WEEKEND MIT TOTENGRÄBER: Der Krimi-Klassiker!
Von F. R. Lockridge
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Über dieses E-Book
Als die junge Anwältin Joan Mead übers Wochenende zum Landsitz ihrer Tante nach Connecticut kommt, findet sie die alte Dame ermordet auf.
Wie von Furien gehetzt kehrt Joan nach New York zurück. Dort überwacht die Polizei jeden ihrer Schritte. Aber auch der Mörder bleibt ihr auf der Spur...
Der Roman Weekend mit Totengräber von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1969.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Buchvorschau
WEEKEND MIT TOTENGRÄBER - F. R. Lockridge
Das Buch
Als die junge Anwältin Joan Mead übers Wochenende zum Landsitz ihrer Tante nach Connecticut kommt, findet sie die alte Dame ermordet auf.
Wie von Furien gehetzt kehrt Joan nach New York zurück. Dort überwacht die Polizei jeden ihrer Schritte. Aber auch der Mörder bleibt ihr auf der Spur...
Der Roman Weekend mit Totengräber von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1968; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1969.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
WEEKEND MIT TOTENGRÄBER
Erstes Kapitel
Als sie vom Mittagessen zurückkam, lag ein Notizzettel auf ihrem Schreibtisch. Mrs. Ruth Carson hatte angerufen und ausrichten lassen, sie erwarte ihren Rückruf noch vor vier Uhr. Joan Mead rief die Zentrale an und ließ sich mit Mrs. Carson verbinden.
»Ich bin’s, Tante Ruth - Joan.«
»Aha«, sagte Ruth Carson. »Du hast deine Mittagspause ja mal wieder ordentlich ausgedehnt.«
Das klang nicht wie ein Tadel. Ihrer energischen Stimme konnte man die Zuneigung deutlich anmerken.
»Ich bin erst spät weggekommen«, sagte Joan. »Ich musste ganz allein einen Schriftsatz abfassen. Mr. Wellington wird ihn natürlich durchsehen.«
»Sag Sam Wellington einen schönen Gruß von mir, und er soll froh sein, dass er dich hat.«
Sie sagte das in einem Ton, als hätte ihre Meinung beim Seniorpartner der Anwaltsfirma Wellington, Lomas & Kishin wirklich Gewicht. Und damit hat sie sogar recht, dachte Joan flüchtig. Der Name Ruth Carson hatte vielerorts wirklich noch echtes Gewicht. Natürlich war der Name Ruth Mead bekannter gewesen. Unter diesem Namen hatte sie zwanzig Jahre lang in etwa hundert verschiedenen Zeitungen ihre feste Spalte geschrieben. Ihre Kommentare waren scharf, oft sogar bissig. Meist wurden sie von Washington aus geschrieben, manchmal aber auch aus London, Paris, Hongkong und für kurze Zeit sogar vom Südpol.
»Das werde ich tun, Tante Ruth«, sagte Joan zu der immer noch recht streitbaren Frau.
Tante Ruth lachte kurz auf. »Ich glaub’s dir beinahe, Joan. Fährst du heute Nachmittag mit mir zum Landhaus hinaus?«
»Um diese Jahreszeit? Aber hör mal, Tante Ruth, vor April fährst du doch nie hin.«
»Wir haben den zehnten März«, sagte Ruth Carson, geborene Mead, zu ihrer Nichte. »Der Frühling wartet schon hinter der nächsten Ecke.«
»Ich würde eher sagen, hinter der nächsten Schneewehe. Es ist leider ausgeschlossen, ich habe heute Abend eine Verabredung.«
Tante Ruth meinte, eine Verabredung könne man absagen, möglicherweise mit der Entschuldigung, eine alte, kränkliche Tante benötige ihre Hilfe.
»Ausgerechnet du!«, rief Joan und musste daran denken, wie rüstig Ruth Carson mit ihren immerhin einundsiebzig oder zweiundsiebzig Jahren noch war. Joan sah plötzlich die kräftige, untersetzte Frau mit dem wettergebräunten Gesicht vor sich. Die gesunde Farbe hatte Ruth Mead seit dem Krieg im Südpazifik behalten. Die Berichte, die sie vom dortigen Kriegsschauplatz geschieht hatte, bildeten die Grundlage für ihre Spalte unter dem Titel Die Welt ringsum, die in späteren Jahren so berühmt geworden war. Joan sah ihre Tante vor sich, wie sie in Hose und Windjacke beim ersten Anzeichen des Frühlings den Garten umgrub, noch bevor der Frost aus dem Boden gewichen war. Joan sah Ruth Carson - hauptsächlich unter Wasser - die volle Länge ihres Swimming-Pools entlangkraulen, und sie hatte ihre kränkliche Tante vor Augen, wie sie die schwere Schrotflinte hochriss, wenn die Tontauben durch die Luft surrten.
»Ausgerechnet du!«, wiederholte Joan mit ein bisschen mehr Nachdruck und ein wenig ironisch.
»Trotzdem - ist die Verabredung denn so wichtig, Joan?«, fragte Ruth Carson. »Ich nehme an, es ist wieder dein junger Mann?«
»Ja, genau das ist es, fürchte ich«, antwortete Joan Mead. »Oder vielmehr - das ist es nicht. Es ist nicht mein junger Mann, Tante Ruth. Jedenfalls in Zukunft nicht mehr. Und genau das muss ich ihm heute Abend schonend beibringen.«
»Das tut mir aber leid«, sagte Tante Ruth. »Ich mag ihn nämlich.«
»Ja, ich auch. Es hat aber den Anschein, als ob das auch schon alles wäre. Und das ist doch nicht genug, wie? Hättest du dich damit zufriedengegeben?«
An diesem Punkt entstand eine kleine Pause. Peter Carson war vor vier Jahren gestorben, und Joan wusste - soweit man überhaupt etwas über das Privatleben anderer wissen kann -, wie sehr Peter und Ruth Carson mehr als dreißig Jahre lang miteinander verbunden gewesen waren.
»Nein«, antwortete Ruth Carson nach einer Weile. »Das reicht bei weitem nicht. Es tut mir aber trotzdem leid, dass du das deinem jungen Mann beibringen musst. Ich habe immer geglaubt - nun, dass viel mehr dahintersteckt.«
»Das dachte ich auch eine Zeitlang, aber ich glaube, es hat sich nach und nach gelegt. Ich muss einfach reinen Tisch machen, sonst...« Sie ließ den Satz in der Luft hängen und fuhr fort: »Es stimmt natürlich, dass ich eine Weile von hier fort möchte. New York wird für mich dann - voll gewisser Dinge sein.«
»Ich weiß«, sagte Ruth Carson verständnisvoll. »Ich bin schließlich noch nicht so alt, um mich nicht mehr daran erinnern zu können. Im Haus wird es wahrscheinlich kalt sein, aber wir können uns ein großes Feuer machen und einen heißen Punsch mixen, falls du magst. Ich finde ihn scheußlich, nebenbei gesagt. Wir können das Feuer dann niederbrennen lassen und in der Holzkohle Steaks grillen.«
»Ich kann nicht, Tante Ruth. Ich muss erst reinen Tisch machen. Wie wär’s mit morgen?«
»Ich muss heute fahren«, sagte Tante Ruth. »Cyrus - du erinnerst dich doch noch an ihn? Natürlich kennst du ihn noch - er scheint sich um irgendetwas Sorgen zu machen. Er drückt sich dabei etwas undeutlich aus, aber das tut er schließlich immer. Da ist etwas, worum Sie sich vielleicht kümmern sollten, Mrs. Carson. Und dann hat er mir noch etwas von Rauch erzählt. Offenbar muss einer der Schornsteine des Hauses geraucht haben. Das ist eine Geschichte, der ich besser nachgehen sollte, wie man in unserer Branche sagt.«
»Glaubst du, dass sich jemand im Haus aufhält?«
»Cyrus sagt, er habe niemanden gesehen und eigentlich auch nichts, was auf die Anwesenheit eines anderen hindeutet. Du weißt doch, dass er einmal in der Woche nach dem Rechten sieht. Er fuhr am Haus vorbei - es war nicht an dem Wochentag, an dem er sonst nachsieht -, und da glaubte er, Rauch zu bemerken. Aber ganz sicher ist er nicht. Ganz sicher ist der Gute eigentlich nie. Er fuhr nach Hause und versuchte mich im Landhaus telefonisch zu erreichen, um sich zu erkundigen, ob ich vielleicht schon früher herausgekommen sei. Aber es hat niemand abgehoben, sagte er. Jetzt glaubt er, er hat sich den Rauch nur eingebildet. Vermutlich stimmt das auch.«
»Du solltest trotzdem nicht allein hinfahren«, sagte Joan. »Wenn jemand in das Haus eingedrungen ist, dann solltest du es unter gar keinen Umständen allein betreten. Die Polizei...«
Sie bekam genau die Antwort, die sie vorausgesehen hatte, und zwar noch bevor sie ausreden konnte - was ebenfalls vorauszusehen war.
»Unsinn, mein Kind!«, rief Ruth Carson. »Ich finde mich schon allein zurecht. Ich habe mich schon allein zurechtgefunden, als du noch gar nicht auf der Welt warst. Du kommst also morgen nach? Es wird dir ganz guttun, einmal aus dieser verrückten Stadt herauszukommen. Einmal wirklich frische Luft atmen.«
Frische Luft atmen, eine Zeitlang den Orten und den Dingen den Rücken kehren, die ihr nach der Unterhaltung von heute Abend zu vertraut erscheinen, die sie zu sehr an vergangene Zeiten erinnern würden.
»Gut«, sagte Joan. »Ich komme morgen nach. Wahrscheinlich gegen Mittag, falls nicht ein Schneesturm oder etwas Ähnliches dazwischenkommt.«
»Teilweise bewölkt und mild, sagt der Wetterbericht«, antwortete Ruth. »Vielleicht haben wir schon ein paar Krokusse. Falls ich gerade einkaufen bin, weißt du ja, wo der Schlüssel hängt.«
Es war nicht nur teilweise bewölkt, als Joan am Samstagmorgen in einem Mietwagen den West Side Highway hinauffuhr. Und besonders mild war es auch nicht. Um zehn Uhr hörte sie im Autoradio die Nachrichten, die niederschmetternd waren wie immer, und den Wetterbericht: zunehmende Bewölkung und einzelne leichte Regenschauer, Temperaturen zwischen sechs und acht Grad, in den nördlichen Vororten etwas darunter.
Das große Landhaus bei Danbury in Connecticut lag weit außerhalb der nördlichen Vororte; Joan war hier gelegentlich zu Gast gewesen, nachdem Ruth Mead und Peter Carson geheiratet hatten. Das Haus gehörte schon seit drei Generationen den Carsons. In dieser Gegend konnte sich leichter Regen rasch in leichten Schnee verwandeln. Der Mietwagen hatte keine Winterreifen. Trotzdem...
Trotzdem tat es ihr gut, die Stadt hinter sich zu lassen, und sei es auch nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit. Die Fahrt wurde ihr zu einem Symbol für einen anderen Abschied, eine andere Trennung. Es war ein böser Abend geworden. Ken hatte die Sache nicht gut aufgenommen. Ganz und gar nicht. »Ich muss irgendetwas falsch gemacht haben«, hatte er immer wieder gesagt. »Sag mir doch nur, was es war.«
Aber sie konnte ihm nichts sagen, weil er nichts getan hatte - jedenfalls nichts, worauf man mit dem Finger zeigen oder was man mit einem Wort benennen konnte. Die Liebe hatte sich einfach abgenutzt, und es ist sehr schwer, das einem Mann begreiflich zu machen, den man nicht mehr liebt, den man fast unmerklich zu lieben aufgehört hat. Er gibt sich nicht damit zufrieden, wenn man ihm erklärt: »Vor sechs Monaten habe ich dich geliebt, und ich habe es dir auch gesagt. Und all die Monate davor habe ich dich auch geliebt und es dir gesagt. Aber jetzt liebe ich dich nicht mehr, und ich kann dir nicht sagen, warum.«
»Es muss doch einen Grund geben«, hatte Ken gesagt, als er ihr im Restaurant gegenübersaß. »Ich muss irgendetwas getan oder gesagt haben.«
»Nichts«, hatte sie ihm geantwortet. »Du warst lieb, du warst immer lieb.«
Und wenn man den anderen nicht verletzen will, dann kann man auch nicht erklären, dass Liebsein nicht genügt. Wenn es nur dabei bleibt, so sind das eben nur recht nebelhafte Gefühle. Wenn man einen Mann nicht verletzen will, kann man ihm nicht sagen: »Es ist ganz einfach so, dass ich mich auf ein Zusammensein mit dir nicht mehr freue, dass zwischen uns nichts weiter geblieben ist als ein leises Gefühl der Langeweile.«
Es war ein böser Abend gewesen, und sie ahnte, dass unweigerlich noch andere Abende folgen würden, fast ebenso unangenehme Abende. »Ich rufe dich wieder an«, hatte Ken gesagt, als er sich von ihr verabschiedete. »Eines Tages wirst du mir wohl erzählen, woran es lag. Es muss doch an irgendetwas gelegen haben.«
Er würde sie also anrufen. Und sie würde ihm wieder nichts sagen können. Das Endgültige, die klare Trennung, liegt nur selten im Bereich menschlicher Möglichkeiten. Etwas, was monatelang so hell und strahlend geleuchtet hatte, würde nun weitergehen und immer blasser werden.
Doch diese Fahrt nach Norden, hinaus aus der Stadt, war fast ein wenig wie eine Fahrt aus einem Abschnitt ihres Lebens. Sie gab ihr das Gefühl, etwas erledigt zu haben - eine Illusion des Endgültigen. Allein das Autofahren hatte etwas Beruhigendes an sich. Es war eine klare, hundertprozentige Sache. Wenn es ein Sonnentag gewesen wäre, wenn die Sonne den nassen Nebel verscheucht hätte, wenn...
Aber es war kein Sonnentag, und es wurde auch nicht heller, als sie weiter nach Norden kam, auf die verhasste Schnellstraße von Merritt abbog und dann schließlich auf die schmalere und dichter befahrene Landstraße Nr. 7 überwechselte. Die Bewölkung wurde immer dichter, und schließlich begann es wirklich zu regnen. Zuerst waren es, wie prophezeit, nur leichte Regenschauer. Aber der Regen wurde immer dichter, und der Wind rüttelte an dem kleinen Mietwagen. Es schien auch kälter zu werden. Sie schaltete die Heizung ein.
Als sie sich Danbury näherte und wegen Wind und Regen langsamer fahren musste, merkte sie, wie sich Schneeflocken in den Regen mischten. Doch nach ungefähr einer Meile hörte es wieder zu schneien auf. Es regnete gleichmäßig weiter. Und als sie Danbury gerade hinter sich hatte, begann die Windschutzscheibe zu vereisen. Joan lenkte den heißen Luftstrom nach oben in den Defroster, das Eis schmolz. Ganz sanft bremste sie. Der Wagen rutschte.
Sie fuhr nun sehr langsam weiter. Als sie das Radio wieder einschaltete, bekam sie einen nahegelegenen Sender herein und hörte nach einigen Takten Musik klar und deutlich die Nachrichten.
Im Gebiet von Danbury wird der Niederschlag in Schnee übergehen, und es kann durch gefrierenden Regen zu Glatteisbildung kommen, verlas der Sprecher. Am Nachmittag und Abend muss mit einer Verschlechterung der Straßen Verhältnisse gerechnet werden. Allen Autofahrern wird größte Vorsicht empfohlen, und unnötige Fahrten sollten nach Möglichkeit unterbleiben.
Sie überlegte kurz, ob sie nicht umkehren und in Danbury abwarten sollte, bis sich die Straßenverhältnisse wieder bessern würden. Aber es ist viel leichter, auf die Schnellstraße von Danbury zu gelangen, als von ihr wieder abzubiegen. So fuhr sie im Kriechtempo weiter. Sie hatte noch etwa zehn Meilen vor sich, bis sie auf die schmale Asphaltstraße abbiegen konnte, die dann zu der steilen Auffahrt von Tante Ruths großem weißen Haus führte.
Bei diesem Glatteis wagten sich nicht viele Autofahrer hinaus. Einer überholte sie, bremste vor ihr und drehte sich um die eigene Achse. Sie musste ebenfalls bremsen, und es gelang ihr mit einiger Mühe, den ausbrechenden Wagen wieder in die Gewalt zu bekommen. Der Wagen vor ihr rutschte zum Straßenrand und blieb dort, zwar auf allen vier Rädern, aber mit dem Heck zur Fahrtrichtung stehen. Joan kroch daran vorbei. Sie schlich weiter, und der Regen wurde immer heftiger. Für die zehn Meilen bis zur Abzweigung brauchte sie über eine halbe Stunde. Höchstgeschwindigkeit 35 empfahl ihr ein Schild an der Abzweigung, aber sie rollte mit höchstens zehn die kurvenreiche Strecke hinunter, wobei sie das Bremsen dem Motor überließ.
An der vertrauten Straßenkreuzung stand ein Stoppschild. Mühsam brachte sie ihren Wagen zum Stehen. Er stellte sich quer. Behutsam bog sie nach rechts ab, dann gabelte sich der Weg noch einmal, und sie hatte die Auffahrt zum Haus vor sich. Die Räder drehten durch. Sie lenkte den Wagen auf das schmale Bankett, weil sie hoffte, auf dem Schotter etwas mehr Halt zu finden. Tatsächlich griffen die Reifen hier ab und zu einmal.
Eine halbe Meile weit quälte sie sich so dahin, dann ging es noch einmal scharf rechts ab zur Einfahrt. Wie sollte sie da hinaufkommen? Die Auffahrt war nur geschottert, und sie hoffte, dass die Reifen sich durch die Eisschicht bis auf den Schotter durcharbeiten würden.
Beim Abbiegen schlitterte der Wagen und machte sich selbständig. In einem flachen Abflussgraben links von der Straße blieb er stehen. Hier war die Erde noch weich, nur mit einer dünnen Frostschicht überzogen. Das linke Vorderrad sank tief ein.
Das wär’s also, dachte Joan Mead, stieg aus, zog den Schlüssel aus der Zündung und nahm ihren Koffer vom Rücksitz. Sie musste sich mit einer Hand am Geländer festhalten, um nicht auszurutschen. Aber der Wagen befand sich wenigstens nicht mehr auf der Straße, und wie es aussah, würde er hier im Graben wohl auch zunächst stehenbleiben.
Sie gelangte über den Fahrweg hinüber ins glashart gefrorene Gras. Langsam, immer wieder ausrutschend, kletterte sie zum Haus hinauf. Dann hörte sie mit einem Mal das scharfe, trockene Knacken: Alte Äste und Zweige, die das Gewicht des Eises nicht mehr aushielten, brachen ab. Ein Stück weiter entfernt mischte sich ein lauteres Krachen darunter - ein Baum konnte sein Gewicht nicht mehr tragen.
Der Nordostwind peitschte ihr den Regen ins Gesicht, als sie zum Haus hinaufstieg. Nirgends war ein Licht zu sehen, obgleich Ruth Carson an düsteren Tagen alle Lichter einzuschalten pflegte.
Endlich hatte Joan das Geländer der Veranda erreicht und zog sich vorsichtig die vereisten Stufen hinauf. Neben dem Eingang hing ein großer, schmiedeeiserner Türklopfer in Form eines C. Sie drückte auf die Türklingel, hörte aber im Haus keinerlei Geräusch, nur das Rauschen des Windes und das Trommeln des Regens. Dann betätigte sie laut und deutlich den Türklopfer. Als sich auch jetzt noch nichts regte, probierte sie die Klinke. Das Haus war abgeschlossen.
Sie wusste ja, wo der Schlüssel hing. Zumindest hatte sie das am Telefon behauptet, aber im Augenblick fiel es ihr nicht ein. Dann kam die Erinnerung wieder: Er hing an einem Haken gleich hinter der kleinen Tür zur Garage; Joan tastete sich über die Veranda, rutschte aus, fing sich aber wieder und hielt sich an der gestutzten Hecke fest, die den Weg zur Garage abschloss.
Der Wagen ihrer Tante stand nicht in der Garage, der Schlüssel hing aber an seinem gewohnten Platz.
Ruth hatte gesagt, sie würde vielleicht zum Einkaufen fahren. Das Wetter war dafür alles andere als günstig. Außerdem hielt Ruth ihren Kühlschrank und die Tiefkühltruhe über, den Winter immer hinreichend gefüllt. Aber wahrscheinlich fehlte ihr irgendetwas, und sie war trotz des Wetters weggefahren. Vielleicht hatte sie sich vor dem Wetterumschwung auf den Weg gemacht.
Auf dem Rückweg zur Veranda überlief Joan ein Schauder. Sie trug einen dicken Mantel, der angeblich regenfest sein sollte. So ganz schien er diesem Wetter aber nicht standzuhalten, denn der Stoff hing feucht und schwer an ihrem Körper. Sie freute sich schon darauf, das warme Haus zu betreten, das zweifellos vorbereitete Kaminfeuer zu entzünden und am Feuer die Rückkehr ihrer unverwüstlichen Tante abzuwarten. Tante Ruth wird es schon schaffen, dachte sie.
Im Haus war es nicht warm. Es war auch nicht gerade kalt, aber feuchtkühl und dunkel, obgleich es erst kurz nach Mittag war. Joan drückte auf den Lichtschalter - aber nichts geschah. »Verdammt«, sagte sie laut und mit Nachdruck. »Stromausfall.« Ein Ast oder vielleicht auch ein Baum musste auf die Stromleitung gefallen sein. Vielleicht waren die vom Eis schweren Drähte von selbst abgerissen.
Kein Licht. Keine Wärme.
Aber im Wohnzimmer war wenigstens, wie Joan erwartet hatte, ein Feuer im Kamin angelegt. Der Holzstapel war klein, was Tante Ruth gar nicht ähnlich sah. Sie tat nie etwas halb, ob es sich nun um ein Kaminfeuer oder