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Rheinufer
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eBook287 Seiten3 Stunden

Rheinufer

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Über dieses E-Book

Fünf Männer treffen sich regelmässig in der Basler Wirtschaft „Mägd“ und erzählen aus ihrem Leben. Der Leser tritt eine spannende Reise an in unterschiedliche Lebensgeschichten, deren Spuren in die Kindheit des Cellisten Zarko Celwuin auf den Balkan führen, in ein Hotel am Walensee, wo der spätere Gymnasiallehrer Felix Holder die Gäste am Klavier unterhält, in das Atelier des Kunstmalers Robert Frank und in den geregelten Alltag des Buchhalters Paul Wettstein und des Polizisten Artur Staff.
Kunstvoll sind die verschiedenen Lebensstränge miteinander verbunden. Der Rhein wird dabei zum Symbol, der das Leben vorwärts treibt und die Erinnerungen wie Treibgut ans Rheinufer spült.
Mit tänzerischer Virtuosität führt uns der Autor Guido Holstein, der aus einem fast unbegrenzten Schatz an Fantasie schöpfen kann, zu den wichtigsten, weil letzten Fragen des Daseins: Ist das Leben eine Komödie voller Lichtblicke, voller Überraschungen und dennoch, gerade wegen seiner Vergänglichkeit, voller abgründiger Dramatik?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. Nov. 2014
ISBN9783735704795
Rheinufer
Autor

August Guido Holstein

August Guido Holstein, 1935 in Zürich geboren, Bürger von Basel und Fislisbach/AG, Hotelierssohn. Lic.phil.I, Studium der Geschichte, Deutsch, auch Französisch und Geographie, pens. Bezirkslehrer im Aargau. Lebt in Fis-lisbach. Kulturvermittler, eine Zeitlang Präsident der Literarischen Gesellschaft Baden, auch leitender Präsident des ZSV, Zürcher Schriftstellerverbands, Lektor Pro Lyrica Schweiz. Bisher sind erschienen: Roman Alptag, Edition Leu, Zürich 1992. Vier Lyrikbände, z.B. Der Berg geht zum Meer, Pro Lyrica 2001. Fünf Erzählbände, zuletzt 2010 Fabulis-tan, die Romane «Rheinufer» und «Sokrates im Wald», BoD, Nordersted

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    Buchvorschau

    Rheinufer - August Guido Holstein

    August Guido Holstein, 1935 in Zürich geboren, Bürger von Basel und Fislisbach/ AG, Hotelierssohn. Lic.phil.I, Studium der Geschichte, Deutsch, auch Französisch und Geographie, pens. Bezirkslehrer im Aargau. Lebt in Fislisbach. Kulturvermittler, eine Zeitlang Präsident der Literarischen Gesellschaft Baden, auch leitender Vizepräsident des ZSV, Zürcher Schriftstellerverbands, Lektor Pro Lyrica Schweiz.

    Bisher sind erschienen: Roman Alptag, Edition Leu, Zürich 1992. Vier Lyrikbände, z.B. Der Berg geht zum Meer, Pro Lyrica 2001. Fünf Erzählbände, zuletzt 2010 Fabulistan.

    Inhaltsverzeichnis

    Ufergespräche

    Unter der Nachtlampe

    Fasnachtsvorbereitungen

    Die Begegnung

    Auf die Welt kommen

    Die Geburt

    Cello

    Vom Balkon aus

    Fotoalbum

    Ufer, Fähre, Strudel

    Die Traumrunde

    Die Verwandten des Kindes

    Kunstbetrachtung

    In Bedrängnis

    Polizei

    Auftrieb

    Die Erkundung

    Napf

    Patagonien

    Zoologisches

    Die Enge vor der Weite

    Am Wasser

    Friedhof Hörnli

    Basler Totentanz

    In Freiheit

    Die Rheinfahrt mit den Verrücktheiten

    Berg und Stadt

    Fliegen

    Lehrer

    Jugend

    Schönheit

    Die Frauenrunde

    1. Ufergespräche

    Die Alten- oder Pensionistenrunde in der Wirtschaft Mägd am Rhein zu Basel. Doch Künstler werden nicht pensioniert. Der Musikus vom Balkan liebt Bussenzettel. Sie sollen am Stammtisch aus ihrem Leben berichten, anstatt wild drauflos zu reden über dies und das und nichts Besonderes. Zuerst aber die Geigenmutter-Geschichte, dann über ihre Vorfahren.

    Der Strom floss träge dahin. Auf seiner Wasseroberfläche helle Schatten. Wie Schicksale, die den Rhein hinab fliessen, dachte er. Doch nach seiner Art korrigierte er sich sofort: Nein, nichts Finsteres, auch keine Eisschollen, vielmehr im Lichte Schimmerndes, Glattes zwischen leichtem Gekräusel. Im Detail blieb er immer ein Optimist, damit er umso eher in seiner leicht melancholischpessimistischen Grundstimmung verharren konnte. So erlebte er auch seine Stadt, als graue Folie, mehr nobel als trist. Darauf so manch Exquisites: an den Fassaden und in den Häusern mit ihren Jahrhunderten der Kaufmannschaft, der Gilden, Räte, aber auch der Produktion, denn hier wurde nicht nur geredet, sondern auch gehandelt. Sein Credo. Erneut neigte er sich über das Brückengeländer und schaute gegen Westen zur weiss-silbrigen Linie der Fabrikmonumente mit den Dampffahnen am Horizont. Ein Rheinkahn, schwarz. Er stellte sich im Maschinenraum eine Wasserwoge vor, die sich beständig drehte und das Schiff antrieb. Der Mann hatte Ideen.

    Nun drehte er seinen Kopf vom Westen nach Osten, glaubte plötzlich, wie in einem Spalt zwischen den Himmelsrichtungen, die Sagengestalt des Vogel Gryffs, den die Kleinbasler alljährlich auf der Brücke tanzen lassen, zu sehen. Das Fabelwesen neigte steckenartig den Kopf, indem es gleichzeitig mit seinen gestelzten Langschritten sich ihm näherte und ihm ins Ohr flüsterte: Achte die alten Sitten und die Ehrengesellschaften, halte sie hoch, hoch, hoch! - Er hatte noch keinen Wein getrunken, und er wusste, dass sich ständig alles ändert, wir aber oft damit Mühe bekunden.

    Da eilte sein Gymkollege, Professor Fuetter, ihm entgegen, gerade der mit dem vogelgryff-ähnlichen Kopf, und das war sowohl unverständlich wie ulkig, aber eben das Leben - oder war mehr der Kopf unseres Mannes dafür verantwortlich? Der Kollege grüsste: Schönen Abend, Herr Doktor Holder und redete vom Totentanz. Die Basler stürben aus, einer nach dem andern, sie verschwänden. Dafür war diesmal Fuetters Kopf verantwortlich; er kannte den Hang seines Partners zur Nekrophilie. Unser Mann erwiderte, er habe geschworen, er gehe eine Zeitlang nicht mehr auf den Friedhof Hörnli, es sei nun genug. Für ihn seien schon zu viele in der Erde. Professor Fuetter konterte, er liebe es, dort zu spazieren und das Leben zu geniessen. Verabschiedung, um das Leben zu geniessen. Als Fuetter sich von ihm entfernt hatte, schüttelte sich der Mann, als sei er eingeschneit worden.

    Die Mitmenschen. Er habe nichts zu klagen, er habe es nun als Pensionierter so gut, dazu lebe er als Kunstbeflissener in seinem Elfenbeinturm, hatte ein anderer Bekannter im Tram zu ihm gesagt, und er hatte geantwortet, nein, er beklage sich keineswegs; aber er lebe nicht im Elfenbeinturm, sondern auf dem Elfenbeinturm und blicke hinab auf das Leben, quasi vom Leuchtturm herab, den er von Zeit zu Zeit in Betrieb setze, um einiges auszuleuchten.

    Doch der ehemalige Gymnasiallehrer Kaspar Felix Holder stand am Rhein und nicht auf der Plattform eines Leuchtturmes von Le Havre, Bremerhaven oder Land’s End. Hinter ihm ratterte das Grüne Tram von Grossbasel nach Kleinbasel, und er war auf dem Weg zu seinen Stammtischfreunden. Man traf sich beinahe wöchentlich im Restaurant Mägd, in der St. Johanns Vorstadt, zu einer Runde Gemütlichkeit. Holder gehörte seit einiger Zeit zum festen Kern dieser Gesellschaft, zusammen mit dem Musikus Zarko Celwuin, dem Chefbuchhalter Paul Wettstein, dem ehemaligen Polizeiwachtmeister Arthur Staff und dem Maler Robert Frank.

    Er hatte es, nun in seinem neuen Lebensabschnitt, weniger eilig als die Vorüberhastenden, die über die Pflasterweiten Arme und Beine verwarfen. Holder beobachtete, wie eine Möwe heran flog, ihre Flügel versorgte und den Kopf zu den Menschen drehte, und es war ihm, als staunte sie. Auch sie hatte Zeit, liebte aber offenbar darin die Abwechslung und flog wieder fort, silbergrau im Tagesgrau. Das war also seine Beobachtung vom Turm seines Wesens herab, dieser kleine Ausschnitt von Welt. Folgendes hatte sich zum Beispiel ebenfalls ereignet: Ein weiterer Vogel hatte einen Rivalen von seinem Standplatz vertrieben. Ein Pärchen an der Rade des gegenseitigen Ufers hatte sich drei Küsse gegeben. Vielleicht hatte ein Fisch eine Mücke über dem Wasserspiegel geschnappt, und ... und ... und. Er würde später noch einige Stadtgeschichten hören. Er lebte nicht im Elfenbeinturm, eher der Bekannte im Tram, der ihn so angesprochen hatte: In dessen ‘Turmverlies’ standen fünf Bildschirme. Als einen Idylliker hätte er sich noch bezeichnen lassen.

    Holder stellte sich vor, er stamme von einem fernen Planeten mit vielen Wüsten und vielem Sand und besuche nun die Erde mit ihrem vielen Wasser und den Gärten. Er fand die Idee des Turmes nicht schlecht. Man war der Luft ausgesetzt, dem frischen Wind gegen die Hitze und hielt Abstand zur Feuchtigkeit von unten, wühlte also nicht wie ein Maulwurf im Leben, was schmerzlich sein konnte.

    Restaurant Mägd: Es hätte der Eingang zu einem Theater des vorletzten Jahrhunderts sein können. Im Vorraum Plakate der Kinos und Galerien. Die hohen Räume des Restaurants mit den honiggelben Decken, den Einfassungen und Säulenkapitellen erinnerten ihn daran. Zarko Celwuin stand bereits beim Stammtisch und grüsste aus seinem breiten Schädel. Kollega Arthur Staff schnellte wie ein junger Sportler, immer mit einem Anflug von ironischem Lächeln, zur Begrüssung vom Sessel und meldete in amtlichem Ton, auf Zarko weisend:

    Er hat wieder eine Polizeibusse wegen zu schnellem Fahren eingefangen.

    Hast du noch Platz an der Wand bei den vielen Scheinen? fragte Holder, der wusste, dass Kollege Zarko Bussen wie andere Briefmarken sammelte, indem er sie in seinem Arbeitszimmer der Musikschule an die Wand heftete, und zwar neben der Seeräuberzeichnung seines Sohnes. Zarko Celwuin hatte sich erlaubt, mit rotem Stift Blut auf der Bleistiftzeichnung zu markieren, wo solches möglich war, was Holder nicht passte. Das war nicht die Art seines Sohnes, aber in der Art von Zarko. Arthur kommentierte:

    Unser Zarko lässt sich nie ganz zivilisieren und glaubt, der Hermandad eins auszuwischen, wenn er zu schnell fährt; seine Kindlichkeit und zugleich räuberische Freude. Zarko, Zarko, deine Vorfahren, die Räuber!

    Der Musikus drehte eine Pirouette, lachte, als wäre er bei einem Bankett des Teufels, dem er soeben einen Streich gespielt hatte, und der gelungen war. Holder setzte sich zu seinen beiden Stammtisch-Kollegen, und dieser Zarko verkündete in seinem Ausländerdeutsch, obwohl er schon einige Jahrzehnte in Basel weilte:

    Gut, gut, wir wieder in Basel abgemacht, wenn in Rheinfelden, Säckingen, Riehen oder im Elsass, hätte ich schöne Busse nicht.

    Gut, dass nicht alle Verkehrsteilnehmer derart balkanesisch denken, es wäre noch lebensgefährlicher auf unseren Strassen. Das verkündete selbstverständlich der Arthur Staff, Polizist.

    Man rückte erneut die Stühle, stellte fest, das Wetter sei eigentlich mild. Der rundliche, etwas untersetzte Herr Celwuin wollte von der Serviererin wissen, ob sie Rauchwürste vom Schwarzwald hätten, was sogleich verneint wurde. Dann müsse er um Mitternacht noch seine eigene sieden.

    Aber Senf, ihr haben?

    Mit was? wollte sie wissen.

    Mit Meerrettich, fügte Lehrer Holder hinzu.

    Die Frau stand mit offenem Mund irgendwie blockiert vor ihnen, was der Strategie des Zarko entsprach. Doch der Musikus pflegte vom einen zum andern zu hüpfen, wie mit seinem Cellobogen auf den Saiten, und bemerkte: Hört, die Geigenmutter! War wieder bei mir. In der Stunde, was für später einen ausführlichen Kommentar versprach.

    Das Auffallendste im Restaurant Mägd war das lange Buffet, dahinter ein Wandschrank, als wärs ein Altar, im gleichen Ton wie die Holztäferung in Ochsenblutrot. Zur Atmosphäre des Raumes trugen die Laternen bei, die Lampen mit ihren farbigen Wappenscheiben. Sie erinnerten an Fasnacht und ‘Morgestraich’. Man vergesse nicht die Zinnkannen, das grosse Bild an der Wand, militärisch-genealogisch mit Harnisch, Fahnen, Wortkränzen. Beim Eingang zur Küche der Vogel Gryff, der das Basler Wappen mit seinem Bischofsstab in seinen Klauen hielt. Hatte den der Bischof bei seinem Auszug zurückgelassen? Holder katalogisierte das Basler Wappen zum Basler Humor. Zwei Tafeln mit der Inschrift ‘Das süffige Fünfkorn-Bier’, die andere mit dem Tagesmenu: ‘Viktoria-Barschfilet, pochiert an Safransauce, Butterreis, grüner Salat.’

    Nachdem man einander mit dreimal Gesundheit zugeprostet hatte, eröffnete Kaspar Felix Holder seine Rede mit der Bemerkung, er wolle etwas Spezielles kundtun, das er sich reiflich überlegt habe.

    Halte deine Stunde, antwortete Zarko ironisch. Holder begann:

    Anstatt, dass wir am Stammtisch bloss miteinander reden um des Redens willen wie so viele, zu zufällig, ins Ohr hinein und wieder beim andern hinaus, schlage ich euch vor, dass wir als Zwischen- oder Hauptakt - wie ihr wollt - unser Leben in unsere Reden wickeln. Die wären dann nicht mehr so zufällig und würden uns mit Nachhaltigkeit beglücken. Wir könnten uns dabei noch besser kennen lernen, besser, als wenn wir bloss reden. Ihr wisst ja, das ‘fast food’, die Kioskheftchen - all diese Lebenstupfer können kaum unsere tieferen Tasten anschlagen; sie bringen nur flüchtige Sekunden, wofür es sich kaum lohnt, sich zu füttern und die umfangreichen Lebensvorbereitungen zu veranstalten ....

    Aber die Geigenmutter ..., unterbrach Zarko.

    Ja, lieber Zarko, dein Jüngstes Gericht, fuhr Kaspar Felix weiter, könnte hier in der Beiz stattfinden. Wir sitzen auf dem Stuhl für die Lebensbeichte. Wie für einen Drink müssen unsere Essenzen herausgepresst und mit Alkohol vermischt werden. Betrachten wir unser Leben.

    Und der Rede kurzer Sinn? Wie er sich dies praktisch vorstelle, hörte man nun von Arthur Staff. Einen Lebensrapport. Krautwickel mit Gehacktem, sagte Celwuin zur Serviererin und zur Runde, er sei einverstanden, unter der Bedingung, dass er vorgängig etwas zur Geigenmutter ins Album des Stammtisches beitragen dürfe, es sei nämlich etwas Ausserordentliches geschehen. Er habe nichts dagegen, wenn der Felix zum Beispiel von seiner Geburt erzählen wolle, das sei für ihn sicher eben ausserordentlich gewesen. Er wette aber, dass es sich bei Kaspar Felix um eine literarische Geburt handeln werde. Der Lehrer bejahte, er werde über seine Geburt vorlesen; er trage den Text in seiner Tasche, zusammen mit dem Hausschlüssel.

    Zarko blähte seine Wangen, indem er seine dunklen, buschigen Augenbrauen hochriss, trank einen grösseren Schluck Wein und begann:

    Kürzlich, mit meiner Celloschülerin, Olga, der besten, ihr wisst, Schweizerischer Musikwettbewerb.

    Und sie hat selbstverständlich gewonnen, deine Schülerin, schon mit ihrem gewinnenden Lächeln? redete Kaspar Felix ihm drein. Er aber antwortete:

    Nichts lachen, Schmerzen. Kam nicht zu Vorspielen. Warum nicht?

    Wegen Geigenmutter von Killwangen, haha, killenkillen!

    Und?

    Dumm, beide Mädchen, meine Olga und die ... wie hiess sie ...? ah, Irene, für Mutter Cellowunder, grösstes auf Erden, aber von Killwangen. Wisst, Geigenmutter zwei Töchter, Irene Cellowunder und Annatrude, jüngere, Violinwunder. Meine Olga, Irene, ihre Mutter stiegen Treppe hoch. Olga hart am Geländer. Mutter von Irene tut so - er atmete tief und zog die Luft geräuschvoll durch die Nase – „als müsse sie, ihrer göttlichen Tochter, dringend etwas sagen. Boxte sich plötzlich heran zu meiner Schulerin, schwang einen ihrer Arme heftig, brutal gegen linke Hand von Olga. Diese schlug aus, an Eisengeländer. Zeigefinger verstaucht. Irene gewonnen! Musikväter nahmen Vorfall nicht zur Kenntnis. Und hört: Teuflische Mutter, entschuldigte sich nach ihrer Untat scheinheilig und eindringlich bei Olga: ‘Ist mir nicht recht ... Ist mir gar nicht recht ... Ist mir überhaupt nicht recht. Oh!’ - Zarko breitete weit die Arme aus und kippte das Glas um. - Oh, wie recht! Geigenmutter jammerte gekonnt, schauspielerte. Üben, üben, hoffen. Am Schluss, kurz vor Erfolg Handgreiflichkeit. Beim Fussball, ihr wisst, Schiedsrichter; bei Cellospiel aber ist Texas mit Cowboys. Kaufe mir einen Colt, für nächstes Mal, haha.

    Körperverletzung, einklagbar!

    Aber nicht, wenn sie sich derart entschuldigt.

    Allerdings, da macht die Polizei nicht mit, bei solchen Bagatellen.

    Arthur meinte dazu, dafür schreibe der Kaspar Felix vielleicht einen Krimi mit explodierenden Saiten. Die Stahlsaite des Cellos am Schluss um den Hals. Aber vorerst solle der Felix literarisch nun ohne Wehen auf die Welt gelangen. Noch einen Halben müssten sie zuvor bestellen. Er gleite dann besser. Zarko klatschte, um alle bösen Geister, die die Geburt umlagerten, zu verscheuchen. Arthur Staff wollte wissen, ob Kaspar Felix in ihrer Stadt auf die Welt gekommen sei. Holder antwortete, nein, er sei in der Stadt Zug, am Wohnort seiner Mutter, auf die Welt gelangt, aber in Basel geboren worden. Der Musikus streckte nun seine Zunge heraus wie der ‘Lällenkönig’ und schnitt eine Grimasse. Damit habe er nun alle bösen Geister vertrieben, Kaspar Felix könne beginnen.

    Aber dieser war nicht gewillt, heute über seine Geburt zu berichten. Das Leben beginne nicht mit der Geburt, sondern vorher, und dies alles sei äusserst kompliziert. Man müsse mit den Eltern anfangen, mit seinem Vater. Der habe an der Mattenstrasse in Kleinbasel seine Jugend verbracht, ja, hinter der Mustermesse und seine Mutter in Zug in der ‘Friedeck’, am Bach, neben dem Zeughaus und hinter der Burg, in der einst die Habsburger vor ihrer Schlacht am Morgarten übernachtet hätten. Man lachte und meinte, die Einzelheiten der Schäferstündchen seiner Eltern müsse er hier nicht ausplaudern.

    Nein, er wolle ganz anderes erzählen. Diese Vergangenheit komme ihm wie in einem Schwarz-Weiss-Film vor mit dem Thema ‘Die soziale Frage anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts’, genauer besehen mit dem Titel ‘Der Trinker’. Er wolle etwas ausholen:

    "Neulich haben meine zwei Söhne sich an einer Kunstaktion mit einer Installation auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofes, ausgangs Mattenstrasse, beteiligt. Es gibt dort auf dem Areal so etwas wie ein Bahnwärterhäuschen. Es ist das Terrain, auf dem heute tagtäglich die Lastwagen durchfahren und stationiert werden. Meine Söhne haben das kleine Bauwerk mit Autopneus gefüllt, in einer Art Strickmuster. Auf diese Struktur mit schrägem Linienverlauf haben sie mit farbiger Kreide eine zweite, gerade Struktur auf die Pneus eingezeichnet. Das ganze ein Pneumonument. Die Kreidestriche haben mich an die Unfall-Markierungen der Polizei auf den Strassen erinnert. Aber warum berichte ich darüber? - Weil präzise der Urgrossvater dieser Jungen auf diesem Gelände als Arbeiter der Badischen Bahn sein Brot verdient hatte, wovon meine Söhne jedoch nichts wussten.

    Ich habe in meinem Familienalbum ein Foto von meinem Grossvater, einem Mann in tadellosem dunklem Anzug mit Gilet und Krawatte, weissem, wohl gestärktem Kragen. Im Gesicht einen buschigen, weit ausladenden Schnauz, wie ein Balken vor einem feinen, etwas allzu weichen Gesicht. Die Augen nachsinnend in sich gekehrt, von der Welt abgewandt und grosse Ohren. Ein geradegezogener Scheitel, der damaligen Zeit gemäss. Mein Vater pflegte wenig Kontakt mit ihm - aus Gründen. Wie ich orientiert bin, lebte unser Geschlecht im siebzehnten Jahrhundert im Tösstal, wanderte aber vor dem Westfälischen Frieden nach dem Dreissigjährigen Krieg nach Eimeldingen, ins Badische nördlich von Basel aus, wo ein Bauernhof mit Rebgütern übernommen wurde. Grossvater, als Nachzügler, übernahm nicht den Hof, sondern wurde Bahnarbeiter und war im erwähnten Güterbahnhof eingesetzt. Er erwarb zusammen mit meinem Vater vor den Kriegswirren das Basler Bürgerrecht."

    Die exotischen Serviererinnen zirkulierten zwischen den Tischen wie zwischen Inseln in Ostasien. Der Redner hielt inne, blickte zu den geschliffenen Glasscheiben gegen die Strasse mit den Ranken und Blumen. Und wer trat ein? Kaspar Felix hatte die Konturen seiner Gestalt erspäht, der Kunstmaler der Runde, Robert Frank aus der Ochsengasse. Er streckte ihnen seine breiten Hände entgegen und entschuldigte sich, er habe noch einen ‘Helgen’ vom Rosshof ‘verkitschen’ müssen. Wohl um die Konsumation bezahlen zu können, bemerkte Arthur halblaut. Robert Frank, von athletischer Statur - er hatte jahrelang im Paketservice der Post und bei städtischen Renovationsarbeiten sein karges Brot verdient - verfertigte Holzschnitte bekannter Stadt-Sujets, auch von Abbruch-Objekten und Neubauten, mit denen er bei den Leuten vorsprach. Er war kein so genannter Moderner Künstler, obwohl er dies hie und da versucht hatte. Seine Stärke lag im Expressionismus. Die neue Zeit war seinem Talent davongeeilt, obwohl er erstaunliche Werke in Öl aufweisen konnte, die er jedoch des öftern übermalte. Er war wohlgemut, denn er hatte noch in seinen alten Tagen das Glück erlebt, eine Freundin gewonnen zu haben, eine Ergänzung quasi, ordnungsliebend und wohlhabend, da sie einen Schönheits-Salon hinter dem Marktplatz betrieb, während er die Unordnung in Person darstellte, aus der lavaartig seine Bildnisse empor tauchten. Er rieb sich seine Nase, schnupfte, setzte sich mit seiner Denkerstirne und all seinem besonderen Wissen, hob seine dunklen, buschigen Brauen zu Bogen und blickte wie mit Röntgenaugen seine Kollegen an. In seine Züge mengte sich dabei etwas Pfiffiges und zugleich Tierhaftes, vielleicht wie bei einem Hund, aber er war ein Philosoph, ein Alternativler, Querdenker, Künstler. Es gab andere, anerkannte Künstler, die ihn in seiner Klause besuchten, zum Beispiel der Krayenbühl. Bis er an seinem heissen Tee schlürfte, diskutierten der Literat und Musiker über das Cello-Oeuvre des Komponisten Ernest Bloch mit seinen romantischen Zügen. Dann fuhr Kaspar Felix mit dem Bericht über seinen Basler Grossvater fort, nachdem Arthur dem Robert Frank die entsprechenden Hinweise erteilt hatte. Der sagte zum Polizisten:

    Jetzt wird’s kriminalistisch.

    Kaspar Felix korrigierte, die Schwelle dazu sei glücklicherweise nicht übertreten worden. Doch die Bemerkung verhinderte, dass der ehemalige Gymlehrer ausholte; er gab nur noch einige Bruchstücke von sich:

    Die Eisenbahner - also auch sein Grossvater - seien nach der Arbeit durstig gewesen, verursacht wohl damals durch das Bremsen, den Eisenstaub, Dreck und Lokomotivendampf auf dem Güterbahnhof. Man habe Most und Schnaps getrunken. Offensichtlich habe der Grossvater dies schlecht vertragen können, er sei des öftern stinkhagelbesoffen nach Hause getorkelt, habe Radau geschlagen, ja sogar einmal in einem gewaltigen Rausch und in besonders aggressiver Stimmung mit einer Axt auf die verschlossene Wohnungstür eingeschlagen. Solche Bilder seien leider aus dieser Zeit allzu bekannt, und nicht nur Bähnler, sondern auch bekannte Herren hätten sich in solcher Weise übel betragen. Seine Frau, also seine Grossmutter vaterseits, habe sich weinend und verhärmt im Schlafzimmer mit ihren beiden Söhnen verbarrikadiert gehabt. Sie hätten die schwere Waschtischkommode mit der Marmorplatte vor die Tür geschoben. Derart hätten sie die Attacke überstanden. Der Betrunkene habe darauf im Hausgang übernachtet, neben der Tür des Kohlekellers.

    Kaspar Felix fügte hinzu, er habe sich überlegt, warum sein Grossvater in dieses schlechte Fahrwasser geraten sei. Es trinke keiner, wenn nicht in ihm ein Kummer nage, das Trinken sei stets etwas Sekundäres. Er glaube, einen Grund in der Religionsfrage gefunden zu haben. Seine Familie, die Holder aus Eimeldingen, seien lutheranisch im positivsten Sinne. Doch seine Grossmutter vaterseits stamme aus dem östlichen Schwarzwald und habe fromm-katholisch gelebt, zumal sie eine Schwester gehabt, die einige Religionsfunken aufgewirbelt habe. Diese habe einen neuen katholischen Orden in Jerusalem gründen wollen, habe zugleich aber den Papst kritisiert, was in Basel üblich sei. Die beiden frommen Schwestern seien täglich schon frühmorgens in die Messe zur Clarakirche gepilgert. Seine Grossmutter habe aber tage- und nächtelang gearbeitet, gewaschen und Hemden für die damals ‘feinen Herrschaften’ gebügelt. Ihr Leben sei wohl in Frömmigkeit und Arbeit gänzlich aufgezehrt worden. Man frage sich, wo dann noch Zeit für den Mann, den hungrigen Bahnarbeiter verblieben sei.

    Seinen Vater habe man früh von der Familie entfernt und nach Freiburg verschickt, von wo er wöchentlich nichts sagende Kartengrüsse nach Basel verschickt habe, denn vermutlich sei ihm verboten gewesen, etwas Persönliches zu schreiben. Der jüngere Sohn sei in der Stadt bei der Mutter verblieben und habe eine kaufmännische Laufbahn begonnen. Er habe später alljährlich zum Personalbestand der Mustermesse gehört. Den Grossvater habe er einmal im Leben in einem Altersheim unweit Basels begrüsst. Nach seinem Eindruck sei er ein netter, friedlicher Alter gewesen. So habe er ihn in Erinnerung.

    Nun bestellte Celwuin noch ein Spiegelei auf Schinken zu seinen Krautwickeln mit Gehacktem, er habe Hunger, Robert Frank ein Sandwich. Der Polizist bemerkte entschuldigend, seine Frau koche.

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