Das Tanzrad oder Die Lust und Mühe eines Daseins
Von Hans Leip
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Buchvorschau
Das Tanzrad oder Die Lust und Mühe eines Daseins - Hans Leip
Rotterdam
Nun also beginne ich meine Lebensbeschreibung und bemühe mich, so klar wie möglich auszusagen. Unsagbares mengt sich hinein. Denn:
Wem wohl wäre gegeben,
unverrückbar das zu fassen,
was an Erleben
ihm zugestoßen
oder zugestreichelt ward?
Worte stehn da,
als wollten sie Leid tragen
an Gräbern des Verlorenseins;
doch schon stieben sie lachend ins Weitere.
Viel zarter schleierzart
und weit stichhaltiger erbost
sollte man aussagen können
über das, was geschah.
Bleibt da ein Trost?
Alle Zeilen sind Gassen
zu einem geheimen Eins.
Aber im Kleinen wie im Großen
bewährt sich allein: Das innig Heitere.
Meine Keimzelle
verdanke ich gewiß einer aufatmenden Erleichterung. So um Weihnachten 1892. Im August jenes Jahres, just zu Goethes Geburtstag, brach die Cholera über Hamburg herein, schrecklicher als je zuvor. Ende Oktober erlosch sie ebenso jäh. Man beklagte 8605 Tote, die Hälfte aller Erkrankten. Das war das Doppelte derer, die im Hafen und an Bord zur »Schiffsbevölkerung« zählten. Und man beklagte den Rückgang des Schiffsverkehrs um ein Drittel des Vorjahres. Die Gesamteinwohnerschaft hatte sich um 2% verringert. Fünfzig Jahre später waren es auf mehr oder minder noch grausigere Weise 10% der inzwischen auf rund eine Million angewachsenen Einwohner.
Die Freie und Hansestadt, von Wasser durchfädelt und mit den wohl meisten Brücken in Deutschland, hatte nie das beste Trinkwasser gehabt. Man entnahm es ungefiltert dem Elbstrom vor der Tür. Wie man sagte, nutzten auch Bierbrauer das Fleetwasser, das mit Abfällen aus Küchen, Müll und Kloaken saftig angereichert war. Daher der Wohlgeschmack, meinte ein Spötter. Ein paar abgelegene Feldquellen dienten nur wenigen Gescheiten.
Bei sommerlicher Schwüle hatte sich die Seuche, vom Hafen eingeschleust, in den engen Twieten, Gängen und Hinterhöfen der Gegend explosiv ausgebreitet und, von einem trägen dürren Südwest getätschelt, bis ins luftigere Hohenfelde. Dort wohnten meine Eltern mit ihren ersten drei Kindern. Sie blieben verschont, und ich war noch nicht. Mein Vater, im Krieg 1870/71 als Sanitäter geschult, half nach Kräften, dem Unheil Halt zu bieten. Tag und Nacht mit Lysoleimer und Handfeger unterwegs. Weihwasserwedel evangelisch, nannte es jemand. Zudem hatte er unweit der Wohnung einen artesischen Brunnen mit klarstem einwandfreien Wasser entdeckt, in einem vormaligen Parkgelände, das schon größtenteils den Baulöwen in die Pranken gefallen war, bei einer Reismühle, die aber nicht mehr bestand, obschon die Straße dort den Namen behielt.
Mein Vater wurde gerade 43 Jahre, als das Massengrab in Ohlsdorf geschlossen wurde. Zweihundertfünfzig Spaten waren tätig gewesen. Auch die rasch errichteten Cholerabaracken waren bald außer Dienst. Schwarz geteert, langgestreckt, wirkten sie später noch wie ungeheure Särge.
Auch in der Nähe unsrer Wohnung standen einige, und vielleicht dort hat mein Vater den unermüdlichen Arzt
Dr. Carl Lauenstein
kennengelernt, der zudem noch im Seemannskrankenhaus und nebenbei in der Diakonissen-Heilanstalt Bethesda wirkte. Seine Privatwohnung am Schwanenwik lag auch nur zehn Minuten von der Freiligrath Allee entfernt, wo er mich in Nr. 7, Erdgeschoß, am letzten Sommertag des Jahres 1893 morgens 9¾ Uhr holte. Und das an einem Freitag, der mancherorts, und so auch bei mir, keineswegs als Unglückstag gilt. Die übliche Hebamme allerdings reichte nicht aus. Ich zögerte mit Recht, mich ins ungewisse Dasein zu begeben. Der Senat verlieh meinem Helfer später den Titel Professor. Nicht meinetwegen, sondern erst zwanzig Jahre später, als der geachtete Chirurg seine amtlichen Posten aus Gesundheitsgründen aufgab.
Schon zwei Jahre darauf starb er mit 65, und das an einer Blinddarmentzündung, er, der so manchen in solchem Ernstfall erfolgreich beigestanden. Sein hochstirniges, vollbärtiges, gütiges Profil findet sich in Bronze auf einem Gedenkstein aus Muschelkalk im Garten des Hafenkrankenhauses. Es liegt im Blickwinkel des Dienstzimmers von Medizinaldirektor Dr. Küper. Da er mein Schwiegersohn ist, rundet sich die Angelegenheit zufällig und nicht unapart hinsichtlich des von ihm erwartbaren Nachrufs. Er hat überdies meine hier vorliegende Selbstbetrachtung angeregt.
In Hamburg war es üblich, den stattlichen Fronten der Etagenhäuser billigere Wohnungen hintanzufügen, um auch dort noch möglichst viel aus dem vormals begrünten Grundstück zu pressen. Namentlich die sogenannte Gründerzeit nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich war darin skrupellos. Nach der großen Seuche wurde allerdings manches allzu Enge und sanitär Bedenkliche niedergerissen. Immerhin war es meistens malerischer gewesen als das, was danach entstand. Schleunigst wurde nun auch der bislang lässig betriebene Bau einer Filtrieranlage oberhalb des Hafens nach englischen Plänen vollendet. Dadurch und im Fortschritt der Wissenschaften wurde die Elbmetropole vor weiterem asiatischen Unheil bewahrt. Immerhin hatte Robert Koch den Erreger schon zehn Jahre zuvor entdeckt.
Senior Pastor Behrmann hoffte – mit rosigem Haupt auf dem Teller der senatsgleichen Halskrause – abschließend: »daß unser Volk der Lehren der Gottlosigkeit innewerde, die viele wie Wasser einschlürfen, und nicht mehr vergeblich den Ruf der Kirchenglocken vernehme: Kommet zu dem Wasser des Lebens, kauft ohne Geld und umsonst!« Er bedachte nicht den Doppelsinn des Wortes »umsonst«, der jedem rund um die Alster als »vergebens« geläufig ist.
Die Hinterfrontzeilen hießen vormals Gang oder Hof. Jetzt taufte man sie hochtrabend Terrasse oder Allee. Letztere pflegte etwas geräumiger zu sein und hatte winzige Vorgärten. In einer solchen Allee, ich sagte es schon, kam ich zur Welt. Sie war nach jemandem benannt, von dem nur wenige Hamburger wußten, daß damit ein Dichter geehrt wurde. Meiner Säuglingssicht boten sich vorm Fenster ein paar Fliederzweige. Das war alles, was von den zerstörten Parkgefilden übriggeblieben war.
Meine Neigung zu mehr
scheint dort Wurzeln geschlagen zu haben.
Von nichts kommt nichts, sagt man. Meine Mutter und meine Schwestern Gretchen und Else, sie waren zwischen fünfzehn und fünf Jahre älter als ich, sangen mich mit kleinen Liedern in Schlaf. Mein zehnjähriger Bruder Willy bastelte mir einen Hampelmann und faltete mir aus einem Stück Papier ein Schiff. Mit seiner Laubsäge zauberte er aus einem Zigarrenkistendeckel überdies ein Pferd.
Liederverse, bewegte Figuren, Schiffe und Pferde
sind mir wohl darum mein Leben lang das gewesen, was eine gewisse Psycho-Forschung Statussymbole oder Archetypen nennt.
Auch ist eine mir früh geschenkte Negerpuppe zu erwähnen. Sie wirkte viermal literarisch nach, einmal als Knabe Kubi in der Erzählung »Der Nigger auf Scharhörn«, zum andern als Josua Burn im Roman »Die Blondjäger«. Drittens in der Komödie »Kolonie« und viertens in der Kurzgeschichte »Tanzinsel«.
Hingegen erschreckten mich die Geräusche einer soeben angelegten elektrischen Straßenbahn. Seitdem ist laute Technik nichts für mich. Jedoch das durch Ferne gedämpfte Brummen der Ozeaner hafenher tat mir wohl. So berichtete meine liebe Mutter. Sie fürchtete aber, ich würde Seemann werden wollen. Darum sang sie mir fromme Lieder vor, darin nichts von Schiffahrt klang. »Müde bin ich, geh zur Ruh ...« Und »Harre, meine Seele ...«
Wir zogen weg
ehe ich die Gegend auf eigenen Füßen erkunden konnte. Erst als ich ein halbes Jahrhundert hinter mir hatte, trieb es mich, das Gefilde meiner Geburt zu besuchen. Dort hatten britische Bomber unsinnig gewütet, obwohl es weder Industrie noch Militär gab. Ein Rest Mauer und Fensterhöhlen starrten mich an, dahinter der fast noch heile eiserne Ofen mit dem wie ein Fragezeichen gebogenen Rohr. Vorn auf dem bröckelnden Sims lag ein Strauß welker Stiefmütterchen. Darunter stand mit Kreide auf geschwärztem Bewurf: Mama, wo bist du?
Nein, mein Herz, es galt nicht meiner Mutter; sie hatte schon bald nach dem Ersten Weltkrieg die Erde verlassen. Sie befindet sich gewiß in dem Himmel, an den sie geglaubt. Und die zerfetzten Fliederbüsche unter der verzweifelten Frage, Mittsommer 1943, waren nicht mehr die, daran ich mich erlabt. (Heute ist das alles zu einem Sportplatz eingeebnet.) Ich war davongekommen und nur ein paar Tage daheim. Meine Geschwister alle ausgebombt, aber sie lebten, wenn nun auch weit verstreut. Mein Haus in Blankenese blieb mit Frau und Töchtern unversehrt. Aber die Vaterstadt war weit herum ein Schutthaufen.
Und fürchterlich auftobt
das Böse dieser Welt.
In Schutt zerfällt,
was deines Lebens Herberg schien.
Wo sollst du wieder Heimat finden?
Wie du auch weinst
nach dem, was nicht mehr ist,
die Stunde mißt
nur deine Gegenwart.
Sieh, schon erblühn der Winden
weiße Kelche auf dem Einst
und heben zart
sich zu dir hin.
So trinke einen neuen Sinn
und sei ihm hold wie einem alten Wein,
der dich begehrenswert und viel gelobt
beglückt. Und nenne ihn:
das trunkne Stillesein!
Meine Mutter
war klein und zierlich, immer gewillt, heiter zu sein, niemals laut, niemals ungütig, geschickt in allem und unermüdlich, und wo andere gingen, huschte sie.
Ihr einziger Ehrgeiz war, unbescholten zu bleiben, ihr einziges Streben, ihre sechs Kinder möchten etwas Ordentliches werden. Sie hat es, in dürftigen Verhältnissen, fertiggebracht. Geboren als Jus-primae-noctis-Kind eines adligen Gutsherrn bei Kraak nahe Hagenow-Land im Mecklenburgischen. Fürs Kirchenbuch mußte der Knecht Jochim Kröger herhalten. Der junge Freiherr fiel in einem Duell.
Meine Großmutter – die ich nie gesehen – heiratete einen Bahnbeamten. Ihr Kind, Maria, mußte gleich nach der Konfirmation aus dem Dorf, das Brot selbst zu verdienen. Und wurde Dienstmädchen in Hamburg bei einer Schulratsfamilie, wo sie bürgerlich norddeutsch gut Haushalt und Kochen lernte. Ich habe nie Großeltern kennengelernt.
Um 1930 sah ich mir die Gegend ihrer Herkunft an. Ein paar Bauernkaten in flacher Landschaft. Zum Frösteln karg. Mir begegnete ein zerknitterter Alter, und ich fragte ihn.
Marie? kröchelte er: Dee weur de best in Schaul. –
Wie war’s denn damals mit der Gutsherrschaft? –
Doa hebbt wi all Arbeit hatt, lütt Stünn vun hier to Faut. –
Un de Baron? –
Dee weur bald doot. Jagdunfall harn se seggt. –
Ich mochte nicht weiter forschen. Hier hatte meine gute Mama nicht viel verloren und nahm statt dessen viel Last auf sich, als sie mit achtzehn
einen von See an Land Gestiegenen
heiratete.
Im endlosen Sand
auf den mageren Wegen
zwischen Mecklenburgs Föhrenkratt
sah ich meine Mutter gehen,
und sie ging, als ging sie mir entgegen.
Kleine bloße Füße. Und es war
das kindliche Gesicht gesenkt.
Verborgen
weinten die hellen Augen.
Sie trug ein armes Bündel in der Hand
und die Schuhe, die bei jedem Schritt
schwerer wurden und noch lange taugen
sollten für schwerere Sorgen.
Der Mond stieg tränenklar
am Wald auf, mild gelenkt
von sieben Rehen,
und die gingen heimlich mit
in die große fremde Stadt.
Zeit ihres Vorhandenseins hat sie von Rehen geträumt. Ich seh sie noch – und hab sie gezeichnet – emsig an einem Wollstrumpf strickend – wie sich ihr zartes Gesicht verklärte, wenn sie mit ihrer Silberfaden-Stimme sang: »Paradies, / Paradies, / wie ist deine Frucht so süß. / Unter deinen Lebensbäumen / wird’s uns sein, als ob wir träumen ...« Die sehr genaue Zeichnung hatte mein großer Bruder Willy an sich genommen; sie verbrannte, als die Bomben 1943 seine Wohnung trafen. Es fand sich eine spätere.
Noch heute kann ich alle Strophen dieses überlieblich todes-sehnsüchtigen Herrnhuter Liedes auswendig. Mein Ohr speicherte leichthin derlei auf, was sich teils erst im Alter wieder hervortraut. Als Junge saß ich gern zur Andacht neben meiner Mutter in der Kapellengemeinde der Stiftskirche (die zu den vielen Altersheimen des Viertels St. Georg gehörte, Stiftungen reicher Handelsherren). Dort ging ich auch zur Sonntagsschule, gleich um die Ecke der Alexanderstraße.
Das letzte Mal aber in der größeren Barockkirche zur Dreieinigkeit, wo ich Chorjunge gewesen war. Ich stak in feldgrauer Uniform und war ein paar Tage auf Urlaub, Weihnacht 1914. Im schütteren Schein der Kronleuchter mochten die gelben emblemlosen Achselklappen des Gardisten den spitzenhäubigen Platzanweiserinnen wie golden und als etwas Höheres vorgekommen sein. Sie führten uns in eine der logenhaften Einbauten, in eine sogenannte Priölke, worin gemeinhin Senatoren die Predigt zu verdämmern pflegten. Da saß die liebe Seele so spinnwebfein neben mir in ihrem schwarzen Seidenkleid, dem einzigen Sonntagsstaat in fast fünfzig Ehejahren; niemals hätte sie ein neues erwartet oder geduldet. Und wie vormals folgten wir gemeinsam aus ihrem Gesangbuch dem Choral. Nahmen dann auch miteinander das Abendmahl, für mich das erste und letzte seit meiner Konfirmation.
Ihre scheuen Gebete
haben denn doch wohl geholfen, die drei Söhne verhältnismäßig unversehrt von der Front heimzugeleiten. Auch waren ihre drei Töchter gesund geblieben.
Sie hatte ihre Sprößlinge allein durch Sanftmut erzogen und durch ihr rührendes Vorbild an Fleiß und Umsicht und – notgedrungener – Sparsamkeit. Einmal, als ich eine fade Mehlsuppe nicht essen mochte, weinte sie still vor sich hin. Da hab ich mich denn doch überwunden.
Nach Fuhlsbüttel nie
höchstens nach Friedrichsberg, äußerte sie gelegentlich. Das eine war das Hamburger Zuchthaus, das andere die Irrenanstalt. Ihr ging das Schicksal einer entfernt Verwandten, ihrer Stiefnichte Selma, nahe, einer tüchtigen und reizvollen Putzmacherin. Die hatte sich aus heiterem Himmel in einem Modegeschäft als Königin von England aufgespielt und eine Menge bestellt. Erfreut vom Inhaber auf englisch angeredet, erklärte sie, sie spreche nur deutsch wie ihr geliebter Prinzgemahl Albert. Man wurde mißtrauisch, verständigte den nächsten Schutzmann, und das Ende war eben die Klapsmühle Friedrichsberg.
Und Tante Dora, Stiefschwester meiner Mutter, jammerte: Marie, dien Kinner sünd all goot to weg und klook sünd se ook. –
Ihre Älteste, Gertrud, war indes so schön, daß ich mich in sie verliebte und auf einem Heideausflug ihr unversehens einen Kuß gab, was sie mit einer Ohrfeige quittierte. Sie starb mit zwanzig an Tuberkulose. Tante Dora besaß ein vergilbtes Buch, »Hermann und Dorothea«, von ihrer Kraaker Mutter, meiner Großmutter also, her, Geschenk vermutlich jenes sagenhaften Barons. Zu spät erkannte ich den Wert der möglichen Goethischen Erstausgabe, da war sie unauffindbar. Und so auch ein in blauen Sammet gebundenes Gesangbuch mit goldenen Schließen. Daß Dorotheas Bruder ausgerechnet Hermann hieß, war sicher auch nicht von ungefähr. Dieser galt übrigens als
Abenteurer
Früh war er nach Kalifornien verlockt worden, weil dort das reine Gold glattweg in die Taschen zu raken sei. Zerlumpt war er heimgekommen. Sein hilflos gieriges Gesicht prägte sich mir ein, als er unter den Tisch tauchte, ein Stück Brot, das mir vor Schreck über seine wilde Erscheinung aus der Hand gerutscht war, zu verschlingen. Noch schluckend erzählte er, er sei drüben mal als Pferdedieb verdächtigt worden, wo es ihm doch nur um ein bißchen Hafer zum Brei zu tun gewesen. Schon stand er unterm Galgen, den Strick um die Gurgel. Da habe ihn ein Spelunkenwirt losgekauft, ein Landsmann. Mit dem sei er dann als Kohlentrimmer zurückgelangt. Zum Dank habe er ihm Dorothea zur Frau empfohlen. Und sie habe nichts dagegen gehabt. Denn dieser Barkeeper sei denn doch wohl ein doller Kerl. In der Tat sah er mit seinem gestutzten Schnauz wie ein echter Amerikaner aus, brachte es aber daheim nicht weit.
Mein Vater durfte von den »unsoliden Besuchen« nichts wissen. Aber meine mitleidige Mutter hängte eine blaue Schürze vors Fenster, wenn die Luft rein war, und ließ den Stiefbruder an unseren bescheidenen Mahlzeiten teilnehmen, bis er eine Stellung als Gepäckträger am Altonaer Bahnhof gefunden und heiratete. Er war ein stattlicher Mensch mit schwarzem Vollbart. Ich beneidete ihn um seine Abenteuer, ahnungslos genug, bis ich selber von solchen gekostet. Meine Mutter schüttelte den Kopf: Du bist in der Freiligrath Allee geboren. Die heißt zu Ehren eines Dichters so. Werde du lieber so einer. –
Nein, nicht gern, soll ich geantwortet haben: Ich will Professor werden oder Seeräuber. –
Denn einer hübschen Freundin meiner Schwester war ich mal auf den Schoß gehüpft und hatte sie stürmisch geküßt. Das tat ich mit allen hübschen ihrer Freundinnen. Diese nun hatte gelacht: Du bist ja ein Seeräuber! Warum tust du denn das? –
Da soll ich geantwortet haben: Du schmeckst nach Himmel, das weiß ich längst. –
Darauf hat die Lustige dann gesagt: Und nun redest du auch noch wie ein Professor. –
Wie sollte ich schon einen Unterschied erkennen?
Von Freiligrath wußte ich weiter nichts
Erst in der Schule lernte ich eins seiner langen Gedichte, das von den schlesischen Webern. Da wird der Berggeist Rübezahl vergebens angefleht, und so weben sie zum Hunger- bald das Leichentuch. Mein Glaube an die Macht von Geistern ist seitdem erschüttert. Sein Gedicht »Die Auswanderer« war mir lieber. Erst spät ersah ich, welch Wegweiser mir meine harmlose Mutter da vorgepflanzt. War doch dieser Poet ein vormärzlicher Demokrat und Rebell gewesen, ja, ein Sozialist, als das noch einem Staatsverbrechen gleichkam, ein Kämpfer für Freiheit, Frieden und Menschenrecht. Seine entsprechend flammenden Verse waren zudem gute Lyrik. Das ist bis heute selten. Er war in Europa weit umhergeirrt, nicht zum Vergnügen, sondern, daheim verfemt, als Handelsvertreter und Bankfachmann sein Brot zu verdienen. Erst 1867 bot sich ihm eine deutsche Zuflucht, und zwar in Württemberg, als dort ein altbackenes Ministerium frischeren Geistern Platz gemacht. In Norddeutschland gab es die ersten freien Reichstagswahlen. Der Dichter war fast schon sechzig. Eine nationale Sammlung enthob ihn für seine letzten sieben Lebensjahre der äußeren Sorgen. Er zeigte sich mit einigen patriotischen Versen anläßlich des Sedankriegs erkenntlich, sachlich und ohne Hurra.
Daß die Hitlerzeit diesen aufrechten Schriftsteller ablehnte, war klar. In den bezüglichen Literaturgeschichten ist sein Name nur dürftig erwähnt. Ähnlichkeiten mit seinem Schicksal – wie man mir nachsagt – sehe ich kaum, es sei denn seine Beziehung zu London und der Schweiz. Ich stand seit je abseits jeder Partei, war nie Rebell und Verfechter, sondern mehr
Beobachter und Darleger
Wohl gab ich meine Ansichten freimütig preis und geriet damit zeitweise in Schwierigkeiten. Nie aber habe ich jemandem meine Erkenntnisse aufzuheften gestrebt. Wie sagt Buddha etwa? Strebe jeder nach seiner Vollkommenheit! Nach der Vollkommenheit anderer zu streben ist sinnlos.
Die Einsicht meines Erzeugers lautete auf plattdeutsch etwas einfacher, nämlich:
Dat geiht mi wied vörbi
Das geht mir weit vorbei. Damit schirmte er sich ab. Er nahm keine Stellung zu erregenden Vorfällen. So robust er äußerlich wirkte, so unverzwickt sein Alltag schien, er war innerst empfindlich und verdeckte es mit besagter Wendung und Abwendung. Schwieg auch über empfangene Rippenstöße und Nasenstüber. Diese augenscheinliche Dickfelligkeit mochte sich früh bei der Seefahrt und im Gemetzel zu Gravelotte und St. Privat gebildet haben (Schlachtenorte, die er nur einmal finster genannt). Jede Kontaktnahme schien ihm zuwider. Das verhinderte ein gedeihliches Fortkommen.
Er stammte aus behäbigem Bauernbetrieb zu Trebel bei Lüchow am Rande der Lüneburger Heide. Das bescheidene Dorf fand sich anno 1979 plötzlich in der Presse erwähnt, als die Einwohner gegen ein unweit geplantes Atommüll-Entsorgungszentrum zu Felde zogen. Sein Vater, Jürgen Heinrich Leip (1791–1856), war nebenbei Schneideramtsmeister. Er selber hatte die Vornamen Johann Heinrich Friedrich. Sein Großvater, Johann Christoph, war als Schafhirte aus Lomitz eingewandert und hatte der Schulzentochter zu einem schon vorehelich sich vorne verkürzenden Kleide verholfen. Wie allen Hirten seit Urzeiten muß ihm einiges Hintersinnige vertraut gewesen sein. Von ihm hatte mein Vater sicher die Fähigkeit geerbt, zum Beispiel die Wundrose »zu besprechen«. Er wurde manchmal sogar ins Krankenhaus geholt. Eine Weitervererbung fand nicht statt. Fast noch ein Knabe, war er als überzählig gen Hamburg, Hafen und weite Welt abgeschoben und hatte die Seefahrt kennengelernt, als sie noch unsägliche Pön und Härte war. Von erlebten Urtümlichkeiten zwischen Las Palmas und Oahu, wo heute Hotellerie und Touristik blühen, hat er nur einmal und nie wieder etwas angedeutet. Er ahnte meine damit erweckten Wunschträume.
Ein früherer Bordgenosse von ihm, Hein Wiggers, später Gastwirt, soll mein Taufpate gewesen sein und heimlich einen Schuß Seewasser ins Taufbecken gegeben haben, angeblich vor der Landemole Alte Liebe zu Cuxhaven mit einer leeren Rumbuddel geschöpft. Und die Taufschale war britisches Porzellan von der Firma Davenport, wo mein Vater bei flauer Arbeitslage am Hafen als Packer und Kutscher aushalf. Mit Pferden konnte er umgehen, weil er nicht zu der noch kleinen Marine, sondern zur Artillerie nach Hannover eingezogen gewesen und einen Apfelschimmel geritten hatte.
Der muntere Pate soll auch geunkt haben, wegen meiner Blondheit und blauen Augen und heftigen Strampelei sei ich zum Wikinger und Piraten geboren. Das haben meine Eltern nicht gern gehört. Obwohl an der Wasserkante fast jeder Junge dazu neigt, ein Störtebeker zu sein. Mag sein, solch Unkerei und Wasserzauber bleibt nicht wirkungslos. Vielleicht darum hat mich der Begriff Freibeuterei später des öfteren beschäftigt, wenn auch nur in sachlicher Darstellung und Romantik, die mir dennoch bis ins Mark griff.
Von echter
Tradition
wie jemand meinte, dürfte da kaum die Rede sein:
Tradition,
was meinen Sie?
Für mich ist dies
der Hafen meiner Vaterstadt
und seine Sirenen-Rhapsodie.
Ozeanerbaß und Schlepperpfiff
rumorten in meinen Knabenschlaf.
Hochgetakelte Drohung und das Verhüllte
der See, wo Gott sich mit dem Teufel traf.
Das war der Einfluß, der mein Staubecken füllte,
bis es überlief. Und daß an der Wand
im ersten Schuljahr der Sandtor-Kai hing,
wo mein Vater mit den Frachten umging.
Überdies, wie ein Forscher ertiftelt hat,
hieß mein Urahn vielleicht Leif Erikson.
Ihm weihe ich ein Buddelschiff,
weil er Amerika fand
und es auf sich beruhen ließ.
Der sogenannte Forscher machte sich mir telefonisch bekannt als Dr. Fritz Leip, Frauenarzt in Altona. Ehe die beabsichtigte Begegnung zwecks näherer Auskunft zustande kam, vernichtete ein Bombenangriff alles Anberaumte.
Ob dem Mann um eine illustre Untermalung seines Ahnenpasses zu tun war? Mir schwante doch bald, der Name Leif hätte nach den Gesetzen der mittelhochdeutschen Lautverschiebung ursprünglich Lief heißen müssen, um sich in Leip zu verwandeln. Gewiß gibt es den Leiptstrom der Edda, den Lebensstrom, und es wäre allzu schmeichelhaft, mich darin zu baden. Mich deucht denn doch, eine Herkunft von wendisch lipa = Linde ist auch nicht häßlich. Denn die Vorfahren meines Namens, soweit ich kraft Kirchenbüchern es erspähen konnte, stammen aus Hannoversch-Wendland zwischen Lüneburg, Hitzacker und Dannenberg, eingedeutscht seit Heinrich dem Löwen und früher. Frau Linde ist der Lieblingsbaum des deutschen Volksliedes, der Baum der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit. Elfen und Kobolde hausen darin und darunter, und Schlangen bewachen verborgene Schätze zwischen seinen Wurzeln.
In London und New York redete man mich mit Mister Leap an. Das bedeutet das Sprunghafte, auch Schlaftrunkene und das Federnde, das Setzen über Graben und Hindernis, sogar auch die Pirouette, das Drehen um die eigene Achse. Sieh da, da wären wir wieder beim Tanzrad.
Wie dem auch sei, muß jeder doch zufrieden sein mit dem, was ihm von den Vorfahren als Emblem oder Stigma oder Stempel angehängt wurde. Und es zu werten trachten.
In London beschlich mich oft der Gedanke
wenn nicht Hamburger, möchte ich wohl Engländer sein, trotz Soho und Whitechapel. Das war damals, als Great Britannia noch »ruled the waves«. Und seinen Söhnen noch weit um den Globus die Welt zu Gebote stand, wie den Deutschen nie. Und Churchill wurde von seinen internen Gegnern noch nicht »Churchyard« und »Totengräber des Empire« genannt, das uns doch wie das Pfund als Symbol unerschütterlicher Beständigkeit gegolten hatte. Auch gab es noch wirklich das, was man unter Gentleman versteht.
Wir wußten zu Haus wohl zu schätzen, was über den Chef der Hamburger Filiale Davenport uns gelegentlich als Mitbringsel erreichte: Chester Cheese und Strawberry Jam, auch Cake-Packungen mit der Tower-Bridge drauf und China Tea in schönen Blechdosen, auf denen Mandarine prangten. Weite Welt! Und weite Welt war auch auf mancher Postkarte einer von der Rose geheilten Patientin meines Vaters, der Kammersängerin Ernestine Schumann-Heink, mit dem Eiffelturm etwa oder der New Yorker Freiheitsstatue. Ich bestaunte die fremden Briefmarken. Ich sammelte sie, bis ein Klassenkamerad, der sich mein Freund nannte, sie sich auslieh, um sie, namentlich seltene brasilianische, seinem Vater zu zeigen, und ich sie nie zurückbekam. Das hat mich oft zu Unrecht mißtrauisch gegen sogenannte Freundschaften gemacht. Übrigens wüßte ich nicht, daß mein Vater irgendwann viel Freundschaft gepflogen hätte. Seine kargen Gefühlsäußerungen beschränkten sich auf Zitate von Bibelstellen und auf die Kosenamen, die er seinen Kindern gab. Mich nannte er Dudeldei, weil ich alle meine Spiele mit Singsang begleitete. – Er war stolz, den
Hamburger Bürgerbrief
zu besitzen. Heute gibt es derlei nicht mehr, sondern nur noch Einwohner.
Unsere Erziehung überließ er gänzlich unserer Mutter. Zu ihrem Geburtstag verfertigte er jeweils ein Gedicht. Und zeichnete eine Rose dazu, die aussah, als sei sie aus Meereswellen gefaltet. Meine beiden größeren Schwestern lächelten darüber und auch über das beigelegte Handtuch oder die billige Schürze; denn zu mehr reichte es nicht. Ich aber hätte das alles gern besser gekonnt.
Nur einmal hab ich erlebt, daß ihn die Gelassenheit verließ.
Da war Hein Wiggers da
der Fliegenwirt, weithin bekannt und beliebt, rot ziegenbärtig, mein Taufpate, und meistens auch schweigsam. Ich hoffte immer, er werde beim Kartenspiel etwas von der Seefahrt erzählen, und saß stumm lauernd in der Ecke. Meine Mutter war mit von der Partie; denn es spielt sich besser zu dritt. Auch sie schwieg und legte die Karten nur leise hin, indes die Männer es nicht an hartem Knöchelschlag fehlen ließen. Viel mehr als ein: Du speelst ut! – Oder: Solo! – Oder: Trumpf! hörte man nicht. Aber plötzlich sagte mein Vater halblaut: Pik-As ... – Er blickte auf, das gezückte Kartenblatt in der Hand. Seine Augen öffneten sich starr, weißlich umrandet, so stachen sie, erschreckend anzusehen, fast schwarz in eine Unwahrscheinlichkeit. Sein Macker lachte grob: Pik-As, jo, bi dat Aas von Tünn ... Tein Doog un nix to freten, dat holl ut. Dree Doog keen Woter, und du warst mall. Djä, Marie, dor seten wi fast, un dat weiht tein Jacken, un de Brück un dat Kartenhuus wegfegt in de Brekers un de meisten mit. Un de noch dor wörn, Klüten un Ei, de hebt Soltwoter sopen, anner Woter harrn wi jo nich mehr un nix, un denn wörn se dann klöterig un jumpten aff ... – Wie wörn de letzten, fügte mein Vater ein mit geisterhafter Stimme, so klang es mir.
Der Rotbart nickte: Un wenn Timm Pöppels nich mit sien oln Kutter sick ranwogt harr, denn seten wi nich hier, Marie. – Du speelst ut! – Ich saß atemlos geduckt und hätte gern Genaueres über die Strandung des mürben Frachters gehört.
Mein Vater kehrte zu sich zurück und trank einen Schluck, sah nach mir hin und kaute: Un dee will na See! –
Lot em doch! entgegnete der Wirt.
Nee! knurrte mein Vater und hieb seine Karte auf den Tisch.
Wieso denn nich? lachte Hein Wiggers.
Dee is veel to wek! –
Dat giwt sick. –
Ick will di watt seggn, nee! –
Meine Mutter ergänzte beklommen: So is dat! –
Der Macker zückte einen Blick in meine Ecke, er hatte mich doch mit Seewasser taufen lassen: Na, min Söten, watt meenst du? –
Doch nach See!
stotterte ich.
Da donnerte die Faust meines Vaters auf die Tischplatte, daß die drei Biergläser tanzten, und brüllte: Nee und nochmals nee und dormit basta! –
Meiner Mutter quollen die Tränen hervor, und dann wurde weitergespielt.
Seit den Tagen Babylons
wird gern gefragt, unter welchem Stern jemand geboren ist. Schiebt man doch nach Bedarf gern geheimen Einflüssen zu, an Wegen und Irrwegen mitzuwirken. Sich vom Weltall gelenkt zu wissen, entlastet die eigne Verantwortung. Aber die Sterndeuterei ist leider noch fragwürdiger als das genaue Erkennen jener Himmelskörper, die zur Aufhellung von Schicksal und Charakter herangezogen werden.
Die Astrologen berufen sich auf Gesetze aus tausendjähriger Überlieferung. Aber welche Gesetze wären nicht wandelbar? In der Praxis bedürfen diese Magier allerlei Angaben zur Person. Außerdem helfen ihnen Gedankenübertragung und Strahlungswertung. Handlinien und Ohrformen ergeben weitere Hinweise.
Zudem ist immer ungewisser, wie sich der unaufhörliche Stemstrahlungsprall noch durch das dichter und dichter werdende Netz der Radio- und Reaktorwellen hindurchschlängeln soll, ohne beeinträchtigt zu werden. Die Gestirnspielerei behält dennoch ihre Reize und verhilft wie eh und je Schlaumeiern zur Beachtung über sonstige Leistungen hinaus und übertrifft das übliche Kartenlegen durch den Hauch höherer Sphären. Wie denn ein okkult sich gebender Spiegel zumeist doch schmeichelhafter ist als der überm Waschtisch.
Anno 1928 veranlaßte ich den sternbewanderten Kollegen Ludwig Beil, die Mitglieder der »Hamburger Gruppe« – der Baumeister Fritz Höger, der Arzt Hans Much und der Schriftsteller Hans Henny Jahnn gehörten dazu – unter die Himmelslupe zu nehmen. Er tat es aus Jux, dann aber geradezu verblüfft. Die Ergebnisse standen im Almanach des Hamburger Künstlerfestes »Das Mondhaus zu Bimbelim«. Seine Deutung über mich lautete:
Horoskopisches Sonett, den Schriftsteller und Maler Hans Leip betreffend:
Die Sonne in der Jungfrau steht
sie hat mit Jupiter Trigon.
Der Wirklichkeit lebendger Sohn,
dem Glück durch Brust und Mantel weht.
Neptun, der Phantasie Magnet –
Der Sinne Stachel gibt Skorpion.
Männlicher Mystik Direktion,
darüber Mars im Aufruhr geht.
Uran mit Venus konjugiert:
Das gibt den kämpferisch Erregten,
doch pflanzlich und mit Chlorophyll.
Er jubiliert und spintisiert,
ist einer von den Unentwegten,
der sich gewollt, wie Gott ihn will.
Ich bewundere, wie dieser witzige schwarzlockige Zeitgenosse und Liebchen-Verbraucher solch krause Vorgaben in so nette Reime hat schmieden können. Er hatte einen beachtlichen Roman seiner Jugend verfaßt, »Martin«, den der S. Fischer Verlag veröffentlichte, was ein Güteausweis war. Ludwig Beil entglitt dann ins Journalistische unter Hans W. Fischers Ägide. Als ich ihn nach Jahren wiedersah, war er Gerichtsberichterstatter in Frankfurt am Main. Dort hatte ich 1946 im Hochstift gelesen. Wir saßen danach bei dünnem Tee miteinander im Hause einer seiner immer noch zahlreichen Freundinnen, saßen unter Wolken wunderbarster Rosen aus deren Züchtung.
Ergraut und müde zitierte er bekümmert den Schluß einer Kadenz meines Vortrages:
Und eine Zeit
fällt in die Hand der andern
als wie ein Kleinod
und ein Raub.
Unterdes einige der miteingeladenen Herren die Absatzmöglichkeiten und Verschiffungsaussichten gehorteter Wehrmachtsbestände erörterten, gedachten wir der zwanziger Jahre zwischen Jungfernstieg und Blankenese, die so arm und heiter, bedrückt und zukunftsfroh gewesen. Und plötzlich entsann er sich meines Horoskops und lächelte verkniffen: Hätte dir gern einige Finsternisse angehängt, offen gesagt ein bißchen dich beneidend um deine Bücher und Mädchen. Deine Mädchen sahen alle wie Heilige aus, und meine alle wie Huren. Das ist inzwischen seriöser geworden. Und bösartig wollte ich auch damals nicht sein. Vielleicht hat es alles sogar gestimmt. Dein Leitstern ist der Atair, der Schwebende im Sternbild des Adlers. Als du 1893 geboren wurdest, befand sich die Zeit sowieso in der Schwebe
zwischen Romantik und Technik
Ich stöbere nach: 1893: Fords erstes Auto. Diesels Ölmotor. Erste Antenne. Röntgenstrahlen schon fast entdeckt. Flugtechnik, Radioaktivität, Funk regen sich. Erster Film. Labour Party in England. Sozialdemokratie in Polen. Frauenstimmrecht auf Neuseeland. USA übernehmen Bau des Panamakanals von den Franzosen. Fridtjof Nansen segelte mit der »Fram« in die Arktis. Der deutsche Reichstag beschloß Verstärkung des Heeres. In Hamburg wurde die Literarische Gesellschaft eingeweiht. Von Hugo von Hofmannsthal erschien »Der Tor und der Tod«, von Tolstoj »Das Reich Gottes in uns«, von Beatrice Harraden »Ships that pass in the Night«, von Loti »Matelot«, von d’Annunzio »Odinavali«, von Rolland »Niobe«, von Engels »Entwicklung des Sozialismus«, von Korolenko »In schlechter Gesellschaft«, von Hamsun »Redakteur Lynge«. Schon liefen die ersten Rotationsmaschinen. Der sechzigjährige Johannes Brahms verliebte sich zum letztenmal (in die Liedersängerin Alice Barbi). Max Klinger widmete ihm einen Zyklus Radierungen. Richard Strauß dirigierte die Uraufführung von Humperdincks »Hänsel und Gretel«. Albert Langen aus Köln eröffnete in Paris einen Verlag und zog damit über Leipzig nach München, wo er dann die satirische Wochenschrift »Simplicissimus« gründete.
Deren erster Jahrgang, 1896, wurde mein erstes Bilderbuch neben Schnorr von Carolsfelds »Bibel in Bildern«. Eine bezeichnende Mischung, die sich lebenslang bemerkbar machte. Als ich dann lesen konnte, entdeckte ich im Bodengerümpel mehrere Bände »Lesefrüchte auf dem Felde der Literatur«. Sie stammten womöglich aus dem Besitz Friedrich Hebbels und waren über Elise Lensing in Hamburg hängengeblieben.
Nun wohlan! Alles Geschehen strahlt aus und wirkt unbewußt nach.
Da waren wir schon in
die Langereihe
gezogen, erst in einen Keller gegenüber der Turnhalle.
Meine Eltern betrieben dort einen kleinen Brotladen in noch vornehmer Gegend. Still nachschmeckend entsinne ich mich der Kuchendüfte. Aber die Wohnung sei – hörte ich später – feucht gewesen, und man war darum zur Erholung weiter längs auf die von Sonne bestrahlte Nordseite gleich so hoch wie möglich geflüchtet. Hausnummer 91. Das massive Gebäude hat die Bomben überdauert. Mit Vergnügen seh ich, es ist das einzige der Gegend mit einem griechischen Giebel. Und gleich darunter im 4. Stock haben wir gewohnt, runde sieben Jahre, glaube ich. Gegenüber lag ein Weinkeller mit einer Riesentraube überm Eingang, aus Metall natürlich. Als ich die erste echte zu Gesicht bekam, war ich über ihre Dürftigkeit enttäuscht, ahnte auch nicht, wie glücklich ich eines Tages sein würde, eigene Trauben von eigner Hauswand zu pflücken.
Bevor ich die vier Treppen bewältigen konnte, horchte ich begierig in den
Hinterhof
in die Schlucht, wo zwischen grauen niedrigen, sonnenlosen Bauzeilen auf zumeist näßlichen Kopfsteinen Kinder im Kreis gingen und sangen. Als ich mich da drunten endlich beteiligen durfte, kannte ich die meisten Melodien schon auswendig. Weiß auch bis heute die Worte dazu, von: »Ringel rangel Rosen ...« biszu »Wer hat den Schlüssel zum Garten ...« und »Schlafe ein, du meine Rosa ...«, »Ting tang Töchterlein, wer sitzt in unserm Turm ...«, »Paul putzet seine Schuh ...«, »Gloria, gloria, sind vergangen sieben Jahr ...« Besonders gefielen mir Verse, die von zwei Gruppen des Chors dramatisch gesungen wurden: »Es trieb ein Schäfer seine Herde, Herde aus ...«, »Die fleißigen Waschweiber ...«, »Wo bist du denn gewesen, mein ziegender Bock ...«, »Adam ging und wollte sich erquicken«, »Trauer über Trauer, hab verloren meinen Ring«. Und auch »Die Meiersche Brücke, die ist so sehr zerbrochen ...«, wobei zum Schluß die schuldlosen Engel gewogen wurden auf vier zusammengefaßten Armen, die schuldigen Teufel aber dazwischen tüchtig gerüttelt, und das nach dem kaum im voraus abzuschätzenden Gutachten der Anführerin, meistens des größten der Mädchen. Knaben waren sowieso nur in Kleinformat zugelassen. Ich war sehr unglücklich, einmal ausnahmsweise
unter die Teufel
geraten zu sein. Das ging mir nach bis in Schulzeit und Kommiß, bis ich mir endlich den Leitsatz meines Vaters zu Herzen nahm. Ich bin erträglich damit gefahren.
Seltsam, alle jene Reigen lauteten hochdeutsch. Indes war die tägliche Sprache im Stadtteil St. Georg damals durchweg Plattdeutsch. Auch meine Eltern sprachen Hamburger Platt, das sich aus den unterschiedlichen Dialekten der umgebenden Landesteile gebildet hatte, gröblich, saftig und klangvoll.
So auch im Hafen, wo daneben nur noch Englisch galt. Und da gab es noch Rahsegler und Galionsfiguren und Shanties. Zur Bastion Stintfang herüber und herauf vernahm man noch im Südwest das »Ick heff mol een Hamborger Veermaster sehn, to my hoday ...« und »Blow, boys, blow ...« beim Aufheißen der Segel. Das verband sich mit den vermutbaren Abenteuern meines Stiefonkels und den allgemein im Allerzonenduft