›Harry Potter und die Kammer des Schreckens‹ verglich, zog ich erneut drei Papiertücher aus dem Papierhalter, um mir diesmal nicht mein Gesicht ab zu tupfen, sondern vielmehr meine Hose zu trocknen – Ich hatte nämlich nicht bemerkt, dass ich siebzehn Minuten lang meine Hose voll geschnieft hatte und man hätte ja denken können, ich hätte mir ans Bein gepinkelt (hatte ich ja auch aber nur minimal). Und wie es der Zufall so wollte, löste sich auch noch der verdammte Papierhalter und fiel mir auf meinen linken Fuß. Genau in diesem Moment betraten Rebecca und Jacqueline (so sahen sie jedenfalls aus) die Toilette und sahen einen verheulten Verschnitt von Rotkäppchen und maulender Myrte vor sich, der sich augenscheinlich die Hose vollgepinkelt hatte und Sekunden später aus Frustration den ohnehin schon verrosteten Papierhalter wild von der einen, zur anderen Seite der Mädchentoilette trat – Ich war bedient.

    Letzte gesendete Nachricht: Ich brech das Studium ab!!!

    Auf dem Heimweg konnte ich mich insofern nicht von meinem stressigen Tag erholen, weil ein schätzungsweiser sechzigjähriger Senior meinte, mich anpflaumen zu müssen und mir vorzuschreiben, dass ich doch bitte auf der Straße fahren und nicht wie die dreijährigen mit ihren Stützrädchen den Passanten auf dem Bürgersteig den Weg versperren solle. Da ich in keinster Weise mehr Kraft besaß eine konstruktive Diskussion mit diesem älteren Herren zu führen, stieg ich von meinem gesponserten-zwei-Körbe-vorne-und-hinten-Rad ab, blickte ihm demonstrativ und hasserfüllt in die Augen und fragte ihn ob es so besser sei. Überrascht und mittlerweile sichtlich verärgert schnaubte er los. In seinem dunkelgrauen Schnäuzer verfingen sich nach und nach mehr Spuckpartikel. Sein Kopf wurde knallrot. Die Worte schossen durch mein linkes Ohr und kamen schneller, als er mich nun auch regelrecht anspucken konnte, aus meiner rechten Ohrmuschel wieder heraus. Ich wusste gar nicht mehr was er schrie. Nach außen relativ entspannt wirkend und doch innerlich geladen wie eine Zwille und rumorend wie der Ätna, schob ich mein Rad in Richtung Ruhepol namens Amys Wohnung. Ich verabschiedete mich bei dem Wutbürger mit den vermeintlich freundlichen Worten »Auf Wiedersehen!« – Die schnellstmögliche Art, Abstand zu einer Person zu gewinnen –, woraufhin er sich umdrehte und mir tobend hinterher quakte. Noch schneller und noch unartikulierter als zuvor. Wie meine Badeente. Ich sah schon die Schlagzeile: ›Mann erleidet wegen Terror-Fahrradfahrer Herzinfarkt!‹ – Headline. Drei Schulkinder kamen mir entgegen, mit denen ich wohl eine der berühmtesten Handgesten auf der ganzen Welt assoziiert haben musste. Der Geduldsfaden riss, der Ätna war bereit für eine Eruption, der Senior überspannte die Zwille: Grinsend streckte ich meinen linken Arm senkrecht in die Höhe, winkelte mein Handgelenk leicht an und kurbelte locker und genussvoll meinen linken Mittelfinger empor. Innere Genugtuung machte sich in mir breit. Bevor ich jedoch auf meinem emotionalen Höhepunkt an diesem Tage angelangt war,

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