DAS TESTAMENT DER MRS. MONTFORT: Der Krimi-Klassiker!
Von F. R. Lockridge
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Über dieses E-Book
Ist das Testament der reichen Mrs. Montfort echt? Lois Williams war dabei, als die alte Dame das Dokument unterschrieb - und dennoch hat die Zeugin Zweifel an dessen Gültigkeit.
Noch am selben Tag stirbt Mrs. Montfort - und Lois begegnet einer Schauspielerin, die mit der gleichen bedächtigen und hohen Stimme spricht wie die alte Dame. Hat sie die Rolle von Mrs. Montfort gespielt?
Manche Indizien sprechen dafür, und Lois ahnt, dass sie dieses Wissen in höchste Gefahr bringt...
Der Roman Das Testament der Mrs. Montfort von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Bitte hier unterschreiben).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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DAS TESTAMENT DER MRS. MONTFORT - F. R. Lockridge
Das Buch
Ist das Testament der reichen Mrs. Montfort echt? Lois Williams war dabei, als die alte Dame das Dokument unterschrieb - und dennoch hat die Zeugin Zweifel an dessen Gültigkeit.
Noch am selben Tag stirbt Mrs. Montfort - und Lois begegnet einer Schauspielerin, die mit der gleichen bedächtigen und hohen Stimme spricht wie die alte Dame. Hat sie die Rolle von Mrs. Montfort gespielt?
Manche Indizien sprechen dafür, und Lois ahnt, dass sie dieses Wissen in höchste Gefahr bringt...
Der Roman Das Testament der Mrs. Montfort von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1961; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Bitte hier unterschreiben).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
DAS TESTAMENT DER MRS. MONTFORT
Erstes Kapitel
An einem Oktobernachmittag, kurz nach zwei Uhr, stieß ein Düsenjäger auf seinem routinemäßigen Übungsflug über Arizona plötzlich aus dem unschuldigen Weiß einer Wolke hervor. In diesem Moment war es bereits zu spät, um das Unglück abzuwenden. Wie ein Geschoss raste der Bomber auf seinem vorbestimmten Kurs daher. Er bohrte sich genau mittschiffs in den schweren Transporter. Es war ein Werk von Sekunden. Wie Papierfetzen in einem gewaltigen Sturm wirbelten die Männer durcheinander, wurden zerfetzt. Eine gigantische Stichflamme schoss in den Himmel - und dann ereignete sich nichts mehr, ausgenommen der grausige Regen von Metall, und nicht nur Metall -, der herniederfiel.
Dreiundvierzig Menschen fanden den Tod. Unter ihnen Captain Kenneth Williams, Pilot, sechsunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Glenville im Staat Connecticut.
Ungezählte Nächte lag seine Frau Lois Williams in den folgenden Monaten mit trockenen Augen bis in die frühen Morgenstunden wach, die Schreie der Todesangst in ihren Ohren. Es war, als ob die Flamme - die Flamme, die sie nie gesehen hatte – ihre Augen ausgebrannt hätte. Später dann, als die, entsetzliche Erstarrung gewichen war, als sie das Unfassliche zu tragen versuchte und die Natur ihr Recht verlangte, waren es nur noch Stunden, in denen sie sich ruhelos herumwälzte und schluchzend das Kissen umklammerte. Meist schlief sie aber nach einer Weile wieder ein, was sie für ein Zeichen hielt, dass die anderen recht hatten, wenn sie sagten, die Zeit werde heilen, die Zeit werde trösten, die Zeit...
Lois war noch jung, erst fünfundzwanzig Jahre. Eines Tages werde wieder ihr Interesse an den täglichen Dingen des Lebens zurückkehren, sie werde wieder ein neues Leben beginnen, tröstete man sie. Man verwies sie auf die Sonnenblumen, wie sie sich der Sonne zuwandten, auf die Tulpen, deren Kelche sich beim ersten wärmenden Strahl wieder öffnen. Der Alltag mit seinen Notwendigkeiten werde sie wieder gefangen nehmen - bis der Tag käme, wo sie sich stark genug fühlen würde, aus dem alten Städtchen Glenville wegzuziehen, weg von dem Platz, der sie immer wieder an das Geschehene erinnerte. Als ob sie das jemals könnte, jemals wollte!
Diejenigen, die ihr all das prophezeiten, waren zum größten Teil ebenfalls Frauen von Flugzeugpiloten. In Glenville gab es eine Kolonie, in der nur Piloten und ihre Familien lebten. Das Städtchen ist freundlich und ruhig und liegt etwa sechzig Meilen von New York entfernt. Die Frauen - junge Frauen, meistens mit kleinen Kindern - hatten für sich selbst eine Reihe verschiedener Bezeichnungen erfunden. Die am häufigsten gebrauchte war Himmelsfrauen. Und wenn sie von ihrer Gemeinschaft sprachen, so redeten sie von der Clique.
Bis zu dem Zeitpunkt, da die beiden Maschinen zusammenstießen und über Arizona in Flammen aufgingen, hatte Lois in Glenville fast keinen anderen Menschen gekannt, der nicht zu dieser Clique gehörte. Wozu auch! Von ihrem gemeinsamen Standpunkt aus betrachteten sie die anderen bis zu einem gewissen Grad als Außenseiter, als Leute, die über manche Dinge anderer Ansicht waren als sie. Der wesentlichste Unterschied bestand darin, dass die Männer der anderen, wenn sie Glenville überhaupt verließen, abends pünktlich mit dem Fünfuhrzweizug ab Grand Central zurückkehrten. Die Männer der Himmelsfrauen aber befanden sich um diese Zeit irgendwo - nur nicht in Glenville.
Die Clique schloss Lois natürlich nicht aus, als sie, genaugenommen, nicht mehr dazugehörte. Im Gegenteil, man tat alles, um sie mit einzubeziehen - sie wieder aufzumuntern. Das Schlimmste aber daran war, dass, nachdem die erste Betäubung etwas gewichen war, auch die Erinnerung wieder wach wurde, wenn sie mit ihnen zusammentraf. Manchmal glaubte sie es nicht mehr ertragen zu können. Aber auch jetzt im Mai fühlte Lois sich immer noch nicht stark genug, Glenville zu verlassen, obwohl sie wusste, dass sie es irgendwann doch einmal tun würde.
Lois hatte sich keineswegs dazu gedrängt, bei den Vorbereitungen für die 250-Jahr-Feier der Gründung der Stadt Glenville mitzuhelfen. Es war reiner Zufall. Eine Unterhaltung mit dem Stadtbibliothekar, eine Bemerkung ohne besondere Überlegung - wie es sich eben manchmal so ergibt. Außerdem war jede Ablenkung willkommen, jede Beschäftigung, mit der die Zeit verstrich. Vor dem Unglück, das sie so hart betroffen hatte, wäre die 250-Jahr-Feier der Gründung Glenvilles unter der britischen Krone höchstens etwas gewesen, worüber Lois Williams im Glenville Advertiser gelesen hätte, und das vermutlich mit nur mäßigem Interesse. Zu viel Vergangenheit! Was hätte ihr auch damals das Vergangene bedeuten sollen?
Wenn im Oktober der Himmel über Arizona nicht in Flammen gestanden wäre, hätte Lois auch nicht im August des folgenden Jahres an einem Nachmittag ihren Wagen in der Battle Street geparkt, um zu Abigail Montforts Haus hinaufzugehen und an die altertümliche Tür zu klopfen. Auch von der Kanonenkugel, die vermutlich britischen Ursprungs war und irgendwo in dem Holzwerk des alten Teils von Abigail Montforts Haus steckte, hätte sie nichts geahnt. Während sie nun wartete, dass ihr jemand die Tür öffnete, blickte sie auf die ausgebesserte schwarze Straßendecke der Battle Street zurück und fragte sich, ob es wohl damals, am 10. April des Jahres 1777, geregnet hatte.
An jenem 10. April war es gewesen, als eine Abteilung britischer Truppen von Danbury heruntermarschierte. Sie hatte dort als Vergeltung einige Häuser niedergebrannt und war dann hier auf eine Abteilung Rebellen unter dem Kommando von Oberst Ephram Sopher gestoßen. Diese befand sich auf dem Weg nach Danbury, aber einige Tage zu spät. Damals hieß die Battle Street noch Brown’s Pike und war eine schmale, schmutzige Straße, gerade so breit, dass die Fuhrwerke aneinander vorbeikonnten. Sie erwies sich jedoch als nicht breit genug, marschierende Truppen aneinander vorbeizulassen. Daher vermutlich die Kanonenkugel im Holzwerk des Montfort-Hauses - damals noch Brown-Haus - und ein gut Teil Toter auf beiden Seiten, wie die Geschichte über das Gefecht von Glenville berichtet.
War die Straße im April des Jahres 1777 von Regenfällen aufgeweicht gewesen? Waren die Männer im Morast der Straße gestorben? Oder hatte man die Verwundeten in das Brown-Haus, wie es damals hieß, geschleppt, damit sie dort starben oder genasen? Das Montfort-Haus besaß, wie sie schon auf ihrer Herfahrt bemerkt hatte, einen weißgestrichenen Schornstein aus Ziegeln, der oben in einem schwarzen Streifen endete. Drei oder vier Lagen der Ziegel waren schwarz bemalt, so dass es wie ein Trauerband aussah. Lois wusste, dass es eine zweihundertfünfzig Jahre alte Sitte war. In jener längst vergangenen Zeit waren die treuen Anhänger der Krone mit Leitern auf ihre Dächer gestiegen und hatten die weißen Schornsteine mit schwarzer Farbe übermalt. Die britischen Soldaten hatten daran erkannt, auf welcher Seite die Bewohner eines Hauses standen. Sie löschten ihre Brandfackeln und kamen als Freunde.
Es ist ganz interessant, dachte Lois, als sie darauf wartete, dass man ihr öffnete, wie viele der ältesten Häuser aus der Revolutionszeit dieses schwarze Trauerband an ihren Schornsteinen trugen. Es schien, dass ein beachtlicher Teil der Einwohner von Glenville mit scheelen Blicken auf die Revolution geschaut und keine Lust gehabt hatte, Kinder dieser Zeit zu werden. Wahrscheinlich waren das die wohlhabenderen und konservativeren Bürger gewesen. Lois ertappte sich dabei, wie diese Gedanken sie ein wenig fesselten.
Ohne es zu wissen lächelte Lois - ein Lächeln, das ihr junges Gesicht unter dem sorgfältig gepflegten schwarzen Haar erhellte. Wenn sie bei diesen alteingesessenen Familien die Runde machte, um ihre Bitte vorzubringen, wollte sie ihnen wenigstens beweisen, dass die Neuzugezogenen keine Vogelscheuchen waren, was immer sie sonst sein mochten. Lois wusste recht wohl, dass es darüber mehrere Ansichten gab - und nicht immer freundliche. Um sicher zu sein, einen guten Eindruck zu machen, hatte sie sich das neue, erst vor zwei Tagen erstandene Modellkleid angezogen. Es war von einem satten, leuchtenden Blau, aber trotzdem noch um einige Nuancen heller als ihre dunklen Augen. Obwohl es heiß war, hatte sie sich dazu durchgerungen, Strümpfe zu tragen, da man schließlich bei Abigail Montfort nicht mit nackten Beinen erscheinen konnte.
Lois Williams, in ihren hochhackigen weißen Leinenschuhen fast 1,70 Meter groß, stand gedankenverloren vor der schweren hölzernen Tür des niedrigen, massiven Hauses und wartete, dass man ihr öffnete. Als jüngeres Mitglied des Historischen Komitees war sie nach vorheriger Anmeldung gekommen, um eine Bitte auszusprechen. Da sie niemand gehört zu haben schien, klopfte sie noch einmal, diesmal etwas kräftiger. Lois war für fünf Uhr angemeldet, nicht früher, weil Mrs. Montfort vorher ruhte. Jetzt war es gerade Punkt fünf.
Endlich kam jemand. Die Frau, die öffnete, war ungewöhnlich groß. Ihr längliches, verwittertes Gesicht mit dem leicht behaarten Kinn war von weißem Haar umrahmt. Sie sah auf Lois herab und fragte: »Mrs. Montfort?« Lois erschien es ziemlich unwahrscheinlich, dass diese große Frau Abigail Montfort sein sollte. Viel eher passte diese Erscheinung zu ihrer Vorstellung, die sie sich von der Haushälterin - wie war doch der Name? Mrs. Harbrook - gemacht hatte.
Die große Frau lächelte. Lois hatte von Leuten gehört, die lächelten. Sie war bisher persönlich solchen Menschen noch nicht begegnet, kannte sie nur aus Büchern. Doch jetzt schien sie einem gegenüberzustehen.
»Sie sind Mrs. Williams«, sagte sie, »und kommen wegen der Besichtigung des Hauses. Ich weiß nicht, ob es jetzt gehen wird. Sie ist recht schwach. Besonders heute ist sie kraftlos, die arme, alte Dame.« Bei diesen Worten schüttelte sie besorgt ihren Kopf. Ihre Stimme war völlig ausdruckslos.
»Oh«, entgegnete Lois, »das tut mir leid. Wir hatten so sehr gehofft - und Mrs. Montfort schrieb uns auch so nett. Ich dachte »Das war vorige Woche. Ich bin übrigens Mrs. Harbrook.«
»Mrs. Harbrook«, wiederholte Lois.
»Sie hat gute Tage und schlechte Tage«, meinte Mrs. Harbrook. »Man kann’s nie vorher wissen. Es wechselt sehr.«
»Wenn sie sich nicht wohl fühlt, will ich natürlich nicht stören«, erklärte Lois. »Vielleicht ein andermal? An - einem guten Tag?« Dabei lächelte sie jetzt selbst. Die Situation war ihr ein bisschen peinlich, so als ob sie unter der Tür etwas verkaufen wollte. »Es wäre keine vollständige Sache ohne das Montfort-Haus«, fügte sie hinzu.
»Das mag sein«, stimmte Mrs. Harbrook zu. »Das älteste in der Stadt, sagt man. Oder wenigstens eines der ältesten.«
»Und das einzige mit einer Kanonenkugel«, ergänzte Lois,
»So heißt es«, sagte Mrs. Harbrook. »Also gut, kommen Sie herein. Jetzt sind Sie schon einmal da. Will mal nachsehen, wie sie sich fühlt. Es ist zwar gerade Mr. Graham drin. Aber kommen Sie nur herein.«
Damit hielt sie die Tür etwas weiter auf. Lois trat aus dem hellen Sonnenschein in kühle Düsternis. Sie befand sich in einer niedrigen Diele. Für einen Augenblick war es ihr, als ob die tiefe Decke sich wie eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Es muss eine Sinnestäuschung sein, dachte Lois, denn Mrs. Harbrook, die bedeutend größer als sie war, ging ganz aufrecht vor ihr her.
An der einen Wand der Diele war ein großer Kamin eingelassen. Seine Verkleidung bestand aus altertümlichem Mauerwerk.
»Dieser Raum wurde früher als Küche benutzt«, bemerkte Mrs. Harbrook, »als Küche und alles Mögliche andere.«
Sie öffnete eine Tür, die merkwürdigerweise dicht neben dem Kamin lag. Durch den Türspalt fiel spärliches Licht in die Diele.
Der Raum war quadratisch und hatte, wie die Diele, eine niedrige Decke. Eine flache Stufe führte in ihn hinein. Lois folgte Mrs. Harbrook in das Zimmer. An der Wand gegenüber der Tür waren Bücherregale angebracht, auf denen hinter Glas Reihen schwerer Bücher standen, die auf den ersten Blick alle gleich aussahen. Rechter Hand war ein jetzt geschlossenes Fenster, dessen Scheibe in Blei gefasst war. Das Zimmer war kühl, roch aber ein wenig muffig. Unter dem Fenster stand ein Rosshaarsofa und gegenüber noch ein zweites, mit Troddeln verziertes, vor dem ein niedriger Tisch aufgestellt war.
Lois sah sich in dem Zimmer um. Auch hier befand sich nähe bei der Tür ein Kamin, der aber kleiner war als der in der Diele. Auf seinem Sims standen eine Menge Nippesfiguren.
»Wenn Sie bitte Platz nehmen und nur einen Moment warten wollen, dann werde ich nachsehen, wie es ihr geht und ob sie Sie vielleicht doch empfangen kann.«
Mrs. Harbrook verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Lois setzte sich auf das Rosshaarsofa und stellte fest, dass dies kein reines Vergnügen war. Das kleine Fenster ließ nur fahles Licht herein, so dass es schwerfiel, zu glauben, dass draußen die helle, warme Sonne eines Augustnachmittags schien.
Aber es war alles so, wie es sein musste, dachte Lois, während sie auf dem unbequemen Sofa saß und wartete. Genauso hatte sie es sich vorgestellt: die niedrigen Decken und die dicken Wände, die die Kälte des Winters abhielten und die Wärme des Holzfeuers in den Kaminen aufspeicherten; die kleinen Fenster, die die Winterkälte ausschlossen und im Sommer die Kühle bewahrten. Lois verglich damit unwillkürlich ihr eigenes helles, Haus mit dem vielen Glas und dem kleinen Kamin, der eigentlich nur als Dekoration gedacht war, und erinnerte sich, wie im ersten Winter, als die Heizung einmal versagte, die großen Fenster zu Platten aus Eis geworden waren. Und auch daran, wie Ken, wenn er zwischen seinen Flügen daheim war, Holzscheite in dem kleinen Kamin aufgeschichtet und eine Matratze vor das Feuer gelegt hatte und...
Sie schob schnell die Erinnerung beiseite und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie würde Mrs. Montfort klarmachen, dass das Programm mit den alten Häusern sinnlos sein würde, wenn dieses Haus nicht mit dabei wäre. Außerdem würden die Besucher auch nur zwischen ein Uhr und fünf Uhr zur Besichtigung kommen. Und sie sei sicher, dass es nur nette Leute wären, weil Menschen, die Sinn für Tradition und Vergangenes hätten, gewöhnlich nette Menschen seien. Mrs. Montford wäre gewiss auch dieser Meinung. In jedem Zimmer würde jemand sein, der darauf achtet, dass niemand - selbst ungewollt - einen Schaden anrichtet. Der Erlös werde Wohltätigkeitszwecken zugutekommen. Und - Lois fiel plötzlich ein, dass sie drauf und dran war, eine gebrechliche alte Dame - man erzählte sich, sie sei in den Achtzigern - darum zu bitten, eine Menge Fremder durch ihr Haus trampeln und schnüffeln zu lassen, als ob es nicht ihr Haus, sondern ein Museum, ein Stück Geschichte sei. Sie sah sich bei diesem Gedanken noch einmal aufmerksam um. Tatsächlich gehörte die Atmosphäre des Zimmers so eindeutig der Vergangenheit an, dass es wirklich etwas von einem Museum hatte. Sie überlegte schaudernd, ob es dieser Raum gewesen war, in den man die sterbenden Männer während eines sinnlosen Gefechtes aus dem Schmutz der Straße geholt hatte...
Jetzt hörte sie Stimmen näherkommen. Die starken Mauern und die schwere Tür schlossen das Zimmer beinahe schalldicht ab, so dass sie die einzelnen Worte der Unterhaltung nicht verstehen konnte. Doch glaubte sie die tonlose Stimme von Mrs. Harbrook und die eines Mannes zu unterscheiden.
Sekunden später hörte sie dann deutlich, wie der Mann sagte: »Man kann sie immerhin fragen.« Fast unmittelbar darauf öffnete sich die Tür, und Lois stand auf.
Der Mann, der hereinkam, war mittelgroß und hatte kurzgeschnittenes braunes Haar. Lois’ erster Gedanke war, dass sie ihn schon früher gesehen haben musste. Dann fiel ihr ein, dass es einmal in der Main Street gewesen war und einmal mit anderen Leuten zusammen in einem netten Restaurant.
Als er nun lächelnd im Türrahmen stand, eine angenehme Erscheinung, mit seinem adretten weißen Hemd und der farbenfrohen Krawatte, brachte er einen Hauch Gegenwart in das Zimmer. Lois war sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr die Atmosphäre des düsteren alten Hauses sie umfangen hatte. Sein Lächeln wirkte ansteckend, und sie ertappte sich dabei, dass sie es erwiderte. In diesem Augenblick war auch der Bannkreis der Vergangenheit gesprengt. Mit einem Mal schien ihr die Kühle des alten Hauses geradezu von einer feuchtkalten Klebrigkeit zu sein. Dieser da verkörperte den Alltag der Main Street in Glenville, Golfspielen und Verabredungen zum Essen im Rotary Club. Und als er nun fragend »Mrs. Williams?«, sagte, sprach er genau in dem Tonfall, den sie erwartet hatte.
»Ja, ist Mrs. Montfort...?«
»Ich bin Howard Graham«, stellte er sich vor, »der Rechtsanwalt der alten Dame.« Sein Lächeln vertiefte sich bei diesen Worten, und er schüttelte beruhigend den Kopf. »Es ist nichts Besonderes. Mrs. Montfort will nur ihr Testament unterzeichnen.«
»Oh«, antwortete Lois, »dann bin ich Sie zögerte. »Meinen Sie«, fuhr sie fort, »dass sie sich wohl genug fühlt, um mit mir wegen der Besichtigung ihres Hauses zu sprechen?«
»Ich fürchte«, sagte Graham, »dass sie im Augenblick nur ihr Testament im Kopf hat.