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DER GESICHTSLOSE FEIND: Der Krimi-Klassiker!
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eBook252 Seiten3 Stunden

DER GESICHTSLOSE FEIND: Der Krimi-Klassiker!

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Über dieses E-Book

»Mein Name ist Grady«, sagte der Kleine, »und das ist Sergeant Shapiro.«

Beide blickten John Hayward an.

»Nun«, fragte Grady, »aus welchem Grunde haben Sie sie umgebracht?«

Er sprach weder theatralisch noch grob, sondern nur so, als ob die Antwort für ihn interessant sein könne, aber diese ganz gelassen gestellte Frage traf Hayward so heftig, als führe ein Blitz durch sein Gehirn. Er hatte einmal in einem Zug gestanden, als während der Verlangsamung der Fahrt vor einer Station zwischen zwei Wagen die Kupplung des Bremsschlauchs brach, und da schien es, als ob der Zug weitersauste und gleichzeitig Stillstand. John wurde, wie die übrigen im Gang stehenden Reisenden, nach vorn geschleudert, als habe sich vor ihm der Luftraum geöffnet. Er hatte, wie die anderen, wild mit den Armen gefuchtelt, um nach dem erstbesten Halt zu greifen. Und fast ebenso war ihm jetzt zumute - beinah körperlich empfand er es. Einen Augenblick vermochte er die beiden Männer gar nicht zu sehen, und in diesem Augenblick strafften sich die Sehnen seiner Hände, als müsse er sich an etwas festhalten...

 

Der Roman Der gesichtslose Feind von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958 (unter dem Titel Nur ein Foto).

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum20. Okt. 2022
ISBN9783755423560
DER GESICHTSLOSE FEIND: Der Krimi-Klassiker!

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    Buchvorschau

    DER GESICHTSLOSE FEIND - F. R. Lockridge

    Das Buch

    »Mein Name ist Grady«, sagte der Kleine, »und das ist Sergeant Shapiro.«

    Beide blickten John Hayward an.

    »Nun«, fragte Grady, »aus welchem Grunde haben Sie sie umgebracht?«

    Er sprach weder theatralisch noch grob, sondern nur so, als ob die Antwort für ihn interessant sein könne, aber diese ganz gelassen gestellte Frage traf Hayward so heftig, als führe ein Blitz durch sein Gehirn. Er hatte einmal in einem Zug gestanden, als während der Verlangsamung der Fahrt vor einer Station zwischen zwei Wagen die Kupplung des Bremsschlauchs brach, und da schien es, als ob der Zug weitersauste und gleichzeitig Stillstand. John wurde, wie die übrigen im Gang stehenden Reisenden, nach vorn geschleudert, als habe sich vor ihm der Luftraum geöffnet. Er hatte, wie die anderen, wild mit den Armen gefuchtelt, um nach dem erstbesten Halt zu greifen. Und fast ebenso war ihm jetzt zumute - beinah körperlich empfand er es. Einen Augenblick vermochte er die beiden Männer gar nicht zu sehen, und in diesem Augenblick strafften sich die Sehnen seiner Hände, als müsse er sich an etwas festhalten...

    Der Roman Der gesichtslose Feind von F. R. Lockridge (eigentlich Richard Orson Lockridge; * 26. September 1898 in Missouri; † 19. Juni 1982 in South Carolina) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958 (unter dem Titel Nur ein Foto).

    Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

    DER GESICHTSLOSE FEIND

    Erstes Kapitel

    In der ersten Morgenstunde des 24. April war John Hayward zweiunddreißig Jahre und einige Monate alt. Ein Mann von 1 Meter 80 Größe - Gewicht 72 Kilo - hellbraunes Haar mit Scheitel links, das er alle zwei Wochen schneiden ließ. Er hatte die Harvard-Universität absolviert, war Oberleutnant der Reserve beim Heer, unverheiratet, derzeit rechte Hand des Vizepräsidenten der Cotton Exchange National Bank. Sein Gesicht war sympathisch, ohne besonders auffällige Züge.

    Zwanzig Minuten vor 1 Uhr an diesem Sonntagmorgen unterschied sich aber John Hayward doch von seinen Kollegen - von den übrigen, ebenso wohlbestallten jungen Bankbeamten mit guten Zukunftsaussichten und einwandfreier Vergangenheit, die in Manhattan wohnten, eines Tages aber in einem der mittelfeinen Vororte wohnen würden und noch jetzt, lange nach dem Abgang von der Universität, ihre Anzüge und Hemden bei Brooks Brothers kauften. Was ihn von denen unterschied, war sein strahlendes Gesicht, denn - er war glücklich.

    Er schloss die Tür der Taxe und pfiff, ein bisschen falsch, eine Melodie aus der Operette vor sich hin, die er abends mit Barbara besucht hatte. Dem Fahrer rief er so unvermutet heiter »Gute Nacht!« zu, dass dieser durchaus nicht glückliche Mann prompt antwortete: »Nacht, Mister«, und ihm eine Weile kopfschüttelnd nachblickte. Benimmt sich ja, als hätte er gerade ’ne runde Million geerbt, dachte er.

    John Hayward ging, noch leise pfeifend, über den Bürgersteig in das Appartementhaus, in dem er wohnte. In dem nur matt erleuchteten Vestibül hörte er zu pfeifen auf; man soll keinen Mitbewohner in der Nachtruhe stören, ob man ihn kennt oder nicht. Aber das Lächeln auf Haywards hübschem Gesicht blieb, denn er dachte natürlich an Barbara, die ihm seine Frage, ob sie ihn heiraten wolle, freudig mit Ja beantwortet hatte. Und das hatte sie erst vor einer Stunde getan, als sie neben ihm auf einem Sofa in der Bibliothek im Hause ihres Vaters saß, auf der 62. Straße in Manhattan-Ost.

    John Hayward war eigentlich nicht überrascht gewesen, denn er besaß ja Menschenkenntnis. Trotzdem staunte er selbst, wie glücklich er sich auf einmal fühlen konnte; das hätte er gar nicht in sich vermutet.

    Harry, der Nachtportier, saß auf einer Bank beim Fahrstuhl und begrüßte ihn mit »Guten Abend, Mr. Hayward«, als John ihn ansprach. Er betrachtete Hayward besonders aufmerksam, dem das jedoch kaum bewusst wurde, obwohl er sonst so scharfsichtig war - was man in der Bank als Aktivum für ihn buchte.

    Als er im 5. Stock, nachdem Harry ihm die Fahrstuhltür geöffnet hatte, »Gute Nacht!«, sagte, antwortete der mit ungewohnt lauter Stimme: »Gute Nacht, Mr. Hayward!«, ohne dass John dieser bei Nacht eigentlich zu laute Gruß auffiel.

    Er schritt durch den Korridor nach seiner Wohnungstür - wobei er, ohne sich dessen bewusst zu sein, wieder leise pfiff -, schob den Schlüssel ins Schloss und fand auf einmal, wie aus dem Nichts aufgetaucht, zwei Männer neben sich. Einen links, einen rechts. Der eine war ziemlich klein, aber ungewöhnlich breit, der zweite größer, hager, mit einem faltigen, gleichsam hängenden Gesicht.

    »Sie sind John Hayward?«, fragte der kleinere ruhig und ganz ohne Betonung. John, der sich zum Aufschließen ein wenig gebückt hatte, richtete sich hoch und blickte erst den Frager, dann dessen Begleiter an.

    »Was...«, begann er.

    »Kriminalpolizei«, sagte der Kleine. »Wir möchten kurz mit Ihnen sprechen.«

    John Hayward schien plötzlich nicht mehr denken zu können. Er musterte wieder die beiden.

    »In der »Wohnung, wenn’s Ihnen recht ist«, sagte der Kleine. Dann wartete er stumm. Hayward drehte den Schlüssel, stieß die Tür auf und trat zurück.

    »Bitte nach Ihnen, Mr. Hayward«, sagte der Kleine. »Gehen Sie nur voran.«

    John ging hinein, sie folgten ihm.

    »Möchte gewiss unsere Dienstmarken sehen«, sagte der Kleine und hielt schon das Metallschild in der hohlen Hand. »Zeigen Sie ihm Ihre auch, Nat.«

    Der Große tat es. John betrachtete beide Marken, dann wieder die Männer und schüttelte den Kopf.

    »Mein Name ist Grady«, sagte der Kleine, »und das ist Sergeant Shapiro.«

    Beide blickten John Hayward an.

    »Nun«, fragte Grady, »aus welchem Grunde haben Sie sie umgebracht?«

    Er sprach weder theatralisch noch grob, sondern nur so, als ob die Antwort für ihn interessant sein könne, aber diese ganz gelassen gestellte Frage traf Hayward so heftig, als führe ein Blitz durch sein Gehirn. Er hatte einmal in einem Zug gestanden, als während der Verlangsamung der Fahrt vor einer Station zwischen zwei Wagen die Kupplung des Bremsschlauchs brach, und da schien es, als ob der Zug weitersauste und gleichzeitig Stillstand. John wurde, wie die übrigen im Gang stehenden Reisenden, nach vorn geschleudert, als habe sich vor ihm der Luftraum geöffnet. Er hatte, wie die anderen, wild mit den Armen gefuchtelt, um nach dem erstbesten Halt zu greifen. Und fast ebenso war ihm jetzt zumute - beinah körperlich empfand er es. Einen Augenblick vermochte er die beiden Männer gar nicht zu sehen, und in diesem Augenblick strafften sich die Sehnen seiner Hände, als müsse er sich an etwas festhalten.

    Und dann sah er die Männer deutlich und wusste, dass sie warteten. Er holte tief Atem, ohne sich das anmerken zu lassen, und sagte: »Ich weiß leider nicht, wovon Sie reden.« Und brachte das ganz gelassen heraus, ebenso unbetont, wie Grady gesprochen hatte. Nach dieser Antwort wirbelte er nicht mehr hilflos in einem Vakuum, sondern war wieder John Hayward, ein Mann, der Selbstbeherrschung gelernt hatte, die ein Bankbeamter haben muss. Er hatte noch etwas hinzufügen wollen, zog aber vor zu schweigen und wartete.

    »Er weiß nicht, wovon wir reden«, sagte Sergeant Grady zu seinem Kollegen Shapiro. »Mir nichts, dir nichts erklärt er, dass er gar keine Ahnung hat, was wir meinen.«

    Beide blickten Hayward an, der sich zwang, nichts mehr zu sagen. Es war falsch, zu schnell zu sprechen, und besser, überhaupt nicht zu sprechen. Er hatte gesagt, was hier zu sagen war, und... Aber plötzlich packte ihn eine große Angst, eine Angst, die so laut in ihm schrie, dass er nicht hören konnte, was Sergeant Shapiro, dessen Lippen sich bewegten, antwortete.

    Ein Name schrie in seinem Gehirn: Barbara! Barbara!

    »An etwas gedacht, Mr. Hayward?«, fragte Grady im selben Ton wie vorher. »Erinnern sich, ja?«

    Er hatte sie vor einer Stunde verlassen, vor weniger als einer Stunde. Sie war mit ihm bis zur Tür ihres Hauses gegangen, hatte ihn geküsst und dann gesagt: Nun lauf nach Hause. Aber - nicht zu weit von mir fort. Hatte die Arme ausgebreitet, und sie hatten sich wieder geküsst, nicht so flüchtig wie vorher. Fest hatte sie ihn an sich gepresst und gesagt: Lauf niemals weit von mir fort!, und dann auf einmal hatte sie ihn von sich geschoben und ihm ins Gesicht gestarrt.

    »Wer ist umgebracht worden?«, fragte John Hayward mit ganz fester Stimme. »Von wem reden Sie?«

    Er merkte an ihren Gesichtern, dass sie auf diese Frage gewartet hatten, und wusste, dass sie sie erfreut zur Kenntnis nahmen.

    »Von wem?«, wiederholte er.

    Die Kriminalbeamten wechselten einen Blick, offenbar befriedigt, obwohl Shapiros Gesicht bekümmert wirkte.

    »Das ist eine vernünftige Frage«, sagte Sergeant Grady. »Begreiflich, dass einer gern...«

    »Sagen Sie’s mir!«, unterbrach ihn John Hayward. Seine Stimme klang jetzt hart und gepresst. »Wer ist denn getötet worden?«

    »Vollkommen unschuldig«, sagte Grady. »Weiß nicht einmal ihren Namen. Glaubt, er sei Er sprach den Satz nicht zu Ende, schüttelte den Kopf und sagte in einem neuen, fast ärgerlichen Ton: »Nora Evans, Mr. Hayward. Was hatten Sie denn gedacht?«

    Der Zug war wieder in Fahrt, die Luft wieder zu atmen.

    »Von einer Nora Evans habe ich nie gehört«, entgegnete John.

    Sie blickten ihn forschend an und warteten ohne Zweifel auf weitere Erklärungen. Er ließ sie warten.

    »Sieht aus, als wenn er’s allen Beteiligten schwermachen will«, sagte Sergeant Grady, »finden Sie nicht auch, Nat?«

    Shapiro nickte mit düsterer Miene.

    »Nora Evans«, sagte Grady. »Rothaarig. Hübsch - bis ungefähr zwei, drei Uhr heute, vielmehr gestern, Nachmittag. Klar kennen Sie die, Mr. Hayward, so gut wie jeder andere sie kennen konnte.«

    »Nein«, entgegnete John. Er zwang sich, weiter ohne Zorn zu sprechen. »Ich habe sie nicht gekannt.«

    Grady schnalzte mit der Zunge, als sei er verwundert über unglaubliche Dummheit oder kindische Dickköpfigkeit.

    »Okay«, sagte er, »wie Sie wollen, Mr. Hayward.«

    Er schwieg eine Weile. Anscheinend wollte er es jetzt auf ganz andere Weise versuchen.

    »Will Ihnen mal was sagen«, fing er wieder an, »wir können vielleicht Ihr Gedächtnis auffrischen. Meinen Sie nicht, dass wir das könnten, Nat?«

    »Versuchen können wir’s«, erwiderte Sergeant Shapiro. »Das können wir immer.« Sein Ton klang wenig zuversichtlich.

    Er ging einen Schritt auf Hayward zu und nahm dessen rechten Arm in einen eisernen Griff. Sie gingen, jeder an seiner Seite, mit ihm durch den Flur zum Fahrstuhl und fuhren hinunter.

    Harry sagte erstaunt: »Ach herrje, Mr. Hayward! Die beiden...«

    Grady gebot ihm, den Mund zu halten. Harry schwieg, schüttelte aber langsam den Kopf.

    In der kleinen Limousine, die vor dem Hause stand, setzte sich Grady hinten neben John Hayward. Von dessen Wohnung im Bezirk Murray Hill bis zum Städtischen Leichenschauhaus im Bellevue-Krankenhaus hatten sie nicht weit zu fahren.

    Für April war es verhältnismäßig warm in New York. Sogar in dieses steinerne Meer drang ein wenig von der Frische des Frühlings. Im Leichenschauhaus aber war es kalt, und es roch nach vielerlei Chemikalien.

    »Evans«, sagte Grady zu dem Uniformierten im Vorraum. Der nickte nur, öffnete eine Tür und führte sie durch einen anscheinend feuchten Korridor in einen ziemlich großen Raum, in dem mehrere Metalltische standen. Auf einem lag zugedeckt eine Leiche. Das Laken schien fest an ihrem Körper zu haften. Shapiros schwere Hand steuerte John hastig bis vor diesen Tisch und brachte ihn dort beinah mit einem Ruck zum Stehen. Grady zog das Laken vom Oberkörper der Toten.

    Das Mädchen war - wie er gesagt hatte - hübsch gewesen. Es hatte rotes Haar, rotbraunes vielmehr. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht etwas verfärbt. An dem schlanken Hals waren mehrere kleine Wunden zu sehen, eigentlich nur Kratzer.

    »Nun?«, fragte Grady. »Was sagen Sie jetzt?«

    »Nein.« Johns Stimme war fest. »Habe diese Frau nie gesehen. Ist das...?« Er zögerte. »War das Nora Evans?«

    »Ganz recht«, antwortete Grady. »Zeigen Sie uns mal Ihre Hände, Mr. Hayward.«

    John streckte seine Hände vor. Es waren schmale, kräftige Hände mit langen Fingern. Grady betrachtete sie.

    »Wären ungefähr richtig, nach meiner Ansicht. Stimmt das nicht, Nat? Die Nägel eigentlich auch. Sind deutlich markiert bei ihr, sehen Sie das, Mr. Hayward? Nägel haben ein bisschen ins Fleisch geschnitten. Kommt ja vor, so was.«

    »Ich hab’s nicht getan«, sagte John. »Sie meinen, dass sie erwürgt worden ist?«

    Grady seufzte, ganz tief und lange. Schüttelte den Kopf.

    »Habe sie noch nie gesehen«, erklärte John wieder.

    »Schauen Sie genauer hin und länger«, sagte Grady, indem er das Laken ganz abzog.

    Ja, Nora Evans’ Gesicht war hübsch gewesen, ihr Körper, jetzt ihren Blicken preisgegeben, sogar schön.

    »Na, stärkt das nicht Ihr Gedächtnis?«, fragte Grady.

    John wandte den Blick von der schlanken Toten und blickte Grady frei ins Gesicht.

    »Nein. Habe sie nie gesehen.«

    Grady, an der anderen Seite des Tisches, fixierte ihn über den weißen Leib der Ermordeten hinweg und forderte ihn auf, sie noch einmal genau zu betrachten. John Hayward tat es, und sagte - zum vierten Mal »Nein.«

    »Was soll denn das nur?«, fragte ihn Grady. »Andauernd geben Sie die falsche Antwort. Weshalb sagen Sie nicht einfach, dass Sie sie nicht getötet haben?« Er blickte Shapiro an, der neben John stand. »Ist doch ein vernünftiger Ratschlag, nicht wahr, Nat? Liegt doch Sinn drin.«

    Sergeant Shapiro gab keine Antwort.

    »In Ordnung«, sagte Grady, »es geht ja um Ihren Kopf, Mr. Hay- ward, nicht um meinen.« Er zog das Laken wieder über den nackten Leib der toten Nora Evans. »Also gut, dann wollen wir gehen.«

    Sie verließen das Leichenhaus, stiegen in den Wagen und fuhren zum zuständigen Polizeirevier. Hier brachten sie Hayward in einen mittelgroßen Raum mit einem Tisch, einigen Holzstühlen und einem hoch in der Wand angebrachten vergitterten Fenster. Sie forderten ihn auf, sich hinzusetzen, gingen hinaus und schlossen die Tür ab. Nach ein paar Minuten kam Grady zurück. Er hatte ein großes Kuvert in der Hand, das er auf den Tisch legte.

    »So, hier tun Sie jetzt alles hinein, was Sie in den Taschen haben«, sagte er. »Wir bewahren es für Sie auf.«

    John nahm die Sachen aus seinen Taschen: eine Brieftasche mit etwas über hundert Dollar in Scheinen, einen Ring mit fünf Schlüsseln, ungefähr neunzig Cent in Münzen, zwei U-Bahn-Karten. Aus der inneren Rocktasche einen Füllhalter und ein kleines Notizbuch, aus der vorderen Brusttasche ein glatt gefaltetes Taschentuch und aus der rechten Hüfttasche ein verknülltes.

    »Die behalten Sie nur«, meinte Grady, indem er die Taschentücher zurückschob. »Könnten sich ja erkälten.«

    Aus einer anderen Tasche holte Hayward noch ein fast volles Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug.

    »Dürfen Sie auch behalten«, sagte Grady, »ebenso Ihre Uhr.«

    Er trat hinter John und tastete ganz schnell, beinah zart, seine Kleidung ab. Zufriedengestellt, dass er keine Schusswaffe fand, sagte er: »Okay.« Mit der Erklärung, er werde John eine Empfangsbestätigung bringen, sobald das Abgelieferte registriert sei, ging er mit dem Kuvert hinaus und schloss die Tür wieder ab.

    John Hayward zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte nach Desinfektionsmitteln.

    Er schaute auf seine Armbanduhr. Noch nicht ganz zwei. Kaum eine Stunde war vergangen, seit er den Schlüssel in seine Wohnungstür gesteckt hatte. Und vor zwei Stunden erst hatte Barbara Phillips ihm gesagt, dass sie ihn sehr gern heiraten würde. Dann hatte er eine Melodie gepfiffen, war fortgegangen, und - auf einmal war alles wie ausgelöscht. Sinnlos.

    Hier lag selbstverständlich ein gewaltiger, unvertretbarer Irrtum vor, vielleicht von mehreren, denn Grady und Shapiro führten doch gewiss nur aus, was ihnen befohlen war. Also lag der Irrtum anderswo, bei einer höheren Instanz. Irgendwo und irgendwie war etwas falsch gelaufen. Da jedoch in der Welt immerhin eine gewisse Ordnung herrscht, musste sich das natürlich aufklären.

    Einige Minuten vor 2 Uhr an diesem Sonntagmorgen, dem 24. April, wusste John Hayward, dass in den Affären der Menschheit letzten Endes Ordnung herrscht. Er war nicht überzeugt davon, aber sein Gefühl sagte ihm das. Irrtümer kamen vor, gewiss, doch die wurden richtiggestellt. Dieser jedenfalls bestimmt. Sonst müsste ja die Welt in einem tollen Zustand sein, und alles verlor seinen Sinn. Und das, meinte John Hayward, könne einfach nicht passieren.

    Abgesehen von ein paar Ausnahmen, Fällen, die so selten waren, dass man ihnen kaum Bedeutung beizumessen brauchte - dass jemandem von einem Dach etwas auf den Kopf fiel, war das einzige Beispiel, das ihm jetzt einfallen wollte -, geschah doch eigentlich, wie er aus seinem Bekanntenkreis wusste, völlig Unerwartetes kaum. Man konnte zwar krank werden und an der Krankheit sterben, aber das war eben der Lauf der Dinge, wenn auch kein erfreulicher. Im Krieg, den John in Korea kennengelernt hatte, kamen Männer plötzlich zu Tode, doch das gehörte mit zur Ordnung der Welt; es war abscheulich, aber doch gleichsam ein planmäßig verlaufendes Geschehen. Kurzum: Ganz Unerwartetes geschah nicht.

    Zumindest war es John bisher nicht begegnet, und was jetzt hier geschah, konnte, weil es absurd war, nur von kurzer Dauer sein. In seinem bisherigen Leben war alles nach Plan vor sich gegangen, zuerst nach den Plänen seiner Eltern, später nach seinen eigenen. Er war auf die höhere Schule geschickt worden und nachher auf die Universität. Hatte in Harvard Baseball gespielt. Hatte nach dem Examen mit seinen Eltern zur Erholung einen Sommer in Europa verlebt und anschließend im Herbst die praktische Arbeit in der Bank begonnen. Und Geordneteres als eine Bank gibt es auf der Welt kaum, denn nirgends werden Irrtümer mit größerer Sorgfalt berichtigt. In einer Bank - und besonders in einer so gut geleiteten wie der Cotton Exchange National - sieht man die Entwicklung der Dinge im allgemeinen voraus. In einer Bank führt, sachlich und unweigerlich konsequent, jeder Schritt zum nächsten, und Rechenfehler unterlaufen höchstens dem Kunden.

    John wunderte sich ein wenig - als er jetzt in dem Raum mit dem vergitterten Fenster darauf wartete, dass der Irrtum, der ihn hierhergebracht, entdeckt und aufgeklärt werde -, dass ihn die beruhigenden Gedanken, auf der Welt habe alles seine Ordnung, so beschäftigten, denn das Selbstverständliche vollzog sich doch ohne Worte. Und bisher hatte es sich für ihn auch ohne besonderes Nachdenken vollzogen.

    Als er ein Geräusch an der Tür hörte, seufzte er leise, mit dem Gefühl der Erleichterung. Bis jetzt war ihm nicht bewusst gewesen, dass er sich bedrückt gefühlt hatte. Ärgerlich, gewiss, auch ein wenig erschüttert und als Mitmensch betrübt über das gewaltsame Ende eines jungen Mädchens.

    Die Tür ging auf, vier Männer kamen herein, unter ihnen Grady. Außer ihm ein großer, breiter Mensch

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