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Der Hüttenmann: Finish auf Finnisch
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eBook390 Seiten5 Stunden

Der Hüttenmann: Finish auf Finnisch

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Über dieses E-Book

"Dieses Buch ist ein Brikett, das einem nur schwer auf der Zunge zergeht. Es haftet sich an den Gaumen, um sich dort allmählich in Lakritz zu verwandeln. Dann wird es beginnen, seine süßlich bitteren Noten zu verströmen, die wie die Brisen eines gnädigen Mondlichts in die seelischen Abgründe unserer gekränkten Herzen hinabfahren, die sich einstmals, da wir es verweigerten, für uns schwarz geärgert haben. Nichts anderes geschieht als das Begleichen einer alten Schuld ..."
Es geht um die Abrechnung mit einem zu spät erkannten Erzfeind. Um die Geschichte eines Paares, das nach 44 Jahren in die früh abgewehrte Liebe zurückfindet. Philosophisch betrachtet: um einen Gehirn verbiegenden Existenzialismus, der in Poesie schwelgt. Um die Rettung der Widerwärtigkeiten des Lebens in die Schönheit der Sprache.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Juli 2018
ISBN9783842283763
Der Hüttenmann: Finish auf Finnisch

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    Buchvorschau

    Der Hüttenmann - Rasmus Saxlund

    Epilog

    Niilo Nickström wurde, wie ich, in Finnland geboren, allerdings erst drei Jahre später. Fast jedenfalls, denn was der runden Summe an Exaktheit fehlt, ließe sich auf einundzwanzig Tage und einen ganzen November beziffern.

    Er kam als Waage, ich als Schütze zur Welt. Die Astrologen halten das eigentlich für ein gutes Gespann, in dem die Taktik eines Luft- und die Jagdlust eines Feuerzeichens harmonisch zusammenkommen könnten. Aber zwischen zwei Knaben, von denen der eine eingeschult wird, während der andere gerade mal an der Schwelle zum Kindergarten steht, klafft ein unüberwindlicher Abgrund. Dieser verbreitert und vertieft sich noch um einiges, wenn der erstere zum vierzehnjährigen Jüngling herangereift ist, der sich nachts erhebt, um sich die Gedichte einer unglücklichen Liebe von der Seele zu schreiben, während der andere mit seinen elf Jahren noch mit der elektrischen Eisenbahn spielt oder, weil er Briefmarken sammelt, von der Blauen Mauritius träumt.

    Mit dem Fortschritt der Zeit spielen diese drei Jahre Altersunterschied eine immer geringere Rolle. Sind gewisse Erfahrungen erst einmal gemacht, läßt es sich für den Jüngeren aufschließen. Nicht selten gelingt ihm sogar das eine oder andere Überholmanöver. Am Ende vermag er, im Vergleich mit dem Älteren, als der Klügere und Weisere dazustehen. Ganz einfach deshalb, weil er sich seinen Erfahrungen gestellt und sie durchdrungen hat. Denn die Jahre allein bewirken es nicht, daß sich aus einer mit allen Wassern gewaschenen Person eine besonnene Persönlichkeit entwickelt. Da muß jemand schon hin und wieder innegehalten haben und mit sich selbst und der Welt, die er in sich hineingenommen hat, zu Gericht gegangen sein. Oft hört man den Gemeinplatz die von allen Beteiligten abgenickte Runde machen: Man muß wissen, wo man herkommt.

    Verkehrt ist das nicht, wenn dabei nicht außer acht gelassen wird, daß es hierbei um mehr als einen Ort geht. So ziemlich jeder kennt den Namen seiner Geburtsstadt. Und kam er in einem Dorf zur Welt, so weiß er dieses zu benennen. Schwierig wird es für alle, die in einem Flugzeug oder während einer Schiffspassage von ihren Müttern entbunden wurden. Oder zwischen Getreidefeldern während einer Taxifahrt, die am Rande eines Dorfes begann, um in einer gut beleumdeten Klinik der nächstgelegenen Stadt enden zu sollen.

    Gut zu wissen, daß in jedem Fall die Mutter der Ursprungsort bleibt. In ihr wuchsen wir heran. Sie stellt das erste Haus dar, das ein jeder von uns zu Beginn bewohnte. Ihr Herzschlag blieb über neun Monate das uns begleitende Kontinuum, ehe wir das Licht der Welt erblickten.

    Bevor wir, durch den Geburtsakt, in die Welt hinausgeworfen wurden, kamen wir in die Leiber unserer Mütter geschlichen. Lange vor unserer Geburt waren wir bereits da und durchliefen die embryonalen und fötalen Formen eines Verwandlungsprozesses, der sich in seiner Morphologie, was unser nachgeburtliches Leben anbelangt, über Jahrhunderte nahezu unüberbietbar ausnahm und nicht eher seinesgleichen kennenlernen sollte, bis es die kosmetische Chirurgie verstanden hatte, sich den Fehdehandschuh überzustülpen, um diesbezüglich das eine oder andere, mehr oder weniger fragwürdige Paroli zu bieten.

    Der jeweils persönliche Urknall unserer Entstehung fand statt, als die besonders agilen Samenzellen unserer Väter mit den geduldig wartenden Eizellen unserer Mütter eine Verschmelzung eingingen. Was vor dieser Singularität war, darüber läßt sich keine Aussage machen. Plötzlich waren wir da – und vorher war es nichts mit uns. Wir kommen sozusagen aus dem Nichts, stellten nichts als eine pure Möglichkeit unter Millionen anderer Möglichkeiten dar, die sich im Wettstreit um ihre Verwirklichung auf die Bahn gebracht fanden, um als erste das Ei zu erreichen, mit dessen Fusionierung sie sich zu individuellem Leben erheben würde. Wenn wir also, wissen wollend, wo wir herkommen, in diesem Sinne weit genug zurückgehen, gelangen wir an einen Punkt, dessen Lücke sich für uns nicht schließen läßt – es sei denn, durch ein grenzenloses Erstaunen, dessen Macht sich als ein Rätsel zu verspüren gibt, dessen Unlösbarkeit uns nie wieder loslassen wird.

    Wer das nicht auszuhalten vermag, der legt sich lieber auf einen Ort fest, der ihm vertraut, wenigstens aber bekannt vorkommt. Er sucht, findet und pflegt in seiner Erinnerung Elemente des Heimatlichen. Wer nicht auch Gutes zu erinnern vermag, könnte gar nicht überlebt haben. Irgend etwas muß es immer gegeben haben, aus dem sich Hoffnung schöpfen ließ, und schienen die Umstände auch noch so widrig zu sein.

    Ein ihm verbleibender Funke Hoffnung, und der Mensch setzt, wie kaltherzig geworden er die Welt auch empfinden mag, auf die Karte, irgendwann das Feuer des Lebens neu entzünden zu können, das ihn wärmen, schützen und ernähren wird – so, wie es ihm einst als Leibesfrucht, an der Mutterbrust und in der Nähe der dampfenden Kochtöpfe des Küchenherds erging.

    Wo wir herkommen, das läßt sich nur in verkürzter Form beantworten. Genau genommen auf der Basis dessen, daß wir es nicht wissen können. Im eigentlichen Sinne muß es die offene Frage unseres Lebens bleiben. Das allein ist nicht weiter schlimm. Schlimm wird es erst dadurch, daß wir es nur allzu gerne vergessen, wie völlig ungeklärt es um den Grund unserer Herkunft steht. Es scheint so schwer, diese Ungewißheit auszuhalten. Schwer schon, aber woher nehmen wir das Recht, es von daher vorschnell als unerträglich zu denunzieren? Etwas, das uns tragen könnte, so, wie es jedem Kleinkind leicht fällt, die Welt erstaunlich zu finden. Das Unbegreifliche findet im Staunen des Kindes genau den unbegrenzten Raum, den es zu brauchen scheint, ohne daß sich uns die Antwort auf die Frage erschließt, wozu und für wen er letztendlich taugen soll, der ganze Aufwand, der von der Schöpfung und ihrer kosmischen Ausdehnung betrieben wird.

    Aber es nimmt Einfluß und das Kind hat keine Scheu, ihn auf sich wirken zu lassen. Es läßt das Unbegreifliche in sich versinken und vertraut es seiner Seele an. Tief im Verborgenen findet eine heimliche Hochzeit statt, von der wir nicht wissen können, ob sie nicht eines Tages die Erhebung einer sinfonischen Tonschöpfung veranlaßt, die einen einmaligen Segen über uns ausschüttet und in unsere Herzen gießt, den niemand zu bestellen wußte, da er unerhört und damit außerhalb des Vorstellungsvermögens unseres Verstandes lag.

    Mein Name ist Rasmus Saxlund, und ich kam vor dreiundsechzig Jahren in Muonio zur Welt. Im Alter von vierzehn Jahren verzog ich mit meiner Familie nach Enontekiö, wo mein Vater sich mit Erfolg um einen Posten in der gehobenen Verwaltung beworben hatte. Beide Gemeinden verfügen in etwa über die gleich starke Zahl von um und bei 2.300 Einwohnern. Niilo Nickström lief mir viele Jahre lang nicht einmal über den Weg. Wenn er es doch tat, vielleicht als ein seinen Schlitten hinter sich herziehender Junge, so habe ich ihn nicht wahrgenommen. Ich hielt mich an die gegensätzlichen Nester zweier Cliquen und nahm gerne Kontakt zu älteren Jugendlichen auf, von denen ich mich bereitwillig sowohl in biologischer Hinsicht als auch in politischen Fragen aufklären ließ, wie quälend lang die Schockmomente hinterher auch andauern mochten. Aber vielleicht war es gerade das, was ich suchte – weniger das Inhaltliche als das Erschaudern. In mir war gerade der Sinn für Poesie und klassische Musik erwacht. Ich liebte die 5. SINFONIE von Sibelius, vor allem die Bläserkolonne, die den kraftvoll die Luft durchschneidenden Flügelschlag der einander klarinettenhaft zurufenden Schwäne wie in Zeitlupe nachzuahmen schien.

    Während ich in meinem Zimmer das Sonett »Finnische Landschaft« von Bertolt Brecht las und selber Gedichte schrieb, schmerzten einem Niilo Nickström vielleicht noch die Ohren, die ihm von seiner Mutter langgezogen worden waren, weil er wieder einmal seine Pudelmütze draußen im Schnee liegen gelassen hatte. Ich fand es aufregend, zu lesen, daß Bertolt Brecht im Jahre 1940 vor den Nazis nach Finnland geflohen war und, vier Bahnstunden von der Hauptstadt Helsinki entfernt, in dem Haus des Gutes der finnischen Dichterin Hella Wuolijoki in Marlebäck Asyl gefunden hatte. Und nicht nur das, denn er arbeitete mit ihr, während die Schlacht um England tobte, an seinem Stück HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI, für welches er das Theaterstück SÄGEMEHLPRINZESSIN seiner finnischen Gastgeberin als Vorlage benutzen durfte. In einem Gemütszustand, der für Brecht schwer zu fassen war, dem er jedoch in einem Tagebucheintrag folgenden Ausdruck verlieh: »Es ist interessant, wie weit die Literatur, als Praxis, wegverlegt ist von den Zentren der alles entscheidenden Geschehnisse.« Eine irgendwie merkwürdig anmutende Beschwerde darüber, daß ihm, nach Dänemark und Schweden, zum wiederholten Male die Flucht vor den nachrückenden Barbaren geglückt war, bei denen es sich um seine Landsleute handelte. Die finnische Landschaft hat das Ziel ihrer Magie nicht verfehlt und sorgte für einen neuen Ton, der in die Gedichte Bertolt Brechts einzog. Daß »ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist« – das mochte er nicht aufrecht erhalten. Er sprach, worterfinderisch, von einem »vieltonigen Wind«,

    »durchschaukelnd eine Luft

    so mild, als stünden

    jene eisernen Milchbehälter,

    die dort vom weißen Gute rollen, offen!

    Geruch und Ton und Bild und Sinn verschwimmt?«

    Unpolitisch bleibt die Zone seiner in Finnland zur Trance neigenden Poesie dennoch nicht, wenngleich er auf die sattsam von ihm gewohnte Lehrhaftigkeit seiner Schlußpointen wohltuenden Verzicht zu leisten vermag und sie einfach wegläßt. So erhebt er in den Versen der »Finnischen Landschaft« angesichts einer »Fähre, die mit Stämmen fährt«, die Frage:

    »Ist dies das Holz, ohne das kein Holzbein wäre?«

    An dieser Frage blieb ich damals hängen, weil ich mich fragen mußte, wie Kapitän Ahab sie wohl beantwortet hätte. Ich kam zu dem Schluß, daß er sie für unerheblich befunden hätte, weil ihm für den Verlust in seinem Fall ein Holzbein nicht als Ersatz in Frage gekommen wäre. Ihn verlangte es nach dem substantiellen Material des Feindes, durch den er geschädigt und beraubt worden war. Nur dann, wenn ihm ein niederbrechender Ast den Unterschenkel zertrümmert hätte, wäre dessen Holz der rechte Stoff gewesen, ihm den Knochen zu ersetzen. Nun war es aber Moby Dick, das größte Ungeheuer unter den Walen, das ihm das Bein zermalmt und weggerissen hatte. Der Stumpf, den er sich anschnallte, war von daher, weil sein Gegner unbesiegt in die Tiefe entkam, wenigstens aus dem Unterkiefer eines Artgenossen geschnitzt, der für seine unerschöpfliche Wut auf Moby Dick herhalten mußte.

    Brecht begreift sich als »Der Flüchtling« – dieser »sitzt im Erlengrund und nimmt sein schwieriges Handwerk wieder auf: das Hoffen.«

    Ein Dichter darf die Hoffnung vielleicht als Handwerk begreifen, wenn er sich beim Schreiben zusieht und die Zeilen vorantreibt, die ihn zugleich, trostspendend, mit sich ziehen. Wie sollte sich auch jemand die Hoffnung erhalten können, ohne hin und wieder Tröstliches zu erfahren?

    Und doch scheint das Gedicht in einer Untröstlichkeit zu enden, wenn er sich nämlich, wie jemand, dem sowohl die An- wie die Aussprache zu fehlen scheint, vor Augen hält:

    »Und sieht ein Volk,

    das in zwei Sprachen schweigt.«

    Eine Anspielung auf die zwei Landessprachen, die in Finnland Gültigkeit besitzen – Finnisch und Schwedisch.

    Nun gibt es in Finnland die Redewendung: »Der Finne spricht nicht und küßt nicht.« Letzteres läßt sich als Vermeidungsstrategie begreifen. Bekanntlich ist bei minus einunddreißig Grad Celsius der Moment erreicht, wo beim Küssen die Lippen zusammen frieren. Gut, dann geht man halt, sobald diese Temperatur zu herrschen beginnt, in die Sauna – und küßt sich dort, bis es einem zu heiß wird. Der Finne spricht nur das Nötigste. Je wortkarger sich jemand gibt, als ein desto ehrlicherer Mensch wird er angesehen. So ließe sich also eine Grabrede vorstellen, in der es über den Verstorbenen in sinnverwirrender Pietät heißt: Er war ein nichtssagender Mensch – aber ein Ausbund an Ehrlichkeit.

    Es gibt einen Witz, der von einem sechsjährigen Mädchen erzählt, das mit ihrer Familie in dem kleinen Dorf Pohjanmaa lebte und Zeit seines Lebens noch nie ein Wort gesagt hatte. Eines Tages zerrte das Mädchen ganz aufgeregt am Hemdsärmel seines Vaters herum und rief: »Die Sauna brennt!« Man kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Vater, der sich als erster faßte, blieb wegen des Feuers ganz ruhig und sagte nur: »Laß sie brennen, Kleines! Hauptsache, du bist nicht stumm. Warum hast du denn nicht schon früher gesprochen?« Daraufhin antwortete es ihm: »Es gab doch nichts Wichtiges zu sagen.«

    Der Unterschied zwischen einem introvertierten und einem extrovertierten Finnen läßt sich daran erkennen, daß ersterer auf seine eigenen, letzterer auf deine Schuhe blickt, wenn er mit dir spricht. Vielleicht nur einer von jenen Witzen, die, kaum, daß man sie ausgesprochen hat, bereits, unwiederholbar, tot in sich zusammenbrechen.

    Aus Stereotypen gebildete Mythen sind natürlich lachhaft – aber im Alter von vierzehn Jahren amüsiert man sich gerne, weil es sowieso nicht leichtfällt, noch an irgend etwas zu glauben, was man zuvor in seiner unverbrüchlich anmutenden Wahrheit für selbstverständlich gehalten hat. Es stört einen bis zur Halsstarrigkeit, nicht erinnern zu können, bei seiner eigenen Geburt dabeigewesen zu sein. Man möchte dem Indizienbeweis, der einem mit Photos aus dem Kreißsaal vorgelegt wird, mit der Stirn den Bauch einrennen. Am Ende entscheidet man sich für eine Neugeburt, bei der man selbst an den Fäden ziehen kann – und gibt sich einen neuen Namen. So geschah es jedenfalls in meinem Fall, indem ich mir im Rahmen der ideologisch ausgerichteten Clique, bei der es sich um eine von Gymnasiasten gegründete Rote Zelle handelte, den Namen Konowalow der gleichnamigen Erzählung von Maxim Gorki zulegte. Ich selber besuchte eine Schule, die nicht auf das Abitur angelegt war, hatte es aber als Autodidakt geschafft, bei den konspirativ gesonnenen Gymnasiasten Aufnahme zu finden. Für mich war es ein Teilerfolg in die richtige Richtung. Ich hatte dem Druck meines Vaters, stellvertretend für ihn das Abitur zu machen, das ihm, kriegsbedingt, verwehrt worden war, zunächst, durch abflauende Leistungen im Fach Mathematik, erfolgreich standhalten können. Aber den Stachel in meinem Fleisch spürte ich schon. Er hatte sich eingewachsen und ließ sich nicht mehr entfernen, so daß mir klar war, ihm eines Tages den von ihm geforderten Tribut zollen zu müssen. Das Wort »Abitur« klang, wenn mein Vater es aussprach, wie die Beschwörung einer unerreichbaren Heiligkeit. Dabei verfügte er über die Stärke einer solchen Persönlichkeit, daß er sofort einen Pol bildete, in welcher Gesellschaft auch immer er mit seiner Kraftnatur in Erscheinung trat. Wie konnte es also etwas geben, vor dem er, mit glasig werdendem Blick, demütig auf die Knie fiel und für Sekunden am Rande der Selbstaufgabe zu taumeln schien?

    Ich fragte mich ernsthaft, ob ich die Intelligenzbestie in mir hervorkitzeln müßte, falls es sie gab, um das hinzukriegen, was er selbst nie geschafft hatte, so daß er es nur noch schwärmerisch anzubeten vermochte. Ich mußte zusehen, ob sich mit meinem Realschulabschluß so viel Gewicht in die Waagschale werfen ließ, daß man mir seitens des Gymnasiums die Chance einräumen würde, doch noch die höhere Weihe des Abiturs anstreben zu dürfen. Die Rote Zelle war von daher nicht das schlechteste Testgelände, um festzustellen, ob es mir gelingen würde, intellektuell mitzuhalten. Und da dem so war und ich sogar Lob dafür erhielt, daß ich in meinem Alter in meiner Einsichtsfähigkeit schon »so weit« gekommen sei, zog eine gewisse Ruhe in meine Seele ein. Ich entdeckte gewissermaßen den Faktor Fleiß aufs neue, den ich ziemlich arg vernachlässigt hatte.

    Mit Fleiß war jedenfalls zu erreichen, daß man, nachdem erst ausgeschüttet worden war, was man sich durch ihn an auswendig gelernten Kenntnissen erworben hatte, einen intelligenten Eindruck hinterlassen konnte. Ich bin mir beileibe nicht sicher, wieviel Intelligenz hinter den guten Noten steckt, die jemand in der Schule erreicht. Kristallklar steht mir jedoch vor Augen, daß hinter guten Noten jede Menge Büffelei steckt, die einem Hosenboden zugemutet wurde. Ich schlug sämtliche Fremdwörter nach und prägte mir ihre Bedeutung ein. Schließlich sprach ich nur noch in Fremdwörtern. Unter einem meiner Aufsätze in der Schule, mit dem ich sogar ein »sehr gut« erzielt hatte, stand in Rot das Wort »Fremdwörterseuche«! Die hervorragende Note durfte von mir als Zeichen interpretiert werden, daß ich sie alle richtig verwendet hatte. Die Kritik entzündete sich am Stil, nicht am Inhalt, mit dem ich gepunktet hatte.

    Ich lernte ganze Sätze auswendig. Mein Lieblingssatz stammte von Lenin und lautete: »Der Staat ist das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze!« Manch einem kam ich, über das wandelnde Lexikon hinaus, wie ein Computer vor. Dabei wußte ich durchaus, wie dieser Eindruck zustande gekommen war. Ich hielt nur lange nichts davon, mein Geheimnis zu lüften. Mit Menschenliebe hatte all das wenig zu tun. Ich war zu einem Kopfmenschen geworden, dessen Rationalität mein Herz mit Stacheldraht umwickelt und fast zum Stillstand gebracht hatte. Die bessere Welt, für die Menschheit, jawohl, die galt es mit Überzeugungseifer anzustreben – aber was hatte das mit den Menschen zu tun, mit denen ich es jeden Tag unmittelbar zu tun hatte? Wenn sie nicht augenblicklich zustimmten, behandelte ich sie wie Verräter an der guten Sache. Mein Haß auf die Gesellschaft, die Lehrer und meine Eltern war grenzenlos. Ich sah in mir einen Gefangenen, der plötzlich die Kraft besaß, die Gitterstäbe des bürgerlichen Kerkers mit geschliffenen Worten zu zersägen, um sie schließlich mit Hilfe meiner Zähne auseinanderzubiegen. Man fürchtete meine Geistesgegenwart, denn ich war in der Lage, jemanden mit drei Sätzen mundtot zu machen und überhaupt für eine Stimmung zu sorgen, in der sich niemand mehr zu räuspern wagte.

    All das änderte sich mit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal mit LSD Bekanntschaft machte. Ich gewann plötzlich den Sinn zurück für alles, was spürbar war und sich zu fühlen gab. Ich vernahm wieder den Atem der Angst in den Gesichtern der anderen. Mein Mitgefühl mochte und wollte ihnen kein Leid mehr zufügen. In Deutschland gab es den verbündeten Kern der Rote Armee Fraktion, kurz RAF genannt, dessen mörderisches Handwerk ich nur noch verabscheuen konnte. Ich sah in den großmäuligen Protagonisten verantwortungslose Killer, die ihre von Parolen gesättigte Intelligenz dazu nutzten, mit dem von ihrer blutroten Fahne schamlos verhüllten Zweck, bei dem ihnen die Befreiung der ausgebeuteten Massen wie ein diffuses, niemandem einleuchtend vermittelbares Wolkenkuckucksheim vorschwebte, die brutalen Mittel zu heiligen, die, wie doch zu vermuten war, dem unreflektiert gebliebenen Haß auf die respektlosen Erziehungspraktiken in ihren Kinderstuben entstammen mochten. Das Volk wollte nicht von Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin befreit und gerettet werden, sondern bekam es vielmehr mit der Angst vor dem Terror zu tun, den sie auf die Straße brachten. Wie konnten sie und ihre Sympathisanten annehmen, diesen aussichtslosen Kampf, der so verstiegen war, auf die Kapitulation der Staatsorgane zu setzen, jemals gewinnen zu können?

    Dieser Fritz Teufel erschien mir wie ein selbstverliebter Scharlatan, der nichts anderes geleistet hatte, als zur richtigen Zeit mit dem richtigen Namen dahergekommen zu sein. Eigentlich hätte er gut in die Blödeltruppe Insterburg & Co. hineingepaßt – aber ob man ihn davon hätte überzeugen können, daß es der Wahrheitsfindung in eigener Sache dienlich sein könnte? Seiner Art, zu blödeln, fehlte es an der Inspiration und Kreativität, die Ingo Insterburg im Übermaß besaß, weshalb er zu nicht mehr taugte, als in den Gerichtssälen einen Außenposten für den Dadaismus abzugeben, der aus einem Dornröschenschlaf erwacht war, in welchen die Biederkeit der Adenauerzeit ihn verschlagen hatte. Rainer Langhans war die Fleischwerdung Struwwelpeters, nur insofern inkonsequent, daß er es seinen Fingernägeln nicht gestattete, ebenfalls zu Berge stehen und in den Himmel wuchern zu dürfen.

    Ich wuchs zweisprachig auf, da meine Mutter aus Deutschland stammte und im Berliner Stadtteil Köpenick das Licht der Welt erblickt hatte. Sie fand es empörend, wie sich die APO-Bewegung während des Staatsbesuchs in den Straßen ihrer Heimatstadt aufführte, den der Schah mit seiner Frau Farah Diba Anfang Juni 1967 angetreten hatte.

    Nichts interessierte sie so wenig wie Politik. Als ich sie einmal darauf ansprach, konterte sie mich mit dem Satz ab: »Hitler hat mir gereicht!«

    Ich wußte, daß sie als vierzehnjähriges BDM-Mädel für ein Jahr nach Polen verschickt worden war, um dort auf einem enteigneten Bauernhof, unter nicht enden wollendem Heimweh, Feldarbeit zu verrichten. Kein Tag verging, an dem sie nicht, spätabends, noch einen Brief nach Hause geschrieben hatte, ehe sie sich ohnmachtsartig in den Schlaf fallen ließ.

    Aber das Märchen zwischen Soraya und dem Schah hatte sie in den Illustrierten der Fünfziger Jahre verfolgt, ehe es dann 1958 nach sieben Jahren scheitern sollte, weil die Geburt eines Thronfolgers ausgeblieben war. Sie verfolgte, in ihrer Treue Soraya gegenüber, alles, was es später über sie und ihren Lebenswandel zu lesen gab, wobei kein Skandal dabei war, den sie ihr nicht verzeihen konnte, nicht einmal ihr Techtelmechtel mit Gunter Sachs. An Farah Diba hatte sie sich gerade erst insoweit gewöhnt, daß sie sie nicht mehr zum Teufel wünschte. Aber durch die Ereignisse in Berlin sah sie sich ihr förmlich in die Arme getrieben und fand es eine Schande, wie man eine Frau ihres Formats, die ihre Fruchtbarkeit bewiesen hatte, so unerzogen, schäbig und haßerfüllt empfangen konnte. Die Brillanten-Krone, die sie während der Hochzeitszeremonie trug, hatte fast zwei Kilo gewogen – auch das wußte meine Mutter zu würdigen, sowohl vom Wert als auch vom Gewicht her, dessen zu bewältigenden Druck auf die Halswirbel sie sich so strapaziös vorstellte, wie es auf Dauer wohl auch tatsächlich geworden war. Im Tod des unbewaffneten Studenten Benno Ohnesorgs sah sie genau das verwirklicht, worauf es hinausläuft, wenn man sich in Gefahr begibt. Auch ihr leuchtete nicht ein, weshalb ein Polizist namens Kurras jemandem, der bereits auf dem Boden liegt, wo mehrere seiner uniformierten Kollegen auf ihn einschlagen, aus kurzer Distanz in den Hinterkopf schießen muß. »So etwas ist doch Mord!« sagte sie.

    Das konnte ich nur bestätigen. Diskutieren wollte sie jedoch nicht mit mir. Ich saß am Küchentisch, während sie das Wasser des Topfs mit den Spiralnudeln durch ein Sieb goß. Bevor sie mir das Essen in Form einer Kelle voll Nierengulasch auf den Teller füllte, hörte ich sie noch zu sich selber sagen: »Und dann heißt er auch noch Ohnesorg, wäre er doch nur zu Hause geblieben!«

    Was mich wiederum zu der Überlegung führte: Und jetzt müssen Bennos Eltern mit ihrem Nachnamen weiterleben, als sei er immer schon der vorgezogene Spott eines auf Zynismus geeichten Schicksals gewesen, der doch eigentlich erst auf den Schaden zu folgen pflegt!

    LSD hatte mir die verlorengegangene Dimension der Sanftmut meines Wesens zurückgeschenkt. Ich weiß noch, wie sich meine Mutter in den Wohnzimmersessel setzte, der dem Lehnstuhl gegenüber stand, von dem aus ich den Balladen Frédéric Chopins lauschte – und zu stricken begann. In einem Abstand von zwei Metern trafen sich hin und wieder unsere Blicke. Sie ahnte nicht, daß ich unter dem Einfluß von LSD stand. Aber sie nahm doch die selige Stimmung wahr, in der ich mich den Tonfolgen hingab. Auch entging ihr nicht die für sie empfundene Liebe und Bewunderung, die mir unabweislich aus dem Herzen aufstieg. Ich fand es bestrickend, wie sie strickte. Zugleich sah ich ein, daß ich nichts von dieser ihr so leicht zwischen den Händen gelingenden Kunst verstand. Ebenso wenig, wie den Tasten eines Klaviers solch brillierende Kompositionen abzugewinnen. Auf die mit einem Schmunzeln gestellte Frage, was denn mit mir sei, konnte ich nur auf die Musik verweisen und beteuern, wie gut ich sie finde. Ich machte sie auf wiederkehrende Passagen aufmerksam, die es mir mit der Strenge ihrer Majestät besonders angetan hatten. Ich weiß nicht, wie exzellent sie die Musik selber fand. Aber ich sah, wie gut es ihr gefiel, daß Chopin in meinen Ohren etwas unsagbar Großes darstellte. Wir blieben auf unseren Möbeln sitzen, bis die letzte der vier Balladen verklungen war. Und ich glaube, daß wir uns im Sprachlosen nie auf eine Weise näher gekommen sind, die verschmolzener war, als in dieser von dem begnadeten Klavierspiel Arthur Rubinsteins etwas mehr als halb durchtasteten Nachmittagsstunde – einmal abgesehen von der Zeit, in der sie, ihre frohgelaunten Lieder singend, mit mir schwanger ging. Während ich mich erhob, um wieder auf mein Zimmer zu gehen, gab sie mir noch einen Tipp auf den Weg:

    »Vielleicht, wenn du das nächste Mal im Plattenschrank stöberst, findest du die Aufnahme ›Satumaa‹ von Henry Theel. Sie müßte ziemlich zerkratzt sein, denn ich habe sie damals, mit dir im Arm, oft gehört, ich glaube sogar täglich mindestens einmal. Du warst gerade mal zwei Monate alt. Klar, daß es mir irgendwann zu viel wurde. Ich meine, es war meine Schuld, daß ich des Ganzen schließlich überdrüssig wurde. Die Single erschien am 11. Februar 1955, ich weiß es noch genau, weil ich einen Tag vorher von meiner Schwester, deiner Tante Anne, aus Deutschland den dort damals an Nr. 1 stehenden Hit ›Jim, Jonny und Jonas‹ vom Hula Hawaiian Quartett zugeschickt bekam, ihn aber in seiner Direktheit entsetzlich aufdringlich und kitschig fand. Bei ›Satumaa‹ wurde mir klar, daß es so viel schöner sein kann, von einem Ziel nur zu träumen, als es tatsächlich zu erreichen. Wenn einem ein beschworenes Traumland vor Augen steht, dann stört es auf eine ungeheuer plumpe Weise, wenn einem unterdessen die Adresse zugesteckt wird!«

    Ich hatte meine Mutter noch nie so poesievoll reden gehört und geriet auf meinem Zimmer in ein nebelhaftes Grübeln. Ich stellte schließlich fest, daß es mir ein wenig zu weit ging, mich in dieser Hinsicht auf Forschungsreise zu begeben. Zum Glück hatte sie es nicht gefordert, denn dann hätte ich wahrscheinlich völlig dicht gemacht. So aber konnte ich es offen lassen, was es mit diesem »Satumaa« wohl auf sich haben würde. Das Wort klang so schön, es bedurfte eigentlich gar keines Textes. Und die Geschichte meiner Mutter mit diesem Lied sollte die ihrige bleiben, damit sich in mir nicht jetzt, sondern in fernerer Zeit, der Ansatzpunkt zu einem eigenen Bezug bilden könnte.

    So geriet das Ganze erst einmal in Vergessenheit, und es dauerte auch ein Weilchen, bis ich wieder, ohne stöbernde Absicht, sondern stets nur mit gezieltem Zugriff auf Chopin oder Sibelius, die Tür des Plattenschranks öffnete, um sie sofort wieder ins Schloß zu drücken, als könnte sich sonst noch erweisen, daß sie aus dem gleichen Holz wie die Büchse der Pandora geschnitzt sei.

    Etwa drei Jahre später lernte ich ein Mädchen namens Stella kennen. Ich kam gerade von der anderen Seite des Ounasjärvi-Sees und legte mit meinem Boot am Ufer von Hetta an, dem Hauptort der Gemeinde Enontekiö im finnischen Teil Lapplands und Ausgangspunkt des Wanderweges durch den Pallas-Yllästunturi-Nationalpark. Ich hatte zwei Nächte in einer der frei verfügbaren Wildmarkhütten verbracht, die man mit Touristen zu teilen hatte, falls diese auftauchten, um sie zur Übernachtung oder zur Rast zu nutzen. Ich hatte mich jedoch glücklich schätzen können, daß ich die Hütte für mich alleine hatte. So blieb ich in meinen Studien ungestört und hatte auch schreiben können, ohne daß mich jemand mit der Frage unterbrochen hätte, was denn so wichtig sei, es dem Papier anzuvertrauen. Natürlich hätte ich keine Antwort gegeben, die auch nur annähernd verraten hätte, was in meinem heiß gelaufenen Kopf so herumschwirrte, daß es dingfest von mir zu machen war, wenn ich nicht nach und nach genau deshalb verrückt werden wollte, weil ich es unterlassen hätte. Stella war nicht allein, sondern in Begleitung eines respektablen Boxerrüden, der auf den Namen Igor hörte. Ich schätzte sie auf sechzehn Jahre, mußte mich jedoch korrigieren lassen, da sie gerade erst fünfzehn geworden sei. Ich war noch nie auf ein weibliches Wesen gestoßen, das über dermaßen lange Beine verfügte wie sie. Die ihnen eingeborene Gabe, nichts als stolzieren zu können, schien eine direkte Herkunft aus dem Hoheitsgebiet einer Schneekönigin nahezulegen, die sich eine Tochter gewünscht hatte, die niemals, jedenfalls nicht über den Gürtel hinaus, in der Verwehung einer Winterlandschaft versinken können sollte. Mit diesen Beinen ließ es sich, selbst durch den tiefsten Schnee hindurch, immer noch majestätisch schreiten. Das waren so meine ersten Gedanken, vermutlich, um mich von der aparten Schönheit ihres Gesichtes abzulenken, von der ich mich geblendet fühlte. Ich fragte sie, wie es denn sein könne, daß wir uns noch nie zuvor über den Weg gelaufen waren. Ihre prompte Antwort erfolgte so nüchtern wie präzise als freche Frage:

    »Vielleicht, weil ich heute zum ersten Mal in dieser Gegend bin?«

    Sie lächelte mich sehr süß dabei an, so daß ich mich nicht scheute, nicht weniger frech zu antworten:

    »Das muß ich zwar noch einmal überdenken, aber genau daran könnte es liegen!«

    Wenn man nicht genau weiß, ob man sich gerade verliebt hat oder nicht, dann deutet die Frage, die man sich diesbezüglich stellt, mit Sicherheit darauf hin, daß dergleichen nicht der Fall sein kann. Denn von der Verliebtheit wird man erwischt, und zwar auf Anhieb. Und wenn sonst auch nichts mehr klar bleibt, nichts ist von größerer Transparenz, als das aus Sehnsucht gewebte Gewand, von dem sich das bis in den Hals hinauf pochende Herz umhüllt sieht, ohne es doch von den Häuten seiner zart vibrierenden Kammerwände unterscheiden zu können. Es hatte mir also schlagartig eingeleuchtet, daß ihre Anziehungskraft mir innerlich keine Möglichkeit mehr bot, um meinen wild und ungeschickt mit sich selbst herumeiernden Gedanken die Gleichgültigkeit eines leeren Nestes anzumaßen, in deren nichts bebrütenden Leerlauf sich noch hätte ausweichen lassen. Äußerlich hätte ich noch Reißaus nehmen und, unter falschen Angaben, wieder in meine Einsiedelei zurückrudern können, aber nicht nur meine entkräfteten Arme, sondern auch die Tatsache, daß ich in meinem Elternhaus zum Mittagessen erwartet wurde, wie auch der Umstand, am nächsten Morgen wieder meinen Dienst in einem Altersheim in Tornio anzutreten zu müssen, wo ich ein freiwilliges soziales Jahr auf mich genommen hatte, sprachen dafür, all meinen Mut zusammenzunehmen, um die sterbensschöne Schüchternheit zu sprengen, von der ich mich, angesichts dieser anmutigen, doch leider allzu jungen und mir von daher so unerlaubt wie unerreichbar erscheinenden Unbekannten, plötzlich erfaßt sah. Dabei hätte ich sie auf der Stelle an meine Brust ziehen und solange knutschen und küssen mögen, bis wir beide tot zusammengebrochen wären, von einem schockergrauten Hund verbellt, der die Leute alarmieren würde, welche Sanitäter gerufen hätten, denen es schwergefallen, aber schließlich doch gelungen wäre, unsere ineinander versunkenen, gänzlich unversehrt gebliebenen Leichen auseinanderzuknoten. Grabinschrift: »Hier liegen zwei, die küssten sich, während sie ins Himmelreich aufstiegen, versehentlich zu Tode« – wenn man uns denn in einem Sarg beigesetzt hätte, wovon nicht auszugehen ist, da wir ja noch nicht einmal die Zeit abgewartet hatten, um uns miteinander verloben zu können. Es gelang mir also, dem Ungemach meiner so aussichtslos verliebten Seele eine gewisse Munterkeit abzugewinnen,

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